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10. Januar 2018 Senatsempfang für das Projekt „Stolpersteine in Hamburg – biografische Forschung“

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Rede der Senatorin Dr. Dorothee Stapelfeldt

Senatsempfang Projekt „Stolpersteine in Hamburg – biografische Forschung“

Sehr geehrter Herr Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrte Frau Dr. Meyer, sehr geehrte Frau Dr. Bake,
sehr geehrte Frau Dr. Rürup,
sehr geehrte Frau Dr. Bamberger-Stemmann,
sehr geehrte Frau Dr. Grolle,
sehr geehrte Frau Jensen, sehr geehrte Frau Dr. Smiatacz,
sehr geehrter Herr Hess,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

seit dem Jahr 2002 gehören sie zu Hamburgs Stadtbild: die mehr als 5.300 Stolpersteine. Gespendet von Bürgerinnen und Bürgern, halten sie mitten im Alltagsgetriebe die Erinnerung wach an Opfer des NS-Regimes. An deren ehemaligen Lebens­mittelpunkten, den Wohn- und Arbeitsstätten mahnen kleine Messingtafeln auf einem Beton­würfel im Trottoir – mit Namen und Lebensdaten von ermordeten Jüdinnen und Juden, von Opfern des nationalsozialistischen Krankenmordes, von politisch Verfolgten, von Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Zwangsarbeiterinnen und Zwangs­arbeitern und anderen Verfolgten.

Auch vor dem Hamburger Rathaus erinnern Stolpersteine an Schicksale von ermordeten Politikerinnen und Politikern wie etwa an den jüdischen Senator und Sozialdemokraten Max Mendel, geboren 1872 und gestorben im August 1942 im KZ Theresienstadt. Für Max Mendel wurde im Jahr 2005 der 1000. Stolperstein verlegt. Seine Biografie schrieb Hildegard Thevs, eine der aktivsten Biografie-Forscherinnen.

Und vor der linken Seite des Rathauses liegen seit dem Jahr 2012 vor dem Bürgerschaftstrakt 20 Stolpersteine für Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft, die in der NS-Zeit ermordet wurden.

Mitte der 1990er-Jahre hatte der Kölner Künstler Günter Demnig die Idee: Er recherchierte, gestaltete, beschriftete und verlegte die ersten Stolpersteine. Auf ihnen lesen wir: Vorname, Name, Geburtsjahr, Deportationsjahr und -ort und Angaben zum Schicksal der Opfer. Mittlerweile haben Demnig und seine Unterstützer Stolper­steine in mehr als 1.000 Orten Deutschlands und in 20 Ländern Europas verlegt.

Im Jahr 2002 holte der Kunstsammler Peter Hess dieses Projekt nach Hamburg und organisiert hier bis heute ehrenamtlich die Verlegung der Stolpersteine.

Die Stolpersteine, meine Damen und Herren, haben in Hamburg eine besondere Form der Biografie-Forschung angestoßen.

Den Anstoß dazu gaben Dr. Beate Meyer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden, und Dr. Rita Bake, ehemals Stellvertretende Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung.

Beide stellten im Oktober 2006 das Buch vor „Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933 bis1945: Geschichte – Zeugnis – Erinnerung“, das auf große Resonanz stieß. Der Schwerpunkt lag hier noch im Grindelviertel, wo ein Großteil der Hamburger Juden gelebt hatte, und insbesondere jüdischen Opfern Stolpersteine gewidmet sind. Doch schon während der Fertigstellung des Buchprojekts wurde klar: Hier liegt ein großes Potenzial für die Erinnerungskultur. Frau Dr. Meyer und Frau Dr. Bake entwickelten die Idee, auch Biografien der NS-Opfer zu erforschen, für die in anderen Stadtteilen Stolpersteine gesetzt worden waren.

Erinnerungskultur ist nur wirkmächtig, wenn sie von der Mitte der Gesellschaft unterstützt und gestaltet wird. Deshalb starteten Dr. Meyer und Dr. Bake einen Aufruf zur Suche nach Biografie-Forscherinnen und -Forschern. Seit mehr als elf Jahren waren unter Frau Dr. Meyers und Frau Dr. Bakes Anleitung rund 300 Ehrenamtliche zwischen elf und 86 Jahren aktiv: Mitglieder von Geschichts­werkstätten, pensionierte Lehrkräfte, frei Forschende und Doktoranden, Schülerinnen und Schüler, Studierende und zuletzt auch Mitglieder des Vereins für Hamburgische Geschichte. Vereinzelt wirkten auch Historikerinnen und Historiker mit oder Verwandte der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.

Sie alle haben bislang 4000 Biografien erstellt und veröffentlicht. Eine sehr beeindruckende Zahl!

Deshalb freue ich mich, Sie heute zu diesem Senatsempfang begrüßen zu können – und möchte Ihnen im Namen des Senats der Freien und Hansestadt für Ihr bürgerschaftliches Engagement danken!

Sie, meine Damen und Herren, haben Ihre Freizeit der biografischen Spurensuche gewidmet. Sie haben in Archiven aus bürokratischen Dokumenten reale Lebens- und Leidens­geschichten herausgearbeitet, Angehörige ermittelt und mit ihnen korrespondiert – oft auf Englisch, Französisch oder Polnisch.

Sie fuhren zu den Orten, aus denen die Verfolgten nach Hamburg gekommen waren, schrieben Gedenkstätten an. Sie bauten, wie Sie es selbst nennen, Brücken. Und so kamen etliche Angehörige und Freunde von Verfolgten nach Hamburg, einige auf Einladung des Senats.

Sie konnten so bislang unbekannte individuelle, subjektive Seiten der NS-Zeit in Hamburg aufdecken und öffentlich zugänglich machen. Und auch Hinweise für neue Stolpersteine liefern.

Ihre Forschungen, nach Stadtteilen geordnet, erschienen bislang in 20 Bänden, daneben ist jede Biografie auch per App und im Internet zu finden unter stolpersteine-hamburg.de.

Anfangs waren es schmale Broschüren, bald aber umfassten sie oft 500 und mehr Druckseiten. 2007 erschien etwa der Band „Stolpersteine in Hamburg-Hamm“, 2007 erstmals die Publikation zu Hamburg-Altona, die 2015 in überarbeiteter Fassung neu aufgelegt wurde. Für einzelne Stadtteile wie Eimsbüttel und Eppendorf entstanden überdies dicke Doppelbände, und die Biografien zu den Stolpersteinen in der Isestraße füllten allein ein Buch. Einige Verfasser haben sogar detaillierte Vorschläge für Rundgänge vorgelegt.

Der 20. Band „Transport in den Tod“ enthält auf 600 Seiten 136 Biografien jüdischer Euthanasie-Opfer aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Hamburg, die von Hamburg-Langenhorn in die Tötungs­anstalt Brandenburg gebracht wurden. Wegen seiner überregionalen Bedeutung fand das Thema zurecht das Interesse eines renommierten zeitgeschichtlichen Verlags, der das Buch im November 2017 herausbrachte.

Auch an diesem Projekt zeigt sich, wie wichtig das Nebeneinander von analoger und digitaler Datenerfassung und Wissensvermittlung ist, wie sehr Bücher und Datenbanken einander ergänzen. Das eine kann und soll nicht ohne das andere sein, beide Medienarten sind Bestandteile der Erinnerungskultur.

Dank der großzügigen Spende der Hermann-Reemtsma-Stiftung werden die Texte der Website seit zwei Jahren ins Englische übersetzt, sodass sie auch emigrierten Angehörigen und anderen Interessierten zugänglich sind. Da 56 Prozent der mehr als 5000 wöchentlichen Zugriffe auf die Website aus Nordamerika kommen, wurde die Übersetzung ins Englische gewählt. Das Übersetzungsprojekt leitet Frau Dr. Meyer zusammen mit Herrn Jonas Stier am Institut für die Geschichte der deutschen Juden.

Die Website ermöglicht es auch Angehörigen, Kontakt mit den Projektbeteiligten aufzunehmen, sodass Ergänzungen und Korrekturen schnell möglich sind.

20 Bände: Das ist viel Papier. Immer wieder wurde auch im Projekt diskutiert, ob es nicht ausreichend ist, die Biografien im Netz zu veröffentlichen und mit einer App auffindbar zu machen. Aber viele Gründe sprechen auch dagegen. Zum einen sollen Interessierte ohne Netzanschluss oder Smartphone nicht von der Lektüre ausgeschlossen sein. Und es gib es viele Leserinnen und Leser, die bevorzugt mit dem Buch in der Hand durch ihren Stadtteil gehen und die Biografien vor den Stolpersteinen nachlesen möchten, ob mit Freunden, dem Kirchenkreis oder im Rahmen einer Stadtführung.

Außerdem enthalten die Bücher wichtige Dokumente und Fotos, die sich fürs Internet nicht eignen, aber für Forschende oder Lehrerinnen und Lehrer lohnendes Material bieten. Denn auch an Universitäten und in Schulen wird inzwischen mit den Stolperstein-Büchern gearbeitet. Im Buch stellen das Glossar, die Einleitung und die Zeitleisten die Lebensgeschichten übersichtlich in einen historischen Kontext.

Auf die Website wiederum können jederzeit die neuesten Ergebnisse eingestellt werden. Insofern – darin waren sich die Diskutierenden einig – erzielen die Buchreihe und die Internetpräsentation gemeinsam die maximale Wirkung. Ziel ist ein umfassendes Geschichtsbewusstsein in den Stadtteilen, das auch rechtsextremen Tendenzen entgegenwirken soll.

Zeitenwenden und Zäsuren: Dazu gehört auch, dass Frau Dr. Bake 2017 in Rente gegangen ist und Frau Dr. Meyer 2018 in den Ruhestand verabschiedet wird. Die Arbeit an der Buchreihe ist weitgehend abgeschlossen, die restlichen Bände werden die beiden noch betreuen. Auch Ihnen gilt mein herzlicher Dank!

Frau Dr. Bake wird weiter auch für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ tätig sein, die sie für die Landeszentrale initiiert und eingerichtet hat.

Die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ ist ein Pendant zur Stolperstein-Datenbank. Sie soll verdeutlichen, dass das NS-System nur deshalb funktionieren konnte, weil es so viele „Dabei­gewesene“ gab. Sie veranschaulicht auch per App, wie eng beieinander einerseits die Opfer und andererseits Täter, Profiteure, Denunzianten, Mitläufer und Zuschauer – eben „die Dabei­gewesenen“ – in Hamburg lebten.

Ihre beharrliche Spurensuche für das Stolperstein-Biografieprojekt hat viele zur Nachahmung inspiriert – in Hamburg wie bundesweit. So haben auch die Universität und die Patriotische Gesellschaft die Biografien ihrer Mitglieder erforscht und sind dabei unterstützt worden.

Ein derzeit laufendes Projekt, an dem Frau Dr. Bake, Herr Hess und Frau Dr. Meyer teilnehmen, widmet sich der Vorbereitung von Stolpersteinverlegungen und biografischer Forschung für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der Gremien der Hamburger Handelskammer. Bundesweit gilt das Hamburger Projekt mit seinen Büchern und der Website als vorbildlich.

Mein Damen und Herren,
die Vergangenheit mag vergangen sein. Unsere Geschichte aber prägt uns weiter, und sie bietet uns darüber hinaus Lehren des Anstands und der Menschlichkeit. Hamburgs Stolpersteine, die begleitenden Forschungen und Publikationen sind ein wertvolles Element einer Erinnerungskultur jenseits des Musealen, die notwendiger ist denn je.

Vielen Dank Ihnen allen!

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