„Moin“ wie man in Hamburg zu sagen pflegt und vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, heute den Einstieg in den zweiten Denkfest-Tag übernehmen zu dürfen und zumindest digital ein paar Gedanken zur „Utopie der Kulturlandschaft in 2030“ mit Ihnen zu teilen.
Aber warum überhaupt Utopie? Wollen wir nicht alle so schnell wie möglich zurück zu all dem, was war, bevor das Virus einschlug?
Ja und nein. Ja, weil wir die sogenannte „alte Normalität“ ja nie komplett ad acta legen wollten, sondern unfreiwillig aus unserem alltäglichen Treiben gezerrt wurden.
Und gleichzeitig nein, weil wir eben auch noch einmal dringlicher vor Augen geführt bekommen haben, dass auch vor Corona nicht alles rosig war, und wir manches jetzt vielleicht auch ganz bewusst anders machen sollten.
Das ist die Voraussetzung dafür, den Zustand der Kultur in 2030 als einen besseren denken zu können.
Denn wie singt derzeit Jan Delay? „Nichts ist so kalt wie der heiße Scheiß von gestern.“
Eine Utopie anstellte einer „Retrotopie“, eine Wortfindung Zygmunt Baumans, wird damit nahezu notwendig. Dem verklärten „Es war einmal“ sollten wir ein waches „Es wird einmal“ entgegensetzen.
Ich bin dankbar für die Aufforderung, genau das heute zu versuchen. Ich will anfangen mit einer im Grunde simplen Strategie, die der Mitbegründer der Computeranimationsfirma Pixar, Edwin Catmull, einst aus der Not heraus nutzte: Nachdem ihm der Versuch, seine linke Hand zu animieren, nicht zufriedenstellend gelang, erstellte Catmull eine Liste und notierte darin die Gründe für sein Scheitern. Daraus wurde für ihn dann eine Art Aufgabenliste, die er abarbeitete, sodass die Unmöglichkeiten ins Gegenteil umgekehrt wurden und Animation mehr als nur möglich wurde.
Für uns bedeutet das zweierlei: Erstens: Wir müssen das kennen und klar beschreiben.
Und zweitens: Wir müssen die Probleme kennen und benennen, die auf dem Weg dahin liegen. Eins alleine reicht nicht.
Und wenn es dann noch um ein so gewaltiges Ziel wie die bessere Kulturlandschaft in 2030 geht, wird es noch komplizierter. Dann reicht es nicht, nur die Sphäre von Kunst und Kultur für sich zu adressieren. Es kann dann nicht nur um ästhetische Fragen gehen, sondern dann müssen wir die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen der Frage mit reflektieren.
Wie wollen wir als Gesellschaft 2030 sein?
Wie gestalten wir den öffentlichen Raum und den gesellschaftlichen Diskurs?
Wie organisieren wir uns politisch?
Und welche Rolle spielen dabei Kunst und Kultur?
Große Fragen, die in einer Viertelstunde nur angerissen werden können.
Ziel jedenfalls ist eine offene Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger, die an freien Kulturorten zusammenkommen, um hier dem Wahren und Wahrhaftigen nachzuspüren. Die Freiheit im Geiste, andere Perspektiven nicht nur anzuerkennen, sondern auch gewillt zu sein, aus Verschiedenheiten Gemeinsinn zu formen, ist dabei Voraussetzung. Sie mindert nicht die Freiheit der Einzelnen, sondern macht ihre Entfaltung erst möglich. Solidarität entsteht künftig nicht aus Ähnlichkeit, sondern aus komplementärer Verschiedenheit. Diese drückt sich auch in einer Ästhetik der Differenz aus.
Warum haben wir dieses Ziel noch nicht erreicht? Welche Punkte stehen auf unserer Liste?
Die Beantwortung dieser Frage ist so groß, dass sich im Rahmen einer solchen Keynote nur unzureichende Schlaglichter darauf werfen lassen, die jedes für sich weitreichender eigener Ausführungen bedürfte. Ich werde mich daher auf einige weder vollständige noch hinreichende Thesen fokussieren, die den Rahmen des Möglichen vielleicht ein bisschen greifbarer machen können.
- Wir haben aktuell Schwierigkeiten damit, Einzigartigkeit und Gemeinsinn, Identität und Solidarität zu vereinen.
- Wir unterhalten uns mehr über Ökonomie als über Sinn.
- An Kulturorten ist noch nicht überall die Vielfalt unserer Gesellschaft spürbar – und erst recht nicht repräsentiert.
- Die Freiheit der Kunst ist zu oft bloß eine plakative Forderung.
- Wir verengen Kultur, indem wir Sparte oder Standort über die eigentliche Essenz stülpen.
- Wir verorten die Verantwortung der Kultur allein in den Händen von Ministerien – und streiten uns dann noch, wo die stehen sollen.
- Unsere sozialen Sicherungssysteme werden den vielfältigen künstlerischen Lebenslagen nur unzureichend gerecht. Fragen der Nachhaltigkeit werden nur unzureichend beantwortet.
Schaffen wir es, die Kurve zu kriegen, werden wir uns 2030 in einer Gesellschaft wiederfinden, die tatsächlich aus den Einschnitten der Pandemie gelernt hat.
Was für eine Gesellschaft werden wir dann vorfinden?
(1) In 2030 diskutieren wir das stets prekäre Verhältnis von Ich und Wir nicht mehr als Alternative, sondern als Komplementarität.
Wir haben erkannt, dass es in modernen Gesellschaften immer darum geht, Einzigartigkeit und Gemeinsinn in Einklang zu. Um mit Adorno zu sprechen, denken wir den Zustand der besseren Gesellschaft als den, in dem wir ohne Angst verschieden sein können. Schon heute zitieren wir das oft, aber biegen dann falsch ab. Denn weder der rechte Rückschritt in harmonisierende Tradition, noch der Schlachtruf „Desintegriert Euch!“ führt in die Moderne. Sondern die vielen Verschiedenen kommen zusammen, um auszuhandeln, welche Voraussetzungen es hat, friedlich verschieden sein zu können.
Kulturorte können Orte sein, an denen sich eine vielfältige Gesellschaft trifft und miteinander ins Gespräch oder durch das ästhetische Spiel ins Grübeln kommt.
(2) Wir kümmern uns um den öffentlichen Raum und begreifen kulturelle Orte als Teil dieses öffentlichen Raums.
Bibliotheken haben sich auf den Weg gemacht, solche dritten Orte zwischen Privatwohnung und Arbeitsplatz zu werden. Die Museen definieren sich neu als Orte zivilgesellschaftlicher Selbstermächtigung.
Und die Theater bauen öffentliche Bühnen, auf denen die Vielfalt unserer Gesellschaft sichtbar und erfahrbar wird. Es sind diese Erfahrungen, des Beieinanderseins ohne feste und vorgeschriebene soziale Rollenzuweisungen, aus denen die Kraft einer kulturell getragenen Bürgergesellschaft wächst.
In 2030 haben wir hoffentlich ein bisschen besser verstanden, dass die Demokratie vor allem ein großes gesellschaftliches Gespräch darüber ist, wie wir miteinander leben wollen. Und dass dieses Gespräch leidet, wenn wir versuchen, es zu verengen und einzelne Stimmen aus der Debatte herauszudrängen, nur weil es anstrengend ist, sich mit ihnen zu einigen – oder noch schlimmer, weil wir annehmen, dass wir uns mit diesen und jenen ohnehin niemals verständigen könnten.
Wir werden die neu eroberten digitalen Räume und Möglichkeiten ganz anders und hoffentlich vor allem kreativer und künstlerischer nutzen. Nicht bloß als weiteren Vertriebs- und Marketingkanal, sondern als immer noch neue künstlerische Möglichkeit, Ästhetiken auszuprobieren, die die Grenzen des Analogen und damit auch die bisherigen Vorstellungen des Öffentlichen hinter sich lassen.
(3) Wir haben die Aufgabe angenommen, die kulturellen Räume auch für alle betretbar zu machen. Endlich gilt: „Kultur für alle“.
Partizipation setzt dabei nicht nur Partizipationschancen voraus, sondern auf der anderen Seite auch immer individuelle Partizipationsbereitschaft. Die Verlusterfahrung der letzten Monate kann hier fruchtbar gemacht werden.
Es wäre naiv, anzunehmen, jetzt nach Corona würden alle mit allen vor der Haustür plaudern, ja sich vielleicht sogar die Zeit nehmen, auf der Grundlage künstlerischer Interventionen konstruktiv miteinander zu streiten, um dann bei einem Glas Wein um einen Kompromiss knobeln.
Aber dennoch wird wohl niemand wiedersprechen, dass der Wunsch nach Austausch und Begegnung vor der Erfahrung der letzten Monate deutlich gestiegen ist. Und das ist eine Chance, die es zu nutzen gilt – gelingt uns das, finden Partizipationschance und -bereitschaft zusammen.
Dann haben auch all die bereits entwickelten Instrumente der Vermittlung, der kulturellen Bildung, des sogenannten Audience Development und der Öffnung der Einrichtungen ihren plausiblen Sinn. Es geht nicht darum, Vermittlerinnen anstelle von Kuratorinnen zu beschäftigen, sondern vielmehr darum, Offenheit und Dialogbereitschaft in jeden Prozessschritt kultureller Arbeit zu integrieren. Kultureinrichtungen sind keine allwissenden Erzähler und Weltdeuter mehr, sondern sie bieten Anlässe der Verständigung – von allen und für alle.
Der Diskurs rund um das Audience Development wird gleichwohl dann ein anderer sein, weil es nicht mehr vordergründig um die Perspektive von der Kunst nach außen geht, - es also nicht mehr um die Frage geht, „wie erreiche ich ein diverses Publikum für meine Kunst und werde inklusiver?“ Außen- und Innenperspektive sind verschränkt und aufeinander bezogen.
Bürgerinnen und Bürger werden verstärkt daran mitwirken, die Orte so mitzugestalten, dass sie das, was ihnen wichtig ist, von innen heraus repräsentieren.
Vielfalt ist nicht nur eine Qualität des Programms und der Zielgruppenansprache, sondern richtet sich als Forderung auch an diejenigen, die das Programm verantworten. Deswegen sind wir heute gefordert, die Wechselwirkungen zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft aktiv zu gestalten. Und zwar so, dass alle im Land über die Ressourcen verfügen, die es braucht, um die Freiheit zur künstlerischen Betätigung auch in Anspruch nehmen zu können.
In 2030 haben wir die Phase hoffentlich hinter uns gelassen, in der wir uns wie derzeit intensiv darum kümmern müssen, dass alle Gruppen und Individuen in der Lage sind, ihre Geschichten und Perspektiven zu Gehör zu bringen.
Dann haben wir die Ressourcen so verteilt, dass alle ihr kulturelles Kapital ins gesellschaftliche Gespräch einbringen können. Und dass alle Kunstfreiheit auch leben und nutzen können.
(4) In 2030 leben wir Kunstfreiheit – ohne Forderungen nach ihrer Einschränkung.
Ganz egal, wie gut gemeint die jeweilige Begründung in der Abwägung auch sein mag. Wir begreifen Kunst als einen Raum, in dem wir eine Ästhetik der Differenz entwickeln können, die uns zum Respekt vor unserer jeweiligen Unterschiedlichkeit befähigt. Kunstwerke sind Kristallisationspunkte unserer Auseinandersetzungen darüber, wie unterschiedlich wir die Welt sehen und empfinden. Sie erlauben uns zutiefst persönliche mimetische Erkenntnisse und treiben uns an, auf dieser Grundlage gemeinsam zu klären, wie wir miteinander leben wollen. Sie dienen keinem Zweck, aber sie geben uns die Chance, nach Sinn zu suchen.
(5) Wir begreifen, dass Kunst in allen Produktionskontexten entstehen kann.
Wir haben die Debatten um die Grenzen zwischen „U“ und „E“, zwischen Populär- und Hochkultur, zwischen Freier Szene und Institutionen, zwischen Kunst- und Kreativwirtschaft hinter uns gelassen.
Wir fördern da, wo Förderung nötig ist und lassen es da, wo sich künstlerische Strategien auch anders realisieren können.
Wir begreifen Kulturpolitik als umfassend für diese Sinn produzierenden Sparten zuständig – und damit auch für die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Produktion.
Wir fördern unsere Institutionen und die Freie Szene! Beide rücken enger zusammen und kooperieren, wo es Sinn hat. Die Strukturen der großen Tanker werden sich verändert haben und flexibler und offener geworden sein. Debatten über Machtmissbrauch liegen hinter uns, weil wir neue Modelle der Verantwortung und der Produktion entwickelt haben.
Umgekehrt werden wir mit Repertoire- oder Exzellenzförderung auch freien Gruppen eine verlässlichere Arbeit ermöglichen.
Die Freien haben ohnehin an Bedeutung weiter gewonnen, aber nicht auf Kosten der Institutionen, sondern im produktiven Zusammenspiel. Denn hier kommen Menschen für die Dauer eines Projekts zusammen, die miteinander „auf Sicht“ zusammenarbeiten, wissend, dass sie nur durch die gleichberechtigte Kommunikation und das offene Ansprechen von Problemen eine Produktion zufriedenstellend realisieren können. Diese Innovationspotenziale werden wir besser nutzen.
(6) Wir stehen zu unserer öffentlichen Verantwortung für die Kultur.
Wir bekennen uns in 2030 auch als Gesamtstaat zu der Aufgabe, Kunst und Kultur zu schützen und zu fördern.
Wir werden Kultur endlich im Grundgesetz verankert haben. So geben wir einen Hinweis, dass es sich bei Kulturförderung eben nicht bloß um eine freiwillige Leistung handeln darf, sondern um das notwendige Gießen unverzichtbarer Fundamente einer freien Gesellschaft.
Wir haben die politischen Spielchen und Debatten über Kulturzuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden hinter uns gelassen und diskutieren nicht mehr darüber, wer wo welches Ministerium braucht, sondern kümmern uns gemeinsam darum, dass der Bund den Ordnungsrahmen setzt und vor Ort konkret gefördert werden kann.
Dabei geht es m die ganze Breite der Kultur. Die Trennung „Hier die geförderte Kunst und da die Kreativwirtschaft“ haben wir hinter uns gelassen. Wir betreuen beide aus einer Hand.
Wir verengen Kultur nicht auf das sonntägliche Ornament oder das strategische Asset einer Standortpositionierung, sondern begreifen sie als das, was sie immer ist: Arbeit am Sinn unseres Zusammenlebens.
Und es gelingt uns zugleich auch, die gesellschaftliche Verantwortung für Kunst und Kultur nicht bloß an eine professionalisierte Kulturpolitik zu delegieren. Sondern wir tragen als Bürgerinnen und Bürger die künstlerische Produktion engagiert mit, engagieren uns in Vereinen und Verbänden. Kulturwirtschaftliche Unternehmen gestalten die Ökosysteme ihrer Sparte mit. Unternehmen und Stiftungen fördern Kunst als Raum der ästhetischen Erfahrung und der kulturellen Verständigung.
Kultur ist eine breit getragene gesellschaftliche Aufgabe. Die diskutieren und organisieren wir in einem landesweiten Kulturplenum zwischen allen Stakeholdern.
(7) Wir kümmern uns um Rahmenbedingungen, die Künstlerinnen und Künstlern ausreichende soziale Sicherheit bieten und die Nachhaltigkeit kulturellen Produzierens sichern.
Soloselbstständigkeit, kurze Arbeitsverträge, hybride Beschäftigung – all das ist in der Kunst an der Tagesordnung und passt oft nicht zu unseren sozialen Sicherungssystemen. Das hat uns die Pandemie vor Augen geführt.
In 2030 werden wir die zentralen Errungenschaften einer Sicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Armut im Alter auch Künstlerinnen so zur Verfügung stellen können, wie es notwendig ist. Wir werden eine solidarische Absicherung geschaffen haben, mit der man sich gegen solche und weitere Lebensrisiken versichern kann – als Rechtsanspruch, der durch Beiträge erworben und abgesichert werden kann.
Und der vermeintliche Deal, dass Freiheit durch Prekarität erkauft werden muss, liegt hinter uns. Faire Entlohnung und ordentliche Arbeitsbedingungen sind die Regel – und Kulturpolitik achtet darauf, dass das auch gilt.
Fragen der Nachhaltigkeit und des ökologischen Fußabdrucks des Produzierens werden zum selbstverständlichen Bestandteil künstlerischen Arbeitens – denn sie sind Teil unserer gelebten Verantwortung für die Welt, die wir bearbeiten und interpretieren. Auch Kunst trägt zur Klimagerechtigkeit bei und übernimmt hier Verantwortung.
(8) Wir werden in 2030 darüber diskutieren, wie ein besserer Zustand 2040 aussehen kann.
Wir werden garantiert auch in 2030 über die Relevanz von Kultur reden. Es ist eine dauerhafte Aufgabe zu zeigen, dass Kultur Orte der Gegenseitigkeit, Geselligkeit und Gemeinschaftlichkeit schafft. Orte, an denen Wahrheiten gesucht und gefunden werden – aber immer im Plural und nie als die eine absolute Erkenntnis. Orte, die noch mehr als bislang den horizontalen Austausch mit anderen Institutionen suchen, ohne dabei an Eigensinn zu verlieren.
2030 ist demnach kein Endzustand. Eine Gesellschaft der Verschiedenen ist vielmehr immer für Anfänge offen, weil sie des Ausprobierens nie überdrüssig wird und weiß, dass genau darin ihre Freiheit besteht. In einer solchen freien Gesellschaft drängen die freien Mitglieder danach, „aus der Tiefe ihres Wesens miteinander zu reden, um sich in der Wahrheit zu verbinden“, wie Karl Jaspers es so schön formuliert hat.
Kunst und Kultur helfen uns, den Blick zu weiten und beständig zu erweitern. Vorausgesetzt, sie tun es auch selbst.
Insofern: Verlieren wir das Ziel nicht aus den Augen, indem wir dauerhaft auf Sicht fahren, sondern blicken wir wach und optimistisch weit nach vorn.
Vielen Dank.