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Grußwort Resozialisierung in der Einwanderungsgesellschaft

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Am 21. März 2019 sprach Justizsenator Dr. Till Steffen ein Grußwort auf der Fachtagung "Migrationsgesellschaft im Spiegel des Justizvollzugs". Hier die Rede im Wortlaut:

Resozialisierung in der Einwanderungsgesellschaft

Sehr verehrte Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir sind heute hier zusammen gekommen, um gemeinsam mit Ihnen über Einwanderung und Kriminalität, Strafvollzug und Resozialisierung zu sprechen. Das sind Themen, die nicht nur mich und meine Kolleginnen und Kollegen in den Gerichten und Anstalten tagtäglich bewegen, sondern wichtige gesamtgesellschaftliche Fragen, die leider viel zu häufig Spielball politischer Meinungsmache sind, statt Gegenstand reflektierter Diskussion. Dem wollen wir mit unserer Fachtagung heute etwas entgegensetzen: Uns orientieren an Zahlen und Fakten, auf die Suche gehen nach den verschiedenen Ursachen, die Menschen aus anderen Ländern hier in die Kriminalität treibt, und nicht zuletzt die Frage beantworten, was dies für unsere Strafvollzugsanstalten bedeutet.

Ich freue mich sehr, dass wir so viele hochkarätige Referentinnen und Referenten gewinnen konnten, die uns hierbei unterstützen, und dass Sie, liebe Gäste, alle so zahlreich erschienen sind, um mit uns zu diskutieren und ihre Gedanken zu teilen. Ich heiße Sie alle recht herzlich willkommen!

Einwanderungsgesellschaft, auch im Vollzug

Dass Hamburg das Tor zur Welt ist, ist ein Allgemeinplatz. Wahr ist es trotzdem. Hamburg ist in seiner langen Geschichte nicht nur bedeutende Hafenstadt und Handelszentrum, sondern stets auch Dreh- und Angelpunkt großer Migrationsbewegungen gewesen. Auch heutzutage ist Hamburg ein wichtiger Anziehungspunkt – Menschen aus fast 200 Nationen leben hier; ein Drittel der Hamburgischen Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Diese kulturelle Vielfalt, die wir in vielen Bereichen des täglichen Lebens als sehr bereichernd empfinden, setzt sich indes auch im Bereich der Kriminalität und des Strafvollzugs fort und steht – insbesondere in den letzten Jahren – wieder zunehmend häufig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

Tatsächlich hat der Anteil ausländischer Gefangener in den Hamburgischen Vollzugsanstalten seit 2015 deutlich zugenommen. Die Vermutung, dieser Anstieg sei insbesondere auf geflüchtete Menschen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Irak und Afghanistan zurückzuführen, mag nahe liegen – richtig ist sie indes nicht. Vielmehr sind diese Bevölkerungsgruppen im Vergleich zu anderen Zuwanderern teils sogar unterdurchschnittlich in den Anstalten vertreten. Mein geschätzter Kollege Herr Dr. Schatz hat die Zahlen hierzu einmal aufgebohrt und wird Ihnen im Anschluss einen Einblick in die aktuelle Gefangenenstatistik unserer Vollzugsanstalten geben.

Hintergründe sind vielschichtig – Ursachenforschung ist notwendig

Dieses eine Beispiel aber zeigt bereits eindrücklich: Es gibt keine einfache Formel für den Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kriminalität. Die Hintergründe sind vielschichtig.

So haben wir es gerade im Bereich der Einbruchs- und Diebstahlskriminalität häufig mit reisenden Straftätern zu tun, die gar nicht hier in Deutschland leben, sondern nur kurzfristig einreisen, um vor Ort Straftaten zu begehen und die Erlöse mit zu sich „nach Hause“ zu nehmen. Bei den vor Ort lebenden Migranten sind häufig fehlende Aufstiegschancen und gescheiterte Integration Triebfedern der Kriminalität. Diverse Studien zeigen: Wer Aussicht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und eine langfristige Bleibeperspektive hat, wird seltener straffällig. Hier müssen wir uns auch als Gesellschaft fragen, wo wir mehr tun können.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Gerade unter den seit 2015 Eingewanderten ist eine überdurchschnittlich große Gruppe vor allem eines: männlich, jung und alleinreisend. Darunter viele, die als soziokulturelles Gepäck ein ausgeprägt patriarchalisches, man kann auch sagen toxisch männliches Weltbild mit sich bringen, das bei der Begehung von Straftaten häufig eine zentrale Rolle spielt. Junge, unterprivilegierte Männer sind generell – zu allen Zeiten und allen Orten – die kriminalitätsgeneigteste Gruppe. Sie zu resozialisieren bringt besondere Herausforderungen mit sich, denen wir uns annehmen müssen!

Ich denke all dies zeigt: Wir müssen nicht nur die Zahlen, sondern auch die Ursachen verstehen lernen, uns mit den Strukturen hinter Einwanderung und Kriminalität auseinandersetzen, den Dingen auf den Grund gehen. Pauschale Verurteilungen bringen gar nichts. Wir dürfen aber die Augen auch nicht vor der Realität verschließen. Man muss nicht „4 Blocks“ gesehen haben, um zu wissen, dass sich in einigen deutschen Großstädten besorgniserregende kriminelle Netzwerke entwickelt haben. Hamburg ist davon natürlich nicht ausgenommen. Das darf man nicht beschönigen.

Was bedeutet das für die Vollzugslandschaft?

So wichtig die Forschung nach den Ursachen ist, so wichtig ist mindestens auch die vollzugliche Praxis. Dort ist die „Migrationsgesellschaft“ schon angekommen. So spielen in der Fußballmannschaft der JVA Fuhlsbüttel 22 Spieler aus 11 verschiedenen Staaten – da kann selbst die Champions League nicht mithalten! Von der vielfältigen Zusammensetzung des anstaltsinternen Fußballclubs mal abgesehen, bringt die internationale Durchmischung der Gefangenen aber natürlich jeden Tag auch große Herausforderungen mit sich. Sowohl für den Umgang miteinander in der Anstalt als auch für die Resozialisierungsperspektive.

Dabei ist eine der wichtigsten Hürden sicherlich die fehlende gemeinsame Sprache. Sie ist nicht nur für das tägliche Zusammenleben in der Anstalt essentiell, sondern auch notwendiger Baustein für die Ausbildung in den Betrieben. Ohne Sie können die Gefangenen nicht lernen, nicht arbeiten, sich nicht untereinander austauschen. Sprachlosigkeit erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht und Ohnmacht kann zu Resignation oder gar Aggression führen. Das gilt es zu verhindern. Die Anstalten haben hier schon viel geleistet, bieten zusätzliche Deutschkurse an und ermöglichen das Videodolmetschen, das eine Übersetzung in über 60 Sprachen erlaubt. So kommen wir ins Gespräch, so lernen wir uns gegenseitig verstehen! Das ist der erste Schritt für eine erfolgreiche Resozialisierung.

Weitere Herausforderungen im Anstaltsleben ergeben sich durch die teils sehr unterschiedlichen religiösen Bedürfnisse und Vorstellungen der Gefangenen, die gerade auf engem, begrenztem Raum ohne viel Privatsphäre zu Spannungen und Auseinandersetzungen führen können. Insbesondere junge Männer können das Bedürfnis verspüren, sich hierüber von den Mitgefangenen abzugrenzen und alltägliche Fragen des Zusammenlebens – wie zum Beispiel das unbekleidete Duschen - können dann schnell zum Zündstoff werden. Die Anstalten haben auch hier bereits wichtige Arbeit geleistet und bieten neben dem Zugang zur christlichen auch eine muslimische Seelsorge an. Die Zusammenarbeit mit den bei uns tätigen Imamen ist sehr eng und häufig ein ganz wichtiger Baustein, um den Anstaltsfrieden zu wahren.

Ein weiteres zentrales Arbeitsfeld liegt im Bereich der Extremismusprävention. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, Gefangene mit Bezügen zu extremistischen Ideologien frühzeitig zu identifizieren, anzusprechen und ihnen passende Beratungsangebote zu unterbreiten. So soll eine mögliche Radikalisierung frühzeitig erkannt und verhindert werden.

Resozialisierung von Migranten als besondere Herausforderung

Sprache, Religion, mögliche Radikalisierung. All dies sind Herausforderungen für die Resozialisierung. Dazu kommt: Eine oftmals unsichere Zukunftsperspektive. Der oft ungeklärte ausländerrechtliche Status der Gefangenen ist sicherlich eines der größten Hindernisse bei deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Strafgefangene werden bei uns teilweise jahrelang ausgebildet, dürfen dann aber mangels Arbeitserlaubnis nach ihrer Entlassung ihren Beruf gar nicht aufnehmen oder werden direkt abgeschoben. Hier prallen unser Resozialisierungsauftrag und die ausländerrechtliche Realität hart aufeinander. Auch dessen müssen wir uns bewusst sein.

All dies sind Aspekte, die die Resozialisierung von Gefangenen mit Migrationshintergrund zu einer besonderen Herausforderung machen. Eine Herausforderung, der wir uns aber natürlich annehmen! Nicht erst mit dem Hamburgischen Resozialisierungsgesetz haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, jeden einzelnen Gefangenen auf dem Weg aus der Haft in die Freiheit individuell zu unterstützen. Natürlich spielen Herkunft, Sprachkenntnisse, Ausbildung und auch Religion dabei eine ganz wichtige Rolle. Nimmt man den Anspruch auf Resozialisierung Ernst, so müssen wir hierauf passend zugeschnittene Antworten haben, die eine Wiedereingliederung ausländischer Straftäter in die Gesellschaft ermöglicht.

Resozialisierung braucht interkulturelle Kompetenz

Hierfür brauchen wir nicht nur gute Konzepte, sondern vor allem auch tolle Kolleginnen und Kollegen vor Ort, die die interkulturelle Kompetenz mitbringen, um mit den Gefangenen professionell umzugehen. Glücklicherweise können wir uns hier schon jetzt auf unsere tollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen, von denen einige selbst höchst spannende Migrationsgeschichten mitbringen.

Und auch bei unseren neu eingestellten AVDlern legen wir besonderen Wert auf die kulturelle und sprachliche Diversität. Wir suchen gezielt junge Leute, die unsere bunte und vielfältige Gesellschaft widerspiegeln, die ein Abbild unserer internationalen Stadt sind und Ihre persönlichen Erfahrungen in den Vollzugsalltag mit einbringen können. Die für Zusammenhalt und Menschlichkeit stehen. Ich halte das für ungemein wichtig in Zeiten, in denen unsere Gesellschaft in diesen Fragen auseinanderzudriften droht und bin mir sicher, dass diese neuen Kollegen das Leben und Arbeiten in unseren Vollzugsanstalten – noch mehr als bisher – sehr bereichern werden!

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

liebe Gäste,

Einwanderer gehören zu Hamburg wie die Alster, der Hafen, der Michel. Sie bereichern unser Leben jeden Tag in vielfältiger Weise. Podolski, Khedira, Boateng – ohne Sie wäre die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 ganz anders verlaufen. Und auch unser 1. FC Fuhlsbüttel hat letzten Sonntag 5:0 gesiegt – das war weiß Gott nicht immer so!

Natürlich bringt Einwanderung aber auch negative Aspekte mit sich, gerade im Bereich der Kriminalität. Die Ursachen hierfür müssen ergründet werden. Und ich finde, dabei müssen auch wir uns auch als Gesellschaft kritisch hinterfragen. Vor allem aber müssen wir im Umgang mit den Delinquenten dazulernen. Das ist sicherlich eine der größten Herausforderungen, die sich die Strafjustiz und der Vollzug seit Langem zu stellen hatten. Ich bin daher besonders froh und auch ein bisschen stolz, dass wir heute alle zur bundesweit ersten Fachtagung zusammengekommen sind, die sich diesem Thema stellt und ich danke Ihnen allen, dass Sie heute Ihr Wissen, Ihre Erfahrungen und Ihre Ideen in unseren Lernprozess mit einbringen. Ich wünsche Ihnen heute anregende Gespräche, spannende Diskussionen und vor allem uns allen eine bereichernde Tagung!

Vielen Dank.

Themenübersicht auf hamburg.de

Arzt. Aber anders.

Wie werden Gefangene in den JVAs medizinisch betreut? Wer sind die Ärzte "hinter Gittern" und wie sieht ihr Alltag aus? Mit diesen Fragen befasst sich das Video "ARZT. ABER ANDERS: Maren Dix und Sabine Jägemann".

Weitere Infos zu diesem Tätigkeitsfeld und anderen Stellen der Ärzte im öffentlichen Dienst inklusive der Stellenangebote finden Sie auf:

https://www.hamburg.de/aerzte/

VIDEO: Der Beruf "Arzt" im Vollzug


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