Banner Kulturstadt Hamburg
Leichte Sprache
Gebärden­sprache
Ich wünsche eine Übersetzung in:

13. September 2019 Festveranstaltung „30 Jahre Literaturhaus“

Leichte Sprache
Gebärden­sprache
Ich wünsche eine Übersetzung in:

Grußwort des Senators Dr. Carsten Brosda

Festveranstaltung „30 Jahre Literaturhaus“

Sehr geehrte Frau Görres-Ohde,
sehr geehrter Herr Professor Göring,
lieber Herr Professor Moritz,
liebes Ehepaar Lübbert,
liebes Team des Literaturhauses,
sehr verehrte Gäste!

„Schon vier Wochen vor der Veranstaltung hatte sie sich die Eintrittskarte gekauft. Solche Lesungen waren immer gut besucht. Die Leute drängten herbei und hinein (...), weitere Stühle wurden angeschleppt. Die meisten Zuhörer waren Zuhörerinnen. 
Der gesamte Literaturbetrieb, dachte sie, wäre längst zusammengebrochen, hätte man Frauen nicht das Lesen beigebracht. (...) An der Fensterseite des Saales entdeckte sie einen Platz für sich. Es war ein recht guter Platz, nicht zu nahe an dem kleinen Podium, und doch würde sie über die vielen Köpfe der Leute hinweg den Autor von hier aus bequem sehen können.“ 

In Viola Roggenkamps Roman „Die Frau im Turm“ beschreibt die Protagonistin einen gewöhnlichen Lesungsabend im Literaturhaus Hamburg. Doch welcher Abend ist hier schon gewöhnlich?

Viele von Ihnen, die heute Abend mit dem Literaturhaus seinen 30. Geburtstag feiern, sind vermutlich Stammgäste oder auch eines der rund 700 Vereinsmitglieder. 
Sie haben möglicherweise miterlebt, wie Harry Rowohlt unbeirrt weiterlas, auch als der Zeiger der Uhr Mitternacht längst hinter sich gelassen hatte. 
Sie waren dabei, als Buchhändler Samtleben bei einer besonders blutigen Stelle in Matthias Polityckis Roman „Herr der Hörner“ hinter dem Büchertisch in Ohnmacht fiel. 
Sie haben Karl Ove Knausgård hier erlebt, kurz bevor der Hype um seine Bücher begann. Salman Rushdie mit sechs Personenschützern im Saal. Judith Hermann, die zwei Mal nacheinander las, damit alle Fans sie erleben konnten. 
Sie sind gekommen, wenn A. L. Kennedy, Martin Walser, Colson Whitehead, Friedrich Christian Delius oder Judith Schalansky ihre neuen Romane vorgestellt haben. 
Sie haben großen Denkerinnen und Denker im Philosophischen Café gelauscht und mit ihnen diskutiert: Richard Rorty, Elisabeth Bronfen, Richard Sennett, Ulrich Beck, Carolin Emcke. 
Sie waren dabei, wenn Literaturnobelpreisträger wie Toni Morrison, José Saramago oder Kenzaburō Ōe gelesen haben. 
Es könnte sein, dass Sie auch mal zu spät dran waren und dann mit einem Steh- oder Fußboden- oder Fensterbrettplatz vorlieb nehmen mussten. 
Oder Sie haben im Lesezimmer einer Übertragung gelauscht, weil im Saal gar nichts mehr ging. Was tut man nicht alles, um den berühmten Autor, die hervorragend besprochene Autorin einmal live zu hören? 
Vielleicht haben Sie aber auch das Gegenteil erlebt und hatten eine Karte, als Daniel Kehlmann 2003 vor gerade einmal 15 Zuhörerinnen und Zuhörer seinen Roman „Ich und Kaminski“ vorstellte. An einem warmen Juniabend, im ersten Stock, wo damals noch die seltenen, nicht ausverkauften Lesungen abgehalten wurden. Nur zwei Jahre später veröffentlichte Kehlmann „Die Vermessung der Welt“, und das Literaturhaus mit seinen 150 Plätzen war plötzlich viel zu klein für eine Kehlmann-Lesung.

Was ist das Besondere am Literaturhaus? 

Was macht den Reiz aus, sich mehrere Male im Jahr oder im Monat oder gar in der Woche auf den verkehrstechnisch nicht eben komfortablen Weg – von der Parkplatzsituation ganz zu schweigen – zum Schwanenwik 38 zu machen? Um einen der mittelbequemen Stühle zu erhaschen, die dicht an dicht stehen und bei mitunter bedenklichen Luftverhältnissen – zumindest bis zum vorigen Sommer – Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu erleben, deren Werke man ja auch gut und gerne gemütlich auf dem Sofa lesen könnte?

Für meine Vorgängerin Barbara Kisseler war das Literaturhaus die kulturelle Entdeckung, als sie 2011 als Kultursenatorin in Hamburg anfing. Auch ich freue mich immer, wenn in meinem dicht gefüllten Kalender ein Termin im Literaturhaus steht. Ich bin sehr gerne hier. Und das sage ich nicht, damit mir Herr Moritz im Februar wieder einen der begehrten Termine überlässt, um mit ihm über Schlager und Countrymusik zu debattieren. 
Im Literaturhaus trifft man auf Gleichgesinnte. Wer hier herkommt, hat den Wunsch, sich kulturell zu bilden, möchte in Diskurse einsteigen, will wissen und verstehen. 

Lassen Sie es mich mit Klopstock sagen:

„Sie standen dicht um mich herum. Ich las, und ich sah nicht wenige Thränen. Ich las fast den ganzen fünften Gesang. Sie verstünden alles, alles, sagten sie; vorher hätten sie nicht alles verstanden.“

Wer die Verfasserinnen und Verfasser von Literatur trifft, das wusste schon der alte Klopstock, setzt sich anders mit einem Text und mit der Wirklichkeit auseinander als zuvor. Literarische Orte laden immer auch zur Debatte ein: unaufgeregt, engagiert und vorwärtsdenkend. Solche Orte brauchen wir, gerade heute. 

Deshalb finde ich es gut und angemessen, dass heute nicht nur gefeiert, sondern auch inhaltlich diskutiert wird und freue mich auf das Gespräch zwischen Ines Geipel, Ulrich Greiner und Georg Mascolo. 

Jedoch mischt sich unter die festliche Stimmung auch Trauer: Wir vermissen Michael Jürgs, der heute Abend als Moderator auf dieser Bühne hätte sitzen sollen. Wie Sie wissen, hat der große Journalist, der ehrenamtlich viele Jahre lang ein engagiertes Vorstandsmitglied des Literaturhaus-Vereins war, im Juli den Kampf gegen den Krebs verloren. 

In einem seiner letzten großen Artikel, sozusagen seinem Vermächtnis mit dem typisch Jürgs’schen Titel „Deadline“, hat er, der den gesellschaftlichen Entwicklungen mit progressivem Pessimismus und nachdenklicher Ironie begegnete, geschrieben: 

„Rückblickend bleibt der Trost, wie oft letztlich das freie, gedruckte Wort siegte. Gegen riesige Armeen von Millionen Wörtern, die überall auf der Welt lauerten, hatten Despoten und Völkerschlächter dann eben doch keine adäquaten Waffen.” 

So war Michael Jürgs, zugewandt und zupackend, wenn andere längst aufgegeben hatten. Ich habe viel von ihm gelernt – bis zuletzt aus den Emails, die unaufgefordert und immer willkommen im Posteingang landeten.

Wer nun aber genau damals in den achtziger Jahren tatsächlich zum ersten Mal gesagt hat, dass Hamburg ein Literaturhaus brauche, wird sich auch in den nächsten 30 Jahren nicht klären lassen. 

Wie es so typisch ist für unsere Stadt, handelte es sich wohl um ein Gemeinschaftswerk zwischen Bürgertum, Kultur und Politik: Mein Vor-Vor-Vor-Vor-Vor-Vor-Gänger Ingo von Münch konnte damals gemeinsam mit einigen Literaturbesessenen – darunter der unvergessene Buchhändler Wilfried Weber – den Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi von der Literaturhaus-Idee überzeugen. 
Die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius hatte gerade die wunderschöne, aber durch die jahrzehntelange Nutzung als „Schutzhaftstelle für gefährdete weibliche Jugendliche“ ziemlich heruntergekommene Villa Schwanenwik 38 gekauft. Sie wurde dann mit städtischen und privaten Mitteln saniert, vor allem dank des großen Literaturliebhabers und Mäzens Eddy Lübbert aus Bremerhaven. 

Insofern war die Verbindung der Stadt Hamburg zum Literaturhaus immer eine enge, und ich bin sehr froh, dass wir es mit dem aktuellen Haushalt geschafft haben, auch die Fördersumme für das Literaturhaus vernünftig anzupassen.

Christina Weiss war die erste Programmleiterin, bevor sie zwei Jahre später Kultursenatorin wurde. 
Ihr folgte Ursula Keller, die das Haus bis 2004 mit ihrer charakteristischen Handschrift und einem anspruchsvollen Programm leitete. 
Rainer Moritz übernahm 2005 die Geschicke am Schwanenwik und führt das Haus seither mit literarischer Spürnase, großer Kenntnis und einem Lachen, das das alte Gemäuer regelmäßig zum Wackeln bringt. 

Doch vergessen wir nicht zwei, die heute ebenfalls allen Grund zum Feiern haben: Seit Gründung des Literaturhauses führt Stephan Samtleben hier seine wunderbare Buchhandlung – und hat wahrscheinlich mehr Lesungen erlebt als irgendjemand sonst hier im Saal. Kaum jemand, der sich mit dem kundigen Buchhändler ins Gespräch begibt, verlässt die Buchhandlung, ohne mindestens ein Buch gekauft oder bestellt zu haben. 
Und auch Heidemarie Ott vom Literaturzentrum ist seit 1989 dabei. Auch diesen beiden, ohne die das Literaturhaus nicht das Literaturhaus wäre, die herzlichsten Glückwünsche zum 30. Geburtstag! 

Wie kreiert man nun also die „ideale Lesung“? 
Reicht ein Mikrofon, ein Publikum, ein Glas Wasser und ein Moderator, der zumindest das aktuelle Buch des Gastes bis zu Ende gelesen hat? 

Am besten fragt man die Schriftsteller selbst: 

„Nach der Veranstaltung ist Ernst Jandl dem geselligen Beisammensein in kleinem Kreis sehr aufgeschlossen. Eine Tischreservierung in einem gutbürgerlichen Lokal ist dem Autor willkommen. Bitte fragen Sie aber vorher nach, wann die Küche schließt, da Sie unter Umständen erst gegen 23 Uhr im Lokal sein werden.“

Wünsche, wie denen von Ernst Jandl höchstpersönlich aufgesetzten, der natürlich auch am Schwanenwik zu Gast war, begegnet das Literaturhaus-Team mit offenen Ohren und lächelnden Gesichtern. Da werden wahlweise Personenschützer oder Babysitter geordert, Knöpfe angenäht oder Diätwünsche berücksichtigt. 

Im Hintergrund arbeitet eine verlässliche, fürsorgliche und fröhliche Crew, um den Autoren und Autorinnen und Ihnen, dem Publikum, den besten aller Literaturhausabende zu verschaffen: Saskia Seifert, Isabell Köster, Tina Matthies, Carolin Löher, Georg Schwarz, Stefan Thölen und die freien Mitarbeiterinnen Katrin Weiland, Jelena Mirkovic, Julia Freienberg und Güde Sievertsen. Ihnen allen, die das Literaturhaus Tag für Tag am Laufen halten, gebührt unsere Dankbarkeit – und ein Applaus.

Liebe Literaturhäuslerinnen und liebe Literaturhäusler, 

im Namen des Senats der Freien und Hansestadt gratuliere ich Ihnen und uns allen zum 30-jährigen Bestehen dieses wunderbaren Ortes der Literatur und des Lesens und freue mich auf anregende Abende unter der wohlwollenden Aufsicht der Engelschar. 

Denn so kann ja eigentlich nichts schiefgehen…

Vielen Dank.

Themenübersicht auf hamburg.de

Anzeige
Branchenbuch