Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich sehr, dass ich hier bei Ihnen auf dieser interessanten Tagung ein paar Gedanken zum Arbeitsfeld der Deradikalisierung beitragen darf. Mich beschäftigt dieses Thema seit Ende der 90er Jahre. Zunächst war ich als Sozialwissenschaftlerin in der Rechtsextremismusforschung tätig, später habe ich dann als Psychologin Modellprojekte wissenschaftlich begleitet. Seit einigen Jahren arbeite ich psychotherapeutisch z.B. mit Familienangehörigen von radikalisierten Personen und baue gemeinsam mit Kollegen (im Folgenden ist die Diversität der Geschlechter mitgemeint) in Berlin derzeit ein Netzwerk zur ambulanten Behandlung von Haftentlassen und von Haft bedrohten Menschen im Themenfeld auf.
Den Schwerpunkt meines Vortrages will ich auf die aktuellen Herausforderungen in der Deradikalisierung legen. Dafür möchte ich zunächst einige geschichtliche Anmerkungen voranstellen:
Teil 1 - Entwicklung des Arbeitsfeldes
Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozesse sind ja kein neues Thema für den Strafvollzug und für die Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen. Schon so mancher Sozialarbeiter, Polizist oder Vollzugsbeamte hat vor 20 – 30 Jahren im Rahmen der normalen Arbeitstätigkeit einen Beitrag dazu geleistet, dass junge Menschen, die sich extremistischen Gruppen und Ideologien zugewandt hatten, einen Ausweg finden und ihr Leben auf eine sozialverträglichere Basis stellen konnten. Früher wie heute vollzieht sich die Distanzierung von extremistischen Kontexten und Denkweisen zumeist stillschweigend. Spektakuläre Ausstiege sind selten und auch nicht immer günstig. Wir dürfen auch den informellen Beitrag zur Distanzierung und Deradikalisierung, den Familienangehörige, Lebenspartnerinnen oder andere Ansprechpartner leisten nicht gering schätzen. Dazu zähle ich beispielsweise auch das „Zwischen Tür und Angel-Gespräch“ im Haftkontext.
Noch nie hat die Problematik von Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen jedoch so im Fokus des öffentlichen Interesses gestanden, wie notwendigerweise seit einigen Jahren. Und noch nie war es so wichtig, dass wir unsere Bemühungen in diesem Bereich verstärken. Heute, 20 -30 Jahre später, hat sich die Gesamtsituation gewandelt und ist nicht mehr mit jener aus den 90er Jahren vergleichbar. Es ist heutzutage unabdingbar geworden, dass alle betroffenen Berufsgruppen (Sicherheits- und Justizkräfte, Sozialarbeiter, Psychologen, Pädagogen) gemeinsam und koordiniert daran arbeiten, Distanzierungs- und Ausstiegsprozesse aus extremistischen Gruppen und Ideologiewelten zu unterstützen. Immer wichtiger ist es heutzutage geworden, auch die emotionalen Bezugspersonen (Eltern, Geschwister oder Lebenspartner) der gefährdeten oder radikalisierten Personen als Partner zu gewinnen.
Während Hilfen zum Ausstieg aus extremistischen, z.B. neonazistischen Gruppen z.B. in der Straßensozialarbeit, im Sport (der Fanarbeit), oder im Haftkontext also schon lange geleistet wurden, haben sich erste spezialisierte Projekte und Programme erst mit dem Beginn der 2000er Jahre gegründet (z.B. EXIT-Deutschland). Der Begriff der „Deradikalisierung“, den ich im folgenden inhaltlich als „psychische Loslösung von extremistischen Sozialkontexten und Denkweisen“ begreife, wurde damals noch nicht verwendet, sondern gelangte erst vor etwas 10 Jahren in die deutsche Fachdebatte. Denn in den Jahren 2000 bis 2010 konnten wir auch noch nicht von einer Professionalisierung sprechen, wie sie heutzutage in Gang gekommen ist.
Vielmehr gab es damals in manchen politischen Spektren sogar eine ideologisch geprägte Ablehnung gegenüber dieser Art von „Täterarbeit“: „Kann und soll man ausstiegswilligen Extremisten eine Chance geben, können sich solche Menschen verändern? Haben sie nicht alle Chancen verspielt?“ Im antifaschistischen Spektrum waren solche Haltungen z.B. in Bezug auf den Ausstieg aus dem Neonazismus nicht selten. Dem entsprach auch, dass bis ca. 2008 zunächst die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Unterstützung für Opfer rechtsextremer Gewalt Gegenstand der frühen Bundesprogramme war. Das war und bleibt zweifellos wichtig, aber durch die damalige Einseitigkeit wurde Zeit verschenkt, das „Arbeitsfeld Deradikalisierung“ zu entwickeln.
Spezialisierte Angebote zur Distanzierung, Deradikalisierung und zum Ausstieg aus extremistischen Kontexten waren bis 2008 kein Thema. Und in den Folgejahren sind erst langsam und nur punktuell erste Projekte zur Arbeit mit rechtsextremistisch „gefährdeten“ jungen Menschen gefördert worden. Darunter waren dann auch das erste Mal Projekte im Justizvollzug, beispielsweise mit einem theaterpädagogischem Schwerpunkt - sehr gute Projekte mit hochmotivierten Projektleuten, was ich damals als wissenschaftliche Begleitung miterleben durfte. Aber all dies waren „Eintagsfliegen“, deren Erfahrungen kaum weitergetragen wurden.
Ich betone das so, weil wir nun seit einigen Jahren stark zunehmende Probleme mit destruktiven gesellschaftlichen Konfliktspiralen haben, die in eine immer stärkere Polarisierung münden und an denen extremistische Gruppen und Bewegungen stark beteiligt sind bzw. davon stark profitieren. Diese verschärften Problemlagen erfordern auch verstärkte Bemühungen der „Deradikalisierung“ – und zwar auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene.
Ein „Arbeitsfeld Deradikalisierung“ im engeren Sinne bildet sich jedoch erst seit ca. 5 Jahren heraus. Damit sage ich Ihnen allen sicherlich nichts Neues – aber wir befinden uns hier in einer besonderen Konstellation: Die Anforderungen an die Professionalität, Kooperation der Berufsgruppen und methodische Wirksamkeit unserer Bemühungen sind aufgrund der gesellschaftlichen Probleme exponential gewachsen – und dabei beginnen wir doch gerade erst seit einigen Jahren, dieses „Arbeitsfeld Deradikalisierung“ aufzubauen.
Besonders gut ist das im Feld der Sekundär- und Tertiärprävention zum radikalen Islamismus zu sehen: Mit der Ausreisewelle deutscher Islamisten nach Waziristan ab ca. 2008/2009, der seitdem verstärkten Verbreitung radikalislamistischer Gruppen in Deutschland, den ersten Anschlägen bzw. Anschlagsversuchen hierzulande (Sauerland-Gruppe, Düsseldorfer Zelle) und schließlich der beginnenden Ausreisebewegung vor allem zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ nach Syrien/Irak, entwickelten sich zunächst einzelne zivilgesellschaftliche Beratungsangebote. Zu den ersten und bekanntesten ProtagonistInnen gehört sicherlich Claudia Dantschke, die bereits ab 2009 in Berlin begann, Familienangehörige von nach Waziristan ausgereisten deutschen radikalen Islamisten zu beraten und die dann 2011 die Familienberatungsstelle HAYAT gründete. Wenig später, ab 2012, entstand dann beim BAMF die allseits bekannte Beratungshotline Radikalisierung.
Das alles ist aber gerade einmal 7 Jahre her und auch damals - 2012 - konnte noch nicht von einem „Arbeitsfeld Deradikalisierung“ gesprochen werden. Aus meiner Sicht können wir dies erst seit 2015. Denn 2015 markiert das Jahr, in dem sich die politisch-gesellschaftlichen Bedingungen für die strukturelle und konzeptionelle Entwicklung eines „Arbeitsfeldes Deradikalisierung“ im Großen und Ganzen zum Positiven gewendet haben: die Beratungshotline beim BAMF wurde zu einem bundesweiten Beratungsnetzwerk ausgebaut; spezialisierte Projekte wurden im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben“ möglich und auf der Ebene der Bundesländer hat sich ebenfalls einiges getan. So haben wir nun seit ca. 2015 Jahren die Situation, dass sich ein „Arbeitsfeld Deradikalisierung“ besser entwickeln kann, in einem professionellen, koordinierten und berufsgruppenübergreifenden Sinne. Aber erst seit kurzem - seit 2017 - kommen nun auch die Modellprojekte zur „Prävention und Deradikalisierung im Strafvollzug und der Bewährungshilfe“ in Gang.
Teil 2 - aktuelle Herausforderungen
Das ist eine extrem kurze Zeitspanne, wenn wir uns die Problemlagen anschauen, denen wir aktuell gesellschaftlich und entsprechend auch in den Bereichen Jugend, Familie und Justiz gegenüber stehen:
Wir haben es zu tun mit einem
- transnationalen Dschihadismus (in ideologischer Hinsicht wie in Bezug auf Netzwerke);
- fließenden Übergangsfeld zwischen europäischem Rechtspopulismus bis hin zur extremen politischen Rechten und deutschen Neonazismus, in ständiger Modernisierung und mit zunehmender Militanz, wozu auch globale rechtsterroristische Taten gehören, wie in Neuseeland;
- z.B. türkischen Ultranationalismus mit Schnittmengen zum radikalen Islamismus bzw. der Suche nach (auch dschihadistischen) Bündnissen;
- anderen radikalen ethnonationalistischen Bewegungen, die sich militant aufrüsten;
- linksradikalem Befreiungsnationalismus mit Formen linksextremer Militanz.
Solche komplexen Kristallisationspunkte des Extremismus schlagen sich auch in den Fallkonstellationen der Deradikalisierung, auf individueller Ebene, nieder. Wir haben es bei den „Fällen“ immer mehr zu tun mit:
- transnationalen Bewegungen (Aus- und Rückreisen in Kampfgebiete, im Fall des Dschihadismus mit teils hoher Mobilität und sozialen Kontaktnetzwerken zwischen Europa, dem nahen Osten, Asien, Nordafrika);
- Extremismus und Militanz als Familienthema (Familienangehörige mit entsprechenden Zugehörigkeiten, extremistische Inhalte in der Erziehung, Jugendsozialisation in militanten Gruppen);
- der Bedeutsamkeit von traditionellen oder modernisierten Genderrollen im Extremismuskontext (Hypermaskulinität einerseits aber vielfältigen Konzeptionen von Weiblichkeit andererseits);
- ideologischen Brückennarrativen und neuen Synthesen (Verschwörungstheorien a la Reichsbürger, Selbstverwalter).
Insofern sind - einhergehend mit den vielfältigen, oft auch international geprägten Herausforderungen - die „Fälle“ der Deradikalisierung und Ausstiegshilfe bzw. Wiedereingliederung anspruchsvoller und „komplexer“ geworden. Wir können das seit einiger Zeit an der Thematik der „Dschihad-Rückkehrer“ sehen, bei denen wir von einer Vielfalt der Hintergründe, Taten und Erlebnisse als Täter und teilweise Opfer ausgehen müssen:
Unter ihnen finden wir z.B.:
- Menschen, die terroristische Taten und/oder Kriegsverbrechen begangen haben und als solche hoffentlich verurteilt werden wie auch Menschen, die solche Taten begangen oder diese unterstützt haben, aber die nicht verurteilt werden können (oder voraussichtlich nur zu kurzen Haftstrafen), weil gerichtsverwertbare Beweise für eine Verurteilung fehlen;
- Ideologisierte Dschihad-Rückkehrer, also Menschen, die auch weiterhin an den ideologischen Narrativen des Dschihadismus oder/und radikalen Salafismus festhalten;
- Distanzierungswillige Rückkehrer, also Menschen, die bereit sind sich von dieser Ideologie, der Vision des IS und ihren Zugehörigkeiten zu distanzieren oder dies bereits begonnen haben;
- Traumatisierte Rückkehrer, also Menschen (Frauen und Männer), die während ihrer Zeit im „Kalifat“ sowohl Täter wie auch Opfer waren, was sich in den einzelnen Biographien unterschiedlich gewichten mag, und die durch das Erlebte möglicherweise schwer traumatisiert sind;
- Eltern mit Kindern, die ihre erste Lebenszeit in einem terroristischen Umfeld verbrachten, dort bereits ideologischen Einflüssen ausgesetzt gewesen sind und ggf. frühe bzw. mehrfache Traumatisierungen erlitten haben.
Hieran zeigt sich auch das komplexe Feld der Hilfen und Interventionen, die für eine Deradikalisierung zunehmend bedeutsam werden: Es gibt Verbindungen zur Kinder- und Jugendhilfe, speziell zum Kinderschutz, wie auch Verbindungen zu den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Arbeit, wenn es um eine Wiedereingliederung geht. Aber es gibt vor allem hier auch die Verbindung zum Bereich Justiz im Sinne der strafrechtlichen Verurteilung, Inhaftierung (Behandlung) und Wiedereingliederung.