Sehr geehrter Herr Professor Köttering,
sehr geehrte Frau Deuflhard,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
zunächst einmal bedanke ich mich bei meinem Vorredner Herrn Köttering für die beeindruckende Exegese des Wandfrieses „Die ewige Welle“ von Willy von Beckerath, das die fortwährende Gesetzmäßigkeit von Natur und Kosmos symbolisiert und das Sie, lieber Herr Köttering, als Sinnbild der wellenhaften Auf- und Abstiegsbewegung der Moderne interpretiert haben.
Tatsächlich ist der Glaube an die Idee einer natürlichen und gleichwohl wellenartigen Aufstiegsbewegung noch nicht allzu lange her. Wir glaubten den geschichtsphilosophischen Annahmen, die unterstellten, es gäbe eine natürliche Abfolge, die schon Hegel und Marx proklamiert hatten und man wisse, ganz gleich, was zwischendurch passiert, am Ende bewege sich alles auf einen bestimmten Zustand hin. Wir müssten demnach also nur lange genug warten und zwischendurch gemeinsam vereinbaren, ob wir entweder die Verhältnisse lediglich ein bisschen besser machen oder ob wir eine schnelle Zuspitzung erreichen wollen, damit sich der angestrebte Zustand schneller einstellt. Diese Auseinandersetzung war insbesondere im linken politischen Spektrum vorherrschend.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wurde mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer dann klar, dass diese Auffassung nicht stimmt, sondern wir immer wieder aufs Neue aushandeln müssen, auf Grundlage welcher Werte und welcher Vorstellungen wir unser gesellschaftliches Miteinander organisieren wollen.
Wir haben gelernt, dass nichts ohne unser Handeln zwangsläufig in eine bestimmte Richtung steuert, und, dass als selbstverständlich geglaubte Errungenschaften zu verschwinden drohen, wenn wir nachlässig werden.
Und genau das erleben wir aktuell. Wir sind nachlässig geworden und müssen feststellen, dass fundamentale Fragen wieder auf der Tagesordnung stehen.
Ich bin ausdrücklich dankbar dafür, dass gerade die Kultureinrichtungen und die Künste Impulse setzen und an unser gemeinsames gesellschaftliches Engagement appellieren.
Sie machen vor, dass wir die Fundamente, auf denen wir unser gesellschaftliches Miteinander organisieren wollen, gemeinsam verteidigen müssen. Wir müssen gemeinsam in der Lage sein, auf Grundlage der Freiheit und der Vorstellung von Vielfalt miteinander zu leben. Und wir müssen dafür streiten, dass wir dies mit möglichst vielen gemeinsam erreichen können, wissend, dass wir möglicherweise mitunter auch als Avantgarde-Bewegung wahrgenommen werden.
Mein herzlicher Dank geht an das Engagement, das seit einem Jahr in den Vielen steckt und das an vielen Orten in unserer Republik – und ganz besonders auch von Beginn an hier in Hamburg – deutlich zu vernehmen ist.
Das betone ich nicht nur als Politiker, der einen solchen Solidarisierungseffekt innerhalb der kulturellen Landschaft begrüßt, sondern auch als ein Mitunterzeichner der VIELEN, allerdings der Berliner Erklärung der Vielen. Das hat den Hintergrund, dass ich auch Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie bin und wir im Bund die Erklärung der Vielen in Berlin unterzeichnet haben, da wir dort ressortieren.
Die Formulierung, unter der die heutige Veranstaltung steht, hat es in sich: „Zusammen:Haltung“. Aktuell sprechen wir viel über den Begriff „Haltung“, aber ich habe mitunter das Gefühl, wir seien beinahe an einem Punkt angelangt, an dem wir uns in unserer Haltung sehr verengen; so sehr, dass wir nicht mehr in der Lage sind, miteinander darüber zu diskutieren, wie wir das notwendige gesellschaftliche Wertefundament für das Ausleben von Vielfalt, Freiheit und Offenheit in unserer Gesellschaft, gemeinsam verhandeln können.
Zweifelsohne ist es immer leichter, sich mit denjenigen zu verständigen, mit denen man sich bereits einig ist. Schwieriger wird es mit denjenigen, mit denen man sich uneinig ist. Aber diesen Dialog müssen wir führen und noch stärker ausbauen. Das Ziel muss sein, die gesellschaftliche Zustimmung zu der Vorstellung, wie wir uns Gesellschaft wünschen, zu verbreitern. Dabei müssen wir einen Grundkonsens, der einen Großteil der Gesellschaft umfasst, schaffen und bestärken.
Bei der Frage danach, wie das erreicht werden kann, komme ich immer wieder auf den Sozialphilosophen Jürgen Habermas zurück. Er sagte einmal, die Einheit der Vernunft liege in der Vielheit ihrer Stimmen. Das ist eine Grundhaltung, die wir uns in unserer Gesellschaft wieder vor Augen führen müssen und die auch die Vielen in ihrem Ansatz markieren. Es gibt nicht die eine Wahrheit und ebenso wenig die Logik von Natur und Kosmos, die noch vor hundert Jahren unterstellt worden ist.
Es liegt in unserer Hand, uns gemeinsam darauf zu verständigen und miteinander auszuhandeln, wie wir leben wollen. Dabei kann nur das, was wir gemeinsam akzeptieren, oder das, was wir mehrheitlich unterstellen können, am Ende auch Gültigkeit beanspruchen.
Kultureinrichtungen sind Orte, an denen gerade solche Fragen diskutiert und debattiert, ausgetestet und unmittelbar mimetisch gelebt werden.
Es ist daher wesentlich, die Freiheit dieser Orte unbedingt sicherzustellen. Das ist auch insofern notwendig, da wir aktuell feststellen, dass diejenigen, die eine andere Vorstellung von Gesellschaft vertreten, eine andere Vorstellung vom Umgang mit der Vielfalt hegen. Dem rechten Spektrum, das sich gerade an die gesellschaftliche Mitte heranarbeitet, geht es nicht darum, miteinander in der gemeinsamen Vielfalt zu leben, sondern nebeneinander in einer segmentierten Vielfalt. Hier werden Kulturen definiert, die – im Sinne eines neurechten Ethnopluralismus – gleichberechtigt nebeneinander existieren. Auf keinen Fall dürfen sie aber vermischt werden, da jede Kultur nach dieser Vorstellung nur, wenn sie in sich geschlossen sei, für sich selbst vernünftig sein könne. Kulturen sind dieser Auffassung nach wie Billardkugeln: Sie geraten mit anderen Kulturen nur im Modus des Aufeinanderprallens und der Abstoßung aneinander, ohne miteinander in einen Austausch zu geraten.
Für die Kultur bedeutet ein solches Bild letztlich eine Überführung in den Zustand der Natur. Genauso wie einst Rassismus für die Trennung von Menschen genutzt wurde, wird jetzt perfide qua kultureller Differenz getrennt. Die Folge: Offene Orte, wie Kultureinrichtungen, an denen deutlich wird, dass eine solche Naturalisierung der Kultur nicht zutrifft, werden von rechts angegriffen. Und dagegen müssen wir uns gemeinsam einsetzen.
Wir müssen als Gesellschaft und auch insbesondere als Staat dafür sorgen, dass die „Außenhäute“ von Kultureinrichtungen einerseits durchlässig für die Gesellschaft und andererseits so standhaft bleiben, dass sie die Freiheit im Innern dieser Institutionen sicherstellen. Nur so verhindern wir, dass nicht das eintritt, was aktuell versucht wird: programmatisch zu verengen.
Es gilt, die Offenheit und das Unbedingte immer wieder neu aus der Vielheit der Stimmen auszuhandeln, aus der heraus auch Kulturproduktion organisiert wird. Wenn wir anfangen, auch nur die ersten kleinen Bestandteile dieses anderen Diskurses aufzunehmen, gleiten wir schnell in eine andere Vorstellung von Kunst und Kultur, in der Fragen aufkommen, wie zum Beispiel: „Wie häufig haben sie denn Schiller auf dem Spielplan?“ Oder: „Wie viele Ensemblemitglieder ihres Opernhauses stammen denn nicht aus Deutschland, sondern kommen aus der ganzen Welt?“
Das sind Fragen, die maßgeblich über die AfD in den deutschen Landtagen an die Kulturverwaltungen gestellt werden.
Die Idee einer sogenannten Leitkultur ist nicht neu, findet aber aktuell mehr Resonanz, als noch vor zehn bis zwanzig Jahren. Es gab immer wieder den Versuch aus dem rechten Spektrum Einfluss in die öffentliche und kulturelle Debatte zu nehmen. Entscheidend ist, das dies aktuell zusammenfällt mit einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen in der Gesellschaft verloren fühlen.
Es fällt uns zunehmend schwerer, aus der Freiheit, die wir geschaffen haben, ein Gemeinschaftsbewusstsein zu entwickeln. Wir können uns beispielsweise in den sozialen Medien, in einer Art und Weise öffentlich äußern, wie nie zuvor. Wir können unsere eigene kulturelle Selbstbestimmung in einer Art und Weise im Alltag ausleben, wie wir es wahrscheinlich nie zuvor konnten, ohne dass wir von vornherein angefeindet werden.
Aber diese Freiheiten werden nicht von allen mit offenen Armen empfangen. So gibt es jene, die mit der neu gewonnenen Freiheit überfordert sind, sich nicht mehr zugehörig fühlen und sich fragen, wo sie sinnhaft Teil einer Gemeinschaft sein können, die ihnen das Gefühl gibt, geborgen zu sein.
In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Zusammen:Haltung“ so wichtig. Er impliziert Zusammenhalt und die Frage danach, wie es uns gelingen kann, dafür zu sorgen, dass unsere Gesellschaft sich nicht in ihre Einzelteile zerlegt und jeder nur noch für sich seine Freiheiten genießt. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir es schaffen, aus dem Bewusstsein von Freiheit, Vielfalt und Offenheit heraus wieder Zusammenhalt zu schaffen.
Gerade kulturelle Einrichtungen können hier einen ganz wesentlichen Beitrag leisten. Hier kommen Menschen ohne Programmatik und ohne Zweckbindung zusammen. Hier werden Räume geöffnet für mögliche Irritationen und für Möglichkeiten sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Das brauchen wir wahrscheinlich dringender denn je und deswegen brauchen wir auch die Solidarität dieser Räume, in denen das Miteinander verhandelt werden kann, dringender denn je.
Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass es so viele gibt, die sich dafür engagieren, dass wir diese Freiheit der Kunst in ihrer Unbedingtheit, in ihrer Zweckfreiheit und deswegen in ihrer Sinnhaftigkeit für unsere Gesellschaft so deutlich, so klar und so eindringlich verteidigen.
Ohne Frage ist es ein Krisenfanal für unsere Gesellschaft, dass so etwas wie die Erklärung der Vielen und der Verein Die Vielen e.V. überhaupt notwendig sind, denn eigentlich müssten wir alle die Gewissheit haben, dass wir uns nicht wechselseitig der Solidarität versichern müssen.
Andererseits zeigt das Engagement der Vielen aber, dass die Mechanismen einer Solidarität auch horizontal untereinander noch funktionieren und das Bewusstsein dafür, dass man sich gemeinsam Ziele setzt, durchaus noch vorhanden und aktivierbar ist. Und das macht mich zuversichtlich, dass es keine vorgefertigten Wellenbewegungen geben wird, die wir nehmen müssen, sondern, dass wir tatsächlich in der Lage sind, das Miteinander gemeinsam zu vereinbaren und zu erreichen.
Ich fühle mich gerade dieser Tage wieder häufig an den Film „Pride“ erinnert, mit dem vor fünf Jahren das Hamburger Filmfest eröffnet wurde – eine Geschichte, die man vor dem heutigen Hintergrund für kaum mehr möglich hält.
In dem Film geht es um ein Bündnis von Homosexuellen aus London, die sich, in den 80er Jahren unter der Regierung Margaret Thatchers, während des großen Streiks der Bergarbeiter in Wales mit den dortigen Bergarbeitern solidarisierten. Aus London gründeten sie eine Gruppe namens „Gays and Lesbians Support the Miners“. Sie veranstalteten Solidaritätskonzerte und fuhren zu den Minenarbeitern in Wales, weil sie erkannten, dass die Arbeiter nach eineinhalb Jahren des Streiks schon lange kein Streikgeld mehr erhielten und am Ende genauso um gesellschaftliche Anerkennung kämpften, wie sie selbst.
Man kann sich aber vorstellen, dass das am Anfang erst einmal kulturell nicht so richtig gut funktioniert, wenn ein Bündnis Londoner Homosexueller eine Waliser Bergarbeitersiedlung aufsucht. Hier treffen die Vorbehalte zwischen Stadt und Land und zwischen den sogenannten „Anywheres“ und „Somewheres“ – also den Kosmopoliten und den Heimatverbundenden – aufeinander. Aber am Ende hat es funktioniert. Und zwar so weit, dass die großen Bergarbeitergewerkschaften zur „Gay Pride Parade“ nach London gefahren sind und sich dort an der Demonstration für die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen in England beteiligt haben.
Das zeigt: Es gibt die Möglichkeit, auch über vermeintliche Grenzen hinweg Solidaritäten in einer Gesellschaft zu aktivieren – auch wenn wir im Alltag manchmal daran zweifeln und glauben, das ginge nicht. Das muss gehen.
Dafür brauchen wir genau so ein Engagement, wie das der Vielen, das wir hier gemeinsam verteidigen. Es geht um die Freiheit, Positionen zu markieren und die Freiheit miteinander zu verhandeln, dass so etwas gemeinsam gelingen kann. Und es geht vor allem um die unbedingte Freiheit der Orte, an denen Kunst und Kultur produziert werden, denn hier kann in der Regel der erste Funke entzündet werden, aus dem heraus solche Prozesse entstehen können. Hier wird eine Gesellschaft daran erinnert, dass sie auf Humanität, Solidarität und dem unbedingten Willen des einzelnen, in Freiheit und Selbstbestimmung leben zu wollen, aufbaut und nicht auf Grundlage der Abwertung von anderen. Wir müssen eine gesellschaftliche Struktur schaffen, in der jeder das Gefühl hat, wirksam in Freiheit leben zu können.
Ich bin allen dankbar, die daran arbeiten und kann Ihnen versichern, dass die Kulturbehörde auch weiterhin die Weichen dafür stellt, dass das auch künftig funktioniert.
Und ich riskiere auch gerne erneut eine Große Anfrage der AfD, auf welcher Rechtsgrundlage ich erklärt hätte, dass ich die Erklärung der Vielen für eine vernünftige und gute Angelegenheit halte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass man in Hamburg als Senat einfach auf den Artikel 5 in unserem Grundgesetz verweisen kann. Hier ist diese Freiheit festgeschrieben – wir müssen sie nur umsetzen.
Machen wir weiter, dann wird das gut ausgehen und wir müssen nicht die ganze Welle nehmen, sondern wir bleiben einfach auf der Krone stehen.
Schönen Dank.