Begriffserklärungen

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Louis Bodenstab

( Louis (August Ferdinand) Bodenstab )
(7.2.1877 Hamburg – 24.11.1951 Hamburg)
Inhaber der Heizungsartikelfirma Rosenkranz & Sengstack, Vorsitzender des Landesverbandes Schleswig- Holstein, Hamburg und Lübeck des Vereins für Deutsche Schäferhunde
Ifflandstraße 6 (Privatadresse)

Louis August Ferdinand Bodenstab, geboren am 7. Februar 1877 in Hamburg, war der Sohn des Reichsbahnangestellten Friedrich Bodenstab und dessen Ehefrau Wilhelmine, geborene Strüve. Louis Bodenstab absolvierte eine kaufmännische Ausbildung und zog um 1900 in die Friedenstraße in Wandsbek. 1910 siedelte er in die benachbarte Pappelallee um. Ende 1924 bezog er eine Erdgeschosswohnung in der Ifflandstraße 8 in Hohenfelde.[1]

Bereits ein Jahr zuvor hatte er sich als Kaufmann selbstständig gemacht. Ab 1926 war er Direktor der Johann Ahrens Eisen- und Röhren Aktien-Gesellschaft und zugleich neben Emil Sengstack Inhaber der Heizungsartikelfirma Rosenkranz & Sengstack; von 1932 an gehörte ihm das Unternehmen allein und er betrieb es ab 1934/1935 im Erdgeschoss des Hauses in der Ifflandstraße 8. Von 1937 an führte er unter seinem eigenen Namen eine Großhandlung für Zentralheizungsartikel, ebenfalls in der Ifflandstraße .

Politisch war Bodenstab bis 1923 Mitglied der Deutschen Volkspartei (DVP), der 1918 gegründeten Nachfolgepartei der Nationalliberalen Partei.[2] Die DVP vertrat rechts- und wirtschaftsliberale Interessen, ihre Repräsentanten stammten zumeist aus großbürgerlich-konservativem Milieu und warenüberwiegend monarchistisch ausgerichtet.

Noch vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten beantragte Bodenstab im September 1932 die Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes. Aufgenommen wurde er im Mai 1933.[3] Ziel dieser Organisation war die Bindung des Mittelstandes an die NSDAP. Siebekämpfte unter anderem durch Boykottaktionen große Handelsunternehmen wie Warenhäuser, Konsumgenossenschaften und Kapitalgesellschaften, um angeblich Handwerk und Einzelhandelsgeschäften den Rücken zu stärken. Gleichzeitig übte sie auf Vorstände einzelner Mittelstandsverbände Druck aus oder zwang sie zum Rücktritt, um die Verbände zu kontrollieren. Sein eigentliches Ziel erreichte der Kampfbund jedoch nicht. Im Juli 1933 verbot die NSDAP Aktionen gegen die Warenhäuser –auch gegen die jüdischen –, weil sie Arbeitsplätze gefährdeten. Generell passte der NS-Führung das radikale Vorgehen des Bundes nicht in ihr scheinlegales Konzept. Im August 1933 wurde die Organisation in die Nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbeorganisation, NS-Hago, überführt. Die Aufgabe dieser NSDAP-Gliederung lag in der „weltanschaulichen und wirtschaftlichen Schulung und Ausrichtung des Mittelstandes im nationalsozialistischen Sinne“.[4]

Hier engagierte sich Bodenstab ehrenamtlich als Amtswalter[5], also als Funktionär. Dazu musste er zunächst einen Eid auf Adolf Hitler schwören. 1935 wurde die NS-Hago in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) eingegliedert und Bodenstab damit DAF-Mitglied. Die DAF war im Mai 1933 durch die gesetzliche Auflösung der freien Gewerkschaften, die Beschlagnahme ihres Vermögens sowie unter Abschaffung des Streikrechts und der Zwangsintegration sämtlicher Angestellten- und Arbeiterverbände gegründet worden. Sie stellte die größte NS-Massenorganisation dar und war nach dem „Führerprinzip“bis hinunter zum Blockwart gegliedert.

Nach Aufhebung des vorübergehenden Aufnahmestops trat Bodenstab zudem sofort am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein.[6]

Außerdem wurde er 1933 Mitglied in der NS-Volkswohlfahrt (NSV), wo er ebenfalls eine Aufgabe als ehrenamtlicher Amtswalter übernahm.[7] Dieser an die NSDAP angeschlossene Verband organisierte unter anderem das „Winterhilfswerk“, das „Mutter und Kind“-Hilfswerk und die Kinderlandverschickung. Dabei bestimmten rasse- und erbbiologische Selektionskriterien seine Arbeit. Die Aufgabe des NSV bestand ganz klar darin, so ihr Leiter Erich Hilgenfeldt, „die Gesundheitsführung des deutschen Volkes zu übernehmen und ihm rassehygienisches Denken und Handeln beizubringen“[8]. Ebenfalls von Hilgenfeldt stammt der Satz: „Völlig verfehlt ist es, Barmherzigkeit zu üben an einem Menschen, der Nation und Menschheit nichts mehr zu geben hat. Wir haben barmherzig zu sein mit dem starken, gesunden Menschen.“[9]

Des Weiteren war Bodenstab seit 1933 Mitglied im Nationalsozialistischen Reichskolonialbund (RKB)[10], einer von der NSDAP „betreuten“Organisation, in der ab 1933 alle deutschen Kolonialverbände zusammengefasst wurden und sich freiwillig „gleichschalten“ließen. „Führer“des RKB war Reichsritter Franz von Epp, gleichzeitig Leiter des kolonialpolitischen Amts der NSDAP.

Vor allem aber hatte Louis Bodenstab eine Vorliebe für deutsche Schäferhunde. 1912 war er in den 1899 von dem Kavallerieoffizier Max von Stephanitz-Grafrath gegründeten Verein für Deutsche Schäferhunde (SV) eingetreten und engagierte sich dort ehrenamtlich auf verschiedenen Funktionärsposten.[11] Von Stephanitz-Grafrath–einst Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Zucht und Verwendung von Polizeihunden –hatte aus wölfischen Hütehunden eine neue Rasse gezüchtet, die die gleichen „Tugenden“aufweisen sollte wie deutsche Soldaten: Treue, Gehorsam, Präzision und Leistungsfähigkeit. In seinem Standardwerk „Der deutsche Schäferhund in Wort und Bild“(1901) stellte er zudem einen Bezug zwischen der Zucht von Schäferhunden und der menschlichen Gesellschaft her und warnte zugleich vor der „Aufzucht von Schwächlingen“: „Unsere hochgezüchteten Stämme entsprechen etwa den oberen Zehntausend (…), denen des Geistes, des Schwertes, der Arbeit. Im Gegensatz dazu haben wir auch ein ,Schäferhund-Proletariat’–nicht so, wie das Wort in klassenverhetzendem Sinne gebraucht wird. Dazu rechnet alles Krankhafte, Ungesunde, die, denen der Ansporn fehlt, aus eigener Kraft zu steigen; (…) dann die durch Zucht, Aufzucht und Haltung körperlich und seelisch verkommenen, die ver- und überzüchteten, die Zwingerhunde. Die alle erhalten, heben zu wollen, wäre verlorene Liebesmühe. Es ist Rassenabfall, selbst als Zuchtdünger nicht mehr verwertbar.“[12]

So verwundert es nicht, dass der Schäferhund mit seiner Zuchtgeschichte als „deutsches Symbol“im Kaiserreich auch zum Symbol des Nationalsozialismus ab 1933 wurde. Der Verein für Deutsche Schäferhunde, zu deren aktiven Mitgliedern Louis Bodenstab weiterhin zählte, wurde allerdings mit anderen Hundezuchtverbänden in einem neuen Verband zusammengeführt und dem Sport unterstellt. Aus diesem Grund wurde Bodenstab Mitglied im „gleichgeschalteten“Deutschen Reichsbund für Leibesübungen und ab Dezember 1938 in dessen Nachfolgeorganisation, dem Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, eine ebenfalls von der NSDAP „betreute“Organisation.[13] 1937 mussten sich die meisten der zum neuen Verband gehörenden Vereine dem Reichsverband Deutscher Kleintierzüchter unterordnen, darunter auch der frühere Verein für Deutsche Schäferhunde. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen wurden die Hundezuchtvereine jedoch wieder aufgewertet, in einen selbstständigen Reichsverband für das Deutsche Hundewesen überführt und dem Oberkommando des Heeres unterstellt. 1941 erfolgte der Wechsel unter das Dach der SS.[14]

Damit einher ging der Einsatz von Schäferhunden in Konzentrationslagern–nicht nur als Wachhunde, sondern auch als Folterwerkzeuge und Tötungsinstrumente. Oswald Pohl, Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, ließim Juli 1942 in seinem Amt die neue Hauptabteilung „Schutz- und Suchhunde“einrichten. Zu ihren Aufgaben gehörte die Beschaffung, Zucht und Ausbildung von für das KZ vorgesehen Schäferhunden, und zwar zum Großteil aus Ortsgruppen des ehemaligen Vereins für Deutsche Schäferhunde sowie anderen Hundezuchtvereinen[15].

In der Hamburger Ortsgruppe bekleidete Bodenstab über die Jahre verschiedene ehrenamtliche Posten. Er war unter anderem Vorsitzender sowie Schriftwart und sogar Vorsitzender des gesamten Landesverbandes Schleswig- Holstein, Hamburg und Lübeck. „Außerordentlich rege“[16] setzte er sich für Zucht und Leistung der deutschen Schäferhunde ein, fungierte außerdem als Richter bei Zuchtschauen, und zwar nicht nur im Inland, sondern ab den 1930er-Jahren auch im Ausland: in Dänemark, England und noch 1942, während des Krieges, in Schweden.[17] In der Ifflandstraße 8 befand sich zudem 1934 und 1935 das Hamburger Büro des S. V., höchstwahrscheinlich in seiner Wohnung.

1943 wurde das Haus Ifflandstraße 8 bei Luftangriffen zerstört. Bodenstab wohnte spätestens ab 1946 in Wandsbek, in der Nerystraße 43. In der Wandsbeker Schlossstraße 15 führte er seine Firma für Heizungsartikel weiter, und im nun wieder aktiven Verein für Deutsche Schäferhunde betätigte er sich wie früher als Richter und Körmeister[18] (in letztgenannter Funktion wählte er geeignete Schäferhunde für die Züchtung aus). Diese Tätigkeiten übte er bereits zu der Zeit wieder aus, in der er seinen Entnazifizierungsfragebogen ausfüllte, also im August 1946. Denn die Hauptgeschäftsstellen wurde „mit eigenem Zucht-, Kör- und Leistungsbuch“bald nach dem Krieg wieder eröffnet.

1947 entschied ein Sonderausschuss, dass Louis Bodenstab in die Kategorie V, Entlastete, gehöre und seinen Beruf bzw. seine selbstständige Unternehmertätigkeit weiterhin ausüben könne.[19] Er war vor allem ein großer Tierfreund, suggerieren seine Antworten in dem Formular, der fast seine ganze Freizeit für den ehrenamtlichen Einsatz im Hundezüchterverein opferte und als Koryphäe sogar im Ausland respektiert war.

Am 18. Januar 1948 wurde der Deutsche Schäferhundverband offiziell wiedergegründet–was mit einem großen Fest und vielen Gästen –darunter sicher auch Bodenstab –am5. Februar 1948in Hamburg gebührend gefeiert wurde.[20]

Louis Bodenstabs Firmenbüro befand sich 1950 in der Wandsbeker Schulstraße 2a. Im Jahr darauf lautete die Firmenadresse in Wandsbek Klappstraße 2a. Ebenfalls 1950 war er in den gut situierten Wandsbeker Stadtteil Marienthal gezogen, in die Straße Nöpps 43, eine ruhige Sackgasse mit vielen, idyllisch hinter Bäumen gelegenen Einfamilienhäusern und Stadtvillen. Er starb am 24. November 1951 mit 74 Jahren.[21]

Autorin: Frauke Steinhäuser

Quellen und Anmerkungen:
1 alle Adress- und Firmenangaben s. Hamburger Adress- und Fernsprechbücher, agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/start (letzter Zugriff 2.2.2016)
2 Staatsarchiv Hamburg (StaH) 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung C.10737
3 ebd.
4 Willi Dreßen, Nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbeorganisation (NS-Hago), in: Wolfgang Benz u.a. (Hrsg), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München, 1997, S. 607
5 StaH 221-11_C.10737
6 ebd.
7 ebd.
8 Marion Wenzel, Die NSDAP, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a.M., 2009, S. 19–38, hier S. 33; vgl. auch Marie-Luise Recker, NS-Volkswohlfahrt (NSV), in: Wolfgang Benz u.a. (Hrsg), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München, 1997, S. 619
9 Völkischer Beobachter, 21. Oktober 1934, zit. n. Ernst Klee, Das Personen-Lexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Lizenzausg., Koblenz, 2011, S. 255
10 StaH 221-11_C.10737
11 ebd.
12 Vom Nationalsymbol zum Gefährten. Der Schäferhund als Spiegel deutscher Mentalitätsgeschichte [Radiobeitrag], SWR2 Leben, 10.12.2009, 10.05 Uhr, Autor: Detlef Berentzen, Sendungsmanuskript als PDF-Download von www.swr.de/-/id=5565982/property=download/nid=660174/sutp4s/swr2-leben-20091210.pdf (letzer Zugriff 10.2.2016), hier S. 3
13 StaH 221-11_C.10737
14 Henning Borggräfe, Zwischen Ausblendung und Aufarbeitung. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in Vereinen und Verbänden kollektiver Freizeitgestaltung, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2012, online: www.zeitgeschichte-online.de/thema/zwischen-ausblendung-und-aufarbeitung-0 (letzter Zugriff 10.2.2016)
15 ebd.
16 StaH 221-11_C.10737
17 StaH 221-11_C.10737
18 ebd.
19 ebd.
20 Vom Nationalsymbol zum Gefährten, hier: S. 7
21 Staatsarchiv Hamburg 332-5 Standesämter Nr. 49101 Generalregister Sterbefälle, A–Br
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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