Sehr geehrter Herr von Notz,
sehr geehrte Frau Prof. Dr. Müller,
sehr geehrter Herr Baur,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
vor mehr als zehn Jahren hat der Liedermacher Peter Licht sein „Lied vom Ende des Kapitalismus“ gesungen – mit der schönen Zeile:
„Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, ist uns lange genug auf der Tasche gelegen.“
Ob der Kapitalismus wirklich vorbei geht, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Die Wiederkehr eines seiner bedeutendsten Analytiker und Kritiker in der öffentlichen Diskussion jedenfalls legt etwas anderes nahe. Es ist vielleicht zu früh, um von einer Renaissance zu sprechen, aber ganz augenscheinlich ist Karl Marx wieder da.
Vor gerade einmal zwei Wochen habe ich in der Innenstadt in der Auslage einer Buchhandlung das schmale Bändchen „Der kleine Marx“ gefunden und mitgenommen.
Die Nachfrage nach dem ersten Band des „Kapitals“ stieg im Zuge der weltweiten Finanzkrise nach 2008 so rasant an, dass der Dietz-Verlag zunächst eine Verdreifachung der Verkäufe meldete und dann mit dem Nachdrucken nicht mehr hinterherkam, so dass der 23. Band der „Marx-Engels-Werke“ – kurz: „MEW23“ genannt – schließlich vergriffen war.
Und als ich dann in der Vorbereitung zu heute in meinem eigenen Bücherregal nicht bloß die drei blauen Bände, sondern außerdem noch den wunderbaren, beinahe 40 Jahre alten Sachcomic „Marx für Anfänger“ des Mexikaners Rius fand und darin blätterte, wurde mir schnell wieder klar:
Marx ist hochaktuell. Nur weil eine auf ihm fußende Ideologie 1989 zum Glück endgültig scheiterte, wird dadurch ganz offensichtlich nicht sein nüchtern rationales Analysemodell modernen Wirtschaftens obsolet. Ganz im Gegenteil.
Augenscheinlich kann „Das Kapital“ in seiner systematischen Klarheit gerade in Zeiten von ökonomischen Krisen weltweiten Ausmaßes auch heute noch durchaus wertvolle Deutungsangebote formulieren.
Karl Marx lieferte mit starken empirischen Begriffen Erklärungen für die neue kapitalistische Wirtschaftsweise.
Seine Beschreibung, wie sich durch die Ausbeutung von Arbeitskraft Geld in Kapital verwandelt, ist eine bis heute relevante Erklärung dafür, wie [Unternehmens-] Gewinne entstehen.
Begriffsschöpfungen wie Entfremdung, Mehrwert oder Akkumulation des Kapitals sind bis heute debattenprägend und empirisch anschlussfähig.
Sein Hauptwerk „Das Kapital“ liefert zugleich die erste umfassende Darstellung der Rolle des Geldes in einer kapitalistischen Wirtschaft: Geld wird in die Produktion von Waren investiert, damit noch mehr Geld entsteht. Seine berühmte Formel „G - W - G‘ “ bringt diese Funktionsweise auf den Punkt.
Seien Sie versichert, dass ich als Kultursenator im Sinne unseres gemeinsamen Anliegens immer noch versuche herauszufinden, wie sich das zu unseren Gunsten nutzbar machen lässt…
Karl Marx gehört somit zum zentralen Kanon der volkswirtschaftlichen Denker. Selbst seine Irrtümer verraten viel über den Kapitalismus und seine Dynamik, die nicht nur die Wirtschaft, sondern alle Lebensbereiche und Gesellschaftsschichten durchdringt.
Insbesondere zeigt die Rezeptionsgeschichte seiner Werke, wie ungemein praktisch eine gute Theorie sein kann.
Allerdings folgten die Marx-Exegeten in der Politik keineswegs immer einheitlichen Interpretationen, sondern stritten sich früh über die richtigen Strategien auf dem Weg in eine gerechtere Gesellschaft. Marx war eben nie eindeutig.
Dies wird beispielhaft sichtbar im Revisionismusstreit zwischen Bernstein und Kautsky, in dem verhandelt wurde, ob man aktuell Reformen anstreben oder später die Revolution erzwingen solle.
Es ging, wenn Sie so wollen, um die Frage:
Das Paradies später oder Kaffeepausen jetzt?
Mittlerweile gehen wir immerhin davon aus, dass das keine Alternative sein muss, sondern dass man auf dem Weg ins Paradies durchaus auch mal eine Kaffeepause machen kann…
Meine Damen und Herren,
nachdem 1989 die totalitäre Interpretation der marxistischen und dann vor allem leninistischen Gedanken an ihr berechtigtes Ende gekommen war, schien auch der Marxismus insgesamt auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet zu sein.
Heute wissen wir, dass das nicht stimmt und erleben vorsichtige Wiederannäherungen.
Wir erleben zum Teil wachsende Ungleichheit dadurch, dass der Wohlstand zwar global zunimmt, einzelne wirtschaftlich schwächere Gruppen und Regionen aber – zunächst vor allem im sogenannten globalen Süden – erleben müssen, dass der Wohlstand Anderer zu ihren Lasten geht.
In der jüngeren Zeit stellen wir fest, dass vergleichbare Phänomene insbesondere auch bestimmte vormals industriell geprägte Milieus in westlichen Gesellschaften treffen, deren relativer Wohlstand unter den Druck globaler Mehrwertverteilung und Kapitalakkumulation gerät.
Manche populistische Aufwallung unserer Tage hat hierin ihre Ursache.
Mit Blick auf solche Phänomene hebt sich der nüchterne und analytische Stil von Karl Marx auch wohltuend von den raunenden Thesen neulinker Theoretiker wie Hardt / Negri und ihren Fiktionen einer postindustriellen Multitude ab.
Zugleich aber bedarf auch Marx einer gehörigen Entschlackung und Repositionierung, um uns heutzutage noch hilfreich zu sein. Und zwar vor allem immer dann, wenn er oder seine Apologeten aus seiner Wirtschaftstheorie philosophische und soziologische Annahmen destilliert.
Ich will nur einige Beispiele nennen:
Sein Verständnis einer beinahe ausschließlich durch die Produktionsverhältnisse geprägten Gesellschaft übersieht den starken Anteil kultureller und kommunikativer Beiträge zum gesellschaftlichen Selbstverständnis und zur Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen und Ungerechtigkeiten.
Das ist auch der Hauptgrund, warum mir Marx als Theoretiker immer etwas fremd geblieben ist und ich mit Gramsci und später mit Habermas immer mehr anfangen konnte, weil sie die Dichotomie zwischen Materialismus und Idealismus nicht so einseitig aufgelöst haben.
Die Fokussierung auf die vermeintliche Basis ist eine Engführung, für die es heute wenig Belege gibt. Ehemalige Nebenwidersprüche sind vielmehr zu prägenden Themen in Politik und Gesellschaft geworden.
Das dialektische Verhältnisse von Arbeit und Kapital, von Proletariat und Bourgeoisie ist längst abstrakteren Frontstellungen gewichen. Wir stehen vor der Aufgabe, die fragilen Bedingungen unserer Kultur-, Kommunikations- und Demokratiefähigkeit gegen sich verselbstständigende systemische Zusammenhänge zu schützen und zu verteidigen.
Wenn Finanzmärkte algorithmisch gesteuert werden, dann hilft der alte Antagonismus nicht mehr weiter, weil der vermeintliche Kapitalist auf der anderen Seite längst auch ein Getriebener der Verhältnisse wird und die Front zwischen der humanen und der digitalen Entscheidung, zwischen Lebenswelt und System verläuft.
Und nicht zuletzt sind die geschichtsphilosophischen Annahmen, die Marx und Engels formulieren, längst obsolet geworden. Wir wissen längst, dass es keinen Automatismus der Geschichte hinter dem Handeln der Menschen gibt, dass keine geheimnisvolle Logik die Entwicklung steuert, sondern dass alle Errungenschaften kontingent sind und jeden Tag aufs Neue geschaffen und gewahrt werden müssen.
Wenn man sich von diesen Aspekten der Marxschen Theorieentwicklung entfernt, dann lässt man zugleich auch alle holistischen und totalitären Ansprüche des Gedankengebäudes hinter sich und verstellt so jeden Weg, Marx zur Begründung politisch motivierter Gewalttaten heranzuziehen.
Es gibt in freiheitlichen, demokratischen und offenen Gesellschaften keine akzeptable Begründung für Gewalt – und auch Marx kann keine liefern, ganz egal was Autonome oder Linksextreme insinuieren.
Es sind daher diese oftmals ja nur ex post und zugleich schwach begründeten oder schlicht behaupteten Ableitungen, die wir beiseite räumen müssen, um zu dem Kern des Marxschen Gedankenguts vorzudringen, der uns ganz unideologisch und systematisch heute noch dabei helfen kann, Wirtschaft und Gesellschaft besser zu verstehen.
Meine Damen und Herren,
dass wir uns bis heute mit diesen wegweisenden Gedanken auseinander setzen können, hat maßgeblich etwas mit Hamburg und seiner prägenden Rolle als Kultur- und Medienstadt zu tun. Hier fiel eine Grundentscheidung für den Erfolg des Marxschen opus magnum:
Am 12. April 1867 traf sich Karl Marx mit seinem Verleger Otto Meissner in Hamburg in dem noblen Hotel „Zingg’s“, das gegenüber der damaligen Börse lag.
Dort übergab Marx ihm das Manuskript für den ersten Band seines Werkes „Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie“.
Nur die Bibel ist weltweit mehr gelesen worden als dieses Buch – und das trotz seiner in Teilen stilistisch sperrigen Sprache und seiner fordernden Begriffsarbeit
Marx selbst schreibt zwar im Vorwort, „… dass man dies Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit anklagen“ könne. Und weiter: „Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.“
Das ist immer noch eine ordentliche Zumutung:
Das Buch hat Millionen gutwilliger Leser zur Verzweiflung gebracht. Und Thomas Piketty, Ökonom und Autor des Buchs „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, sagt darüber:
„Natürlich habe ich Marx bis zum Ende gelesen. … ich empfand sein Werk als konfus und schmerzvoll … viel zu theoretisch und spekulativ, … mein Buch lässt sich besser lesen!“
Lassen wir Pikettys Selbstlob mal beiseite:
„Das Kapital“ ist weltweit von so grundlegender und umfassender Bedeutung, dass es 2013 in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen wurde, um es der Menschheit als dokumentarisches Erbe zu erhalten und ihr den freien Zugang zu diesem bedeutsamen Werk zu sichern.
Gleichzeitig ist es bis heute ein Buch von erheblicher Brisanz, anfällig für Missverständnisse und Missbrauch. Das wird z.Zt. auch sicht- und erfahrbar in dem spektakulären Kunstwerk „Parthenon der verbotenen Bücher“, das die argentinische Konzeptkünstlerin Marta Minujín zur diesjährigen Documenta in Kassel installiert hat:
Hier ist auch „Das Kapital“ eingewoben in ein kolossales Denkmal von Büchern, die irgendwann in der Geschichte einmal verboten waren, und die sich nun eindrucksvoll als ein Gesamtkunstwerk präsentieren, das als Symbol für das Gemeinwesen und für das Ideal der Demokratie steht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in der Ausstellung, die wir heute eröffnen, ist das Buch selbst der Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung:
Das Museum der Arbeit nimmt das 150-jährige Jubiläum der Erstveröffentlichung von Marx‘ „Kapital“ zum Anlass für eine Sonderausstellung, die sich mit der Entstehung, der Wirkung und der Aktualität dieses Werks befasst.
Es nimmt die große Herausforderung einer pluralistischen Präsentation an, die unterschiedliche Perspektiven zulässt und Anstöße für kontroverse Auseinandersetzungen geben will.
Es beweist damit einmal mehr, dass es sich zwanzig Jahre nach seiner Gründung längst als ein Ort etabliert hat, an dem öffentliche Diskurse über die Ursachen und Auswirkungen von gesellschaftlichen Veränderungen reflektiert und auch experimentelle Formate in der Vermittlung komplexer wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge entwickelt werden.
Sehr herzlich danken möchte ich den Initiatoren und allen an diesem Projekt Beteiligten – stellvertretend Frau Prof. Dr. Rita Müller und Herrn Mario Bäumer sowie Herrn Joachim Baur – für die Idee und Umsetzung einer undogmatischen Ausstellungskonzeption.
Ich bin überzeugt, die Ausstellung „Das Kapital“ wird – ebenso wie ihr Gegenstand – wichtige Beiträge zu aktuellen Fragestellungen und Debatten liefern.
Ihr wünsche ich eine Vielzahl neugieriger Besucher.
Und dem Original viele unerschrockene Leser.
Es lohnt, sich Karl Marx aufs Neue zu nähern, denn wenn man sich ihm endlich undogmatisch und ideologisch befreit vor dem Hintergrund einer freien und offenen Gesellschaft zuwendet, dann bekommt auch seine elfte These über Feuerbach von 1845 plötzlich einen ganz anderen und grundstürzend modernen Klang:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“
Und das ist nun einmal die Aufgabe, freier, aufgeklärter und selbstbestimmter Bürgerinnen und Bürger.
Möge uns diese Ausstellung dazu ermuntern.
Schönen Dank.