Sehr geehrte Vertreter des diplomatischen Korps,
sehr geehrte Vertreter der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrter Herr Wenders,
sehr geehrter Frau Neshat,
lieber Herr Wiederspiel,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Anfang des 20. Jahrhunderts spürte Marcel Proust in seiner großen literarischen Inszenierung „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verschütteten Erinnerungen nach – mit Hilfe eines französischen Feingebäcks, einer „Madelaine“. Genau genommen mit einer „in Tee getauchten Madelaine“.
Diese in Tee getauchte Madelaine legt bei dem Erzähler Erinnerungen an beglückende Erfahrungen aus der Kindheit frei. Sie macht das Vergangene unerwartet wieder erlebbar – und wiederbelebt damit den sich Erinnernden, also den Erzähler, und bringt die in seinem Gedächtnis vergrabenen Dinge wieder zum Sprechen.
Aus dieser berühmten „Madelaine-Episode“ zieht Proust folgende Erkenntnis:
„Wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein […], immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, […] und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen“.
Wir wissen, dass Ihre „Madelaine“, lieber Herr Wenders, ein Kleidungsstück des Modedesigners Yohji Yamamoto ist. Dessen Wirkung auf Ihre Person haben Sie in Ihren „Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten“ (1989) beschrieben und gewürdigt.
Ein halbes Jahrhundert nach Prousts literarischer „Suche nach der verlorenen Zeit“ haben auch Sie eine Suche unternommen. Eine visuelle und dennoch höchst poetische Suche mit manchmal überwältigend schönen Bildern.
Sie gehen in Ihren Filmen auf die Suche nach verlorenen Orten und verlorenen Dingen. Ihr Verbündeter dabei ist ein ganz besonderes Objekt, eines das Orte und Dinge als sichtbare, als bleibende Erinnerung festhält: die Kamera.
Die Kamera ist, so haben Sie mal gesagt, eine – Ihre - „Waffe gegen das Elend der Dinge, nämlich gegen ihr Verschwinden“.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Fotoapparat zu einer Zeit erfunden wurde und sich durchsetzte, als besonders viele Dinge vom Verschwinden bedroht waren. Wer auf die Umbrüche des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts schaut, der bekommt eine Ahnung davon, wie wichtig das visuelle Festhalten auf einmal sein konnte – gerade in den sich rasant verändernden Städten. Ein auch uns bekanntes Szenario.
Wenn wir beispielsweise Ihre Bilder vom Hafen und von Altona sehen, die uns in „Der Amerikanische Freund“ das Hamburg der siebziger Jahre zeigen, wird uns bewusst, wie sehr sich die Stadt seitdem verändert hat. Hamburg wirkt in Ihrem Film unbebaut, beinahe leer. Ein Anblick, der heute einerseits fast irritiert und melancholisch stimmt über das, was seither sichtbar verloren gegangen ist; andererseits aber auch erfreut, weil er deutlich macht, wie – sich die Stadt ihrem Fluss nun endlich geöffnet und zugewandt hat.
Sicher ist: In den Bildern Ihres Films ist das Vergangene aufbewahrt, für uns heute gerettet.
„Das, wovon man weiß, dass man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild“, beschrieb das einmal Walter Benjamin.
Diese filmischen Suchbewegungen, das Lauschen auf den Herzschlag der Orte, der Dinge, der Menschen und ihre Sichtbarmachung, ja: ihre Rettung in der Zeit, das macht Ihre Filme so besonders. Und man meint, darin auch Ihre Herzschläge, lieber Herr Wenders, zu spüren.
Das ist ein radikal auf das Subjekt bezogener Ansatz, der sich nicht zuallererst auf eine Story konzentriert, sondern auf einen erlebten Ort. „Die Orte sprechen mit mir“ haben Sie mal in einem Interview gesagt. Und dieses Zwiegespräch machen Sie für uns, den Zuschauer erlebbar und sichtbar.
Orte, Städte oder Landschaften sind die Quellen Ihrer Inspiration. Sie sind in Ihren Filmen nicht nur der Hintergrund, das Setting, das Dekor für Figuren und Handlung. Die Orte haben vielmehr ihre eigene Geschichte und sind so inszeniert, als seien in ihnen verschüttete Erinnerungen oder nicht eingelöste Träume der suchenden Protagonisten eingeschrieben.
So erscheint es nur folgerichtig, wenn Ihre Filme sich von einem Ort aus entwickeln, der der Ausgangspunkt für eine Geschichte ist sowie auch für die Ästhetik der Bilder und Töne. „Orte haben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich“, haben Sie gesagt. „Sie sind eine nicht enden wollende Quelle von ‚Eingebungen‘, und was sie eingeben, sind die besten Gründe, einen Film zu erzählen, Geschichten nämlich, die wissen, wo sie herkommen.“
Ihre wesentlichen Figuren, meist Männer, meist einsam, von innerer Unruhe getrieben und äußerer Stummheit gezeichnet, sind Menschen, die irren. Und das häufig im doppelten Sinne: Sie irren, weil ihnen Fehler unterlaufen. Und sie irren in Orten und Landschaften herum und trauern unerfüllten Möglichkeiten hinterher.
Und Sie, lieber Herr Wenders, Sie sind ihr einfühlsamer – und dabei nicht allzu allwissender – Begleiter. Sie begleiten Ihre Figuren mit einer gewissen visuellen Distanz, aber auch mit emotionaler Nähe.
Dies ist auch Ihre Haltung, wenn Sie sich nicht auf fiktive Personen, sondern auf reale Künstlerpersönlichkeiten und deren Werke konzentrieren, sei es im dokumentarischen Filmportrait des japanischen Modedesigners Yohji Yamamoto, in dem der kubanischen Musiker des Buena Vista Social Club, im Portrait der deutschen Choreographin Pina Bausch oder in dem des brasilianischen Fotografen Sebastiao Salgado.
Ihre emphatischen Zwiegespräche mit Meistern anderer Künste sind – immer im Geiste der Kunst – gegenseitige Annäherungen, Reflexionen, auch Selbstreflexionen.
Dass Ihre Filme gerade in diesem genauen und einfühlsamen Schildern des Besonderen, in der Hingabe an Zeit und Ort, etwas Zeitloses erreichen, mag auch daran liegen, dass Sie, lieber Herr Wenders, neuen technischen Möglichkeiten und neuen ästhetischen Erfahrungen gegenüber immer aufgeschlossen waren.
Kaum ein anderer Filmemacher hat die jeweils modernste Technik so konsequent bejahend eingesetzt, und kaum einer so intensiv beobachtet und erfahrbar gemacht, was in den benachbarten Künsten entstanden ist.
Kaum ein Filmemacher, der sich wie Sie seit Jahrzehnten auch filmpolitisch einsetzt. In der Hamburger Film- und Fördergeschichte haben Sie ja sehr sichtbare Spuren hinterlassen: 1968 zum Beispiel mit ihrem Besuch der ersten „Hamburger Filmschau“ oder 1979 mit der Protest-Reise Münchner Regisseure nach Hamburg, der Mitorganisation des „Festes der Filmemacher“ und der Mitzeichnung der folgenreichen „Hamburger Erklärung“.
Und zugleich sind Sie jemand, der sich auch noch um den Film-Nachwuchs kümmert: Lange Jahre waren Sie – noch bis vor kurzem – an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg tätig.
Und Sie haben früh und souverän auch an die Zukunft des eigenen Werkes gedacht. Sie haben es einer Stiftung, Ihrer Stiftung, übergeben, damit Ihr Werk „in Zukunft nur mehr sich selbst gehört, und damit eben allen“ – wie es auf der Internetseite heißt.
Und das ist noch nicht alles.
Im Ausland werden Sie wahrgenommen als d e r Vertreter des deutschen Films. Als einer seiner unermüdlichsten und produktivsten Streiter setzen Sie sich für den europäischen Film ein – als Präsident der Europäischen Filmakademie genauso wie ganz praktisch als Co-Produzent.
In einer Person sind Sie alles: ein deutscher, ein europäischer, ein internationaler Regisseur und Produzent. Und Fotograf. Und Lehrer. Und Autor.
Und natürlich haben Sie auch über den 1900 in Hamburg geborenen Detlev Sierck geschrieben, der in den USA als Douglas Sirk in die Filmgeschichte eingegangen ist. Sie haben ihn noch persönlich kennengelernt. Und wie Fassbinder bewundern Sie ihn, nicht nur für seine Plots, sondern vor allem „für deren kunstvolle Stilisierung“. Sie würdigen Sirks kunstvolles Melodram und alles, was er „bildgewaltig erfunden“ hat.
Und dann schreiben Sie 2006 zu Sirk noch etwas, das sich heute liest wie ein weitsichtiger Kommentar zu den never ending breaking news unserer Zeit.
Ich zitiere Sie noch einmal, zum Abschluss:
„Die amerikanische Gesellschaft in Sirks Filmen geht an ihren eigenen Regeln zu Grunde. Sie wird von einer gemeinen, repressiven Kraft getrieben. Die Helden von Sirks Geschichten sind deren Gefangene, die nicht mehr wissen, wie sie leben und wie sie sterben sollen. Geld, Macht, Ehrgeiz, Drogen … der Amerikanische Traum wirkt hier nur zerstörerisch und führt zu einer Verwahrlosung der Sitten. Alle Werte sind korrumpiert.
Erstaunlich, wie dieser deutsche Regisseur im Exil [= Sirk] dies schon vor einem halben Jahrhundert vorher gefühlt und geradezu klinisch vorgeführt hat.“
Nicht nur Sirks Filme, auch Ihre Filme, lieber Herr Wenders, sind in mehrfacher Hinsicht ein Antidot, ein Gegengift zur aggressiven Konventionalität von Gesellschaften, die dabei sind, aus den Fugen zu geraten.
Ihre Filme werben ganz leise und doch mit großer Wucht für das Offene, das Zärtliche, für Verantwortung und Menschlichkeit. Seit einem halben Jahrhundert zeigen sie uns mit einem liebevollen Blick die Welt – wie sie war, wie sie ist und vielleicht auch wie sie sein sollte. Man könnte also sagen: Seit einem halben Jahrhundert legen Sie uns die Welt ans Herz.
Sehr geehrter, lieber Herr Wenders, auch im Namen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg gratuliere ich Ihnen ganz herzlich zum Douglas-Sirk-Preis!