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11. November 2018 Festmatinee 175 Jahre Thalia Theater „Theater als Raum der Freiheit“

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Grußwort des Senators Dr. Carsten Brosda

Festmatinee 175 Jahre Thalia Theater 2018

„Die Bedrohung der Wahrheit“


Lieber Joachim Lux,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Thalia Theaters,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Kunst ist Magie – befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ 

Das hat Theodor W. Adorno in seinen „Minima moralia“ geschrieben.

Dieser für Adorno ungewöhnlich pathetische und schillernde Satz ist deshalb so interessant, weil er nicht die übliche Frage danach stellt, ob Kunst – und somit auch das Theater – Wahrheit ist. Adorno behauptet stattdessen, dass die Kunst weder Lüge noch Wahrheit sei. Sie sei vielmehr von beidem befreit – etwas Drittes: Magie! 

Doch bitte keinen Trugschluss: Diese Feststellung öffnet keinen Ausgang aus der hart erkämpften Mündigkeit.

Nur weil sie magisch sein kann, ist die Kunst nicht bar jedweder Verantwortung. Denn selbst eine völlig von der Wirklichkeit befreite Kunst, bleibt ja in Bezüge eingewoben, reflektiert, überhöht, verdichtet, spitzt zu und markiert Markantes bereits im Prozess des Schaffens.

Und spätestens vor dem Publikum entfaltet die Magie der Kunst eine zwangsläufig soziale, ja letztlich politische Dimension. Nicht vordergründig auf politische Fragen oder Prozesse gerichtet, sondern im Arendtschen Sinne des Politischen als dem, was zwischen den sich verständigenden Menschen entsteht.

Kunst gerät so unweigerlich in die Verantwortung, über gesellschaftliche Verhältnisse aufklären zu können. Sie kann das Falsche in der Gegenwart ebenso zeigen wie die Option einer besseren Zukunft. Wenn denn ihre Freiheit gewährleistet ist.

Die Autonomie der Kunst – eine Errungenschaft des späten 18. Jahrhunderts – ist demnach nicht nur ein Privileg, sondern auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung dazu, sich selbst keinen Gesetzen zu unterwerfen. Mit ihr einher geht die Kraft, den Gesetzmäßigkeiten unserer Welt und ihres Alltags nachzuforschen und sie offenzulegen. In Dystopien ebenso wie in Utopien.

Der Philosoph Rüdiger Bubner spricht im Zusammenhang mit diesen Möglichkeiten der Kunst von den – wie Kant sie nannte – „Ausnahmemomenten, in denen uns die Welt unerwartet entgegenkommt“.

Die ästhetische Erfahrung sei ein „Sonderfall unseres Weltkontakts“, denn sie zeige uns die Welt so, wie wir sie vorher noch nie gesehen haben, so Bubner weiter.

Wir haben es bei der Kunst – und so auch beim Theater – also mit einem Paradox zu tun: Sie gründet ganz bewusst nicht auf Wahrheit und nicht auf Authentizität, sondern auf einem „So-Tun-Als-Ob“, das keine Lüge ist. Genau deshalb kann Kunst uns in vielen Ausnahmemomenten der Wahrheit näher bringen.

Und zwar gleich zweifach: Zunächst durch die unmittelbare, individuelle und emotionale Erfahrung des Werks und dann noch einmal im nachfolgenden Gespräch über das Erlebte – zum Beispiel in der Pause im Theaterfoyer. In diesen Momenten zeigt sich, dass die Wahrheit zwar oft schon in den Dingen liegt, aber doch gemeinsam entdeckt werden will.

Wer sich dem Wagnis freier Kunst aussetzt, stößt immer wieder auf Erkenntnisse und Einsichten, die irritieren oder inspirieren – in jedem Fall aber das eigene Leben bereichern.

Dieser scheinbar umstandslos direkte Weg zur Wahrheit über die demonstrative Verstellung bedarf unserer Wachsamkeit und unseres Schutzes. 

Denn die Kategorie der Wahrheit ist unter Druck geraten. Von allen Seiten. Gleichzeitig. Die Bedrohung der Wahrheit scheint allgegenwärtig.

Und das nicht bloß in den USA, wo ein Präsident von alternativen Fakten schwadronieren lässt und öffentlich als Wahrheit behauptet, was ihm so gerade durch den Kopf geht…

Wir leben auch in unserem Land in Zeiten, in denen Journalisten, die sich aufmerksam und sorgfältig daran machen, Zusammenhänge herzustellen und damit der Wahrheit auf die Spur zu kommen, als „Lügenpresse“ beschimpft werden.

Wir leben in Zeiten, in denen gezielt sogenannte „Fake-News“ produziert und verbreitet werden, um Wahlen zu manipulieren oder das öffentliche Meinungsklima zu vergiften.

Wir leben in Zeiten, in denen anscheinend jeder ungefiltert und anonym im Netz alles behaupten kann, was ihm gerade in den Sinn kommt, um Angst, Wut oder Hass zu schüren.

Die Freiheit der individuellen Behauptung ist ins Unermessliche gestiegen. Aber offensichtlich schaffen wir es immer seltener, aus der Vielheit dieser Stimmen die Vernunft einer modernen Gesellschaft heraus zu hören oder heraus zu destillieren.

Die Befreiung des Einzelnen durch das Anerkenntnis seiner individuellen Perspektive und Narration markiert zunächst einen emanzipatorischen Fortschritt. Wenn sie aber mit Machtkalkül strategisch missbraucht wird, kann sie auch zum Verlust eines gemeinsamen Weltverständnisses führen. Die unterschiedlichen Konstruktionen der Wirklichkeit werden dann ratlos, gleichgültig oder aggressiv nebeneinander vertreten. 

Wie wir damit heute umgehen, ist eine entscheidende Weggabelung in der Entwicklung der Aufklärung.

Denn natürlich bleibt es ein immenser Freiheitsgewinn, dass die Wahrheit nicht mehr festgefügt ist, sondern zum Tanzen gebracht werden kann.

Dass jede Bürgerin und jeder Bürger ihre Sicht der Dinge öffentlich äußern und verbreiten kann, ohne Filter und Bevormundung. Die technischen Möglichkeiten unserer Zeit erleichtern die Einzigartigkeit eines jeden von uns.

Zugleich aber zerbricht etwas, wenn wir uns nicht darum bemühen, auch das Gemeinsame, das Wahre zu bestimmen – mit Blick auf die conditio humana genauso wie mit Blick auf die Werte und Regeln unseres Zusammenlebens.

Denn natürlich löst sich unsere Welt nicht auf in der begrüßenswerten Vielfalt unterschiedlicher Sichtweisen, Meinungen und Absichten. Sie entsteht vielmehr erst, wenn wir diese Vielfalt leben und auf ihrer Grundlage das uns Verbindende bestimmen. Dazu brauchen wir jene Stories, von denen Simon Stephens gesprochen hat, jene Narrative, die aus den vielen Einzelheiten etwas formen, das die Überzeugung, die Emotion und den Sinn hat, gemeinsam die Wahrheit für uns alle erzählbar machen. 

Zusammenhang und Zusammenhalt unserer Gesellschaft lassen sich nicht mehr aus traditionellen Strukturen ableiten. Diese Freiheit hat uns die Moderne gebracht – und sie verbunden mit der Aufgabe, neue Prozesse zu entwickeln, auf denen wir dennoch Kohärenz und Kohäsion sicherstellen können.

Es scheint im Augenblick oft so, als hätten wir die Instrumente vergessen, die wir bereits vor Jahrzehnten entwickelt haben, um diese Aufgabe in demokratischen Gesellschaften zu bewältigen.

Derzeit reagieren nicht wenige auf die vollständige Befreiung des Einzelnen aus der Tradition, indem sie die Rückkehr in die gewachsene Gemeinschaft – in eine muffige Heimat oder eine enge Nation – erzwingen wollen.

Das aber wäre das Ende der Freiheit, wie wir sie kennen. Das Ende auch jenes fortschrittsfröhlichen Projekts einer Republik Europa, das gestern auch vom Balkon dieses Hauses ausgerufen wurde.

Wir stehen deshalb vor der Aufgabe, den bisweilen anstrengenden Weg zur Freiheit weitergehen, um aus der Freiheit der Einzelnen zur Freiheit in der Gemeinschaft zu finden.

Dieser Weg führt durch gesellschaftliche Räume. Unsere Kultureinrichtungen und insbesondere unsere Theater sind solche Räume der Freiheit, des riskanten, des spekulativen Denkens. Sie sind Orte der vielleicht größten Freiheit des Menschen – Orte des Spiels!

Hier hat die Vernunft kein Geländer und die Zustände lassen ihre Zwänge hinter sich.

Hier befreit sich die Freiheit zum Gegenstand gemeinsamen Erlebens, wenn wir Wahrheiten entdecken, die wir nicht gesucht haben, auf Wegen, von deren Existenz wir nichts wussten.

Hier schillert die Magie der Erkenntnis jenseits von Lüge und Wahrheit in allen Facetten – und liefert uns, was wir brauchen, um in gesellschaftlichen Debatten Sinn und Orientierung und einen Konsens über Wahrheit entwickeln zu können.

Hier kann Wahrheit so bedrohlich werden, dass sie die Welt verändert.

Alle diese Potenziale aber realisieren sich nur, wenn wir überzeugbar bleiben und bereit sind uns zu verständigen. Dass wir dazu befähigt sind, haben wir bewiesen. Kunst ruft uns in Erinnerung, diese Fähigkeit auch zu nutzen, weil sie niemals gleichgültig ist, sondern immer symbolisch aufgeladen.

„Die Kunst ist frei, weil sie etwas bedeutet“, schreibt Hanno Rauterberg in seinem aktuellen Essay „Wie frei ist die Kunst?“. Und er fährt fort: „Was diese Bedeutung ausmacht und worin also die Freiheit gründet, musste in der Moderne immer wieder ausgehandelt werden und wird nun, in der Digitalmoderne auf denkbar grundsätzliche Weise in Zweifel gezogen. Es ist ein Zweifel am Wert der Freiheit, und er macht aus dem Streit um die Kunst einen gesellschaftlichen Konflikt.“

Dieser gesellschaftliche Diskurs über die Aufgabe der Kunst nimmt derzeit an Intensität zu. Gerade deshalb müssen wir die Freiheit der Kunst – die ja nicht nur eine Freiheit von, sondern vor allem eine Freiheit zu etwas ist – stärken.

Die vorgestern auch in Hamburg und auch vom Thalia Theater vorgestellte „Erklärung der Vielen“ zeugt vom Widerstandbewusstsein einer Kunst, für deren Freiheit wir als Gesellschaft Verantwortung tragen. 

Die Freiheit der Kunst ist immer auch ein Gradmesser der Freiheit einer Gesellschaft. Wenn solche Aktionen notwendig werden, dann muss uns das beunruhigen… 

Denn es gibt rechtspopulistische Kräfte in unserer Gesellschaft, die versuchen, eine Art Kulturkampf zu initiieren, indem sie progressive und unbequeme Kulturprojekte, Festivals oder Einrichtungen diskreditieren und attackieren. Meist laufen diese Versuche der Einschüchterung ins Leere, weil der Konsens der Freiheit stabil ist. Aber wir müssen wachsam bleiben.

Wenn wir Kunst aus Angst vor Auseinandersetzung verhindern – wie jüngst im Bauhaus Dessau oder bei der Wiesbadener Biennale, dann schränken wir nicht nur Freiheit ein, sondern erschweren uns gesellschaftlich auch den Weg zur Wahrheit.

Produktion und Rezeption von Kunst können schließlich immer nur so frei sein, wie es ihre Produzenten und Rezipienten sind. Das betrifft uns alle. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

Kunst ist niemals nur Erbauung. Kunst testet und überschreitet Grenzen. Kunst geht auch dahin, wo es wehtut und wo sie uns wehtun kann.

Wir alle stehen in der Verantwortung, diese Freiheit zu sichern und beherzt zu nutzen. Wir müssen die Rahmenbedingungen freier Kunst deshalb auch gesellschaftlich und politisch sichern, damit das Unbequeme, das Streitbare und das Kritische möglich bleiben.

Meine Damen und Herren,

das Thalia Theater beweist uns seit 175 Jahren, dass es seine Freiheit nutzt. Das Thalia Theater steht heute: 

• für erstklassiges Sprechtheater, 

• für faszinierende Regiehandschriften mit einen intensiven Zugriff auf ältere und neue Stoffe,

• für ein starkes Ensemble, dessen Spielerinnen und Spieler einander in fulminanten Spielweisen immer wieder gekonnt die Bälle zuwerfen

• und es steht für ein Theater, das – wie so viele Hamburger Kultureinrichtungen – von einem Bürger der Stadt gegründet wurde und sich mit seinen Themen bis heute aktiv in die Bürgergesellschaft einmischt.

Das Motto für die Jubiläumswoche lautete „175 Jahre Gegenwart.“ 

Das Thalia Theater wird diesem Anspruch, gegenwärtige gesellschaftliche Themen zu verhandeln, seit seiner Gründung mehr als gerecht. Jedes Mittel der Aufklärung – von der Komödie bis zur Tragödie – ist ihm recht.

Denken Sie an die berauschenden fünfeinhalb Stunden in „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili in der Inszenierung von Jette Steckel, die ein ganzes Jahrhundert eines geschundenen aber stolzen Landes wieder erstehen lassen.

Oder denken Sie an die zärtlich stumme Poesie des „Orpheus“ von Antú Romero Nunes, die in großen Bildern auch vom Schrecken der Sprachlosigkeit erzählt.

Oder an Stefan Puchers Annäherung an „Hexenjagd“, deren Stärke – genauso übrigens wie die der Inszenierung „The Fountainhead“ von Johan Simons – darin besteht, eine zeitlose Parabel eben nicht ins Jetzt zu holen, sondern die historischen Parallelen unserem Transfer zu überlassen und damit umso schroffer zur Geltung zu bringen.

Oder an Barbara Nüsses Prospero in Shakespeares „Sturm“, der mit Songs von Kate Tempest und Leonard Cohen ganz bewusst ins erratisch melancholische 21. Jahrhundert gerissen wird, um dort umher zu irren.

Eine Leistung, für die die Hauptdarstellerin am vergangenen Wochenende völlig zu Recht mit dem Faust ausgezeichnet wurde. Meinen herzlichen Glückwunsch, liebe Barbara Nüsse!

Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen, aber Sie alle wissen ja längst: Vom Spiel bis zum Diskurs reichen die Schattierungen der Angebote an Hirn und Herz, die im Spielplan des Thalia Theaters gemacht werden – hier im Großen Saal genauso wie an der Gaußstraße.

Im Theater Kunst zu erleben, bedeutet oftmals unverhoffte Glücksmomente. Und was kann es Schöneres geben, als in einem Raum der Freiheit beglückt ein Körnchen Wahrheit aufzuheben.

Im Prolog von Goethes Faust heißt es:

„Ich hatte nichts und doch genug: Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.“

In diesem Sinne wünsche ich dem Thalia Theater weitere 175 Jahre wundervolles Theater und Ihnen, liebe Gäste, viele Anregungen für Hirn und Herz.

Und die notwendige Wachsamkeit dafür, die Räume der Kultur nicht nur zu erhalten, sondern zu öffnen, zu erweitern und mit Leben zu füllen.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Joachim Lux, lieber Tom Till, liebes Ensemble, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

„It takes a village to raise a child…“, lautet ein Sprichwort. Und es braucht auch ein Dorf, eine Kommune, eine Gemeinschaft, um Theater zu machen. Wir alle sind Ihnen dankbar, dass Sie alle sich jeden Tag aufs Neue der Freiheit verpflichtet fühlen, zu dieser Gemeinschaft zusammenzufinden.

Ich erlaube mir daher einige Wünsche an Sie zum Geburtstag: 

Vermehren Sie unsere Eindrücke, betören und verwirren Sie uns. 

Nehmen Sie keine Rücksicht, sondern schauen Sie voraus, in eine wilde, eine offene, eine bunte Zukunft – in einer freien Gesellschaft.

Und vergessen wir alle nie: Die Wahrheit kann magisch sein. Gerade dann, wenn Sie uns plötzlich unerkannt und verkleidet im Spiel gegenüber tritt. Dann wird die Bedrohung der Wahrheit zum aufklärerischen Erkennen der Welt und ihrer Umstände und verdichtet sie in einer Erzählung, die wir gemeinsam nach draußen tragen können.

Schönen Dank.

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