Begriffserklärungen

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Wolfgang Jünemann

(20.8.1909 Hamburg – 9.6.1977)
Ab den 1950er Jahren Lehrer an der Abendoberschule im Holstenglacis 6, Schriftsteller, Lyriker
Papenhuder Straße 49 (Wohnadresse, 1939)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat das Portrait über Wolfgang Jünemann verfasst und in seinem Buch „Täterprofile, Band 2“ veröffentlicht.

Wolfgang Jünemann war ein Mann mit vielen Talenten, hatte einige Förderer, war gut vernetzt, erprobte sich als Lyriker und Schriftsteller, trat als 1909 Geborener schon mit knapp 24 Jahren in die NSDAP und in die SA ein, machte Karriere als Funktionär bei der Hitlerjugend. Trotz seines nationalsozialistischen Bekenntnisses, war es anfangs für Jünemann als Gymnasiallehrer nicht leicht, in eine feste Stellung zu kommen. Nach einem zweijährigen Kriegseinsatz, in dem er Gedichte schrieb und in einem Lyrikband veröffentlichte, musste er, schwer kriegsverletzt, monatelang im Lazarett liegen. Oberschulrat Walter Behne, mit dem er gemeinsam Deutschbücher herausgegeben hatte, erreichte Jünemanns Freistellung vom Kriegsdienst und machte ihn 1943 zum Schulleiter mit einem besonderen Aufgabenbereich.

Wolfgang Jünemann wurde am 20.8.1909 als Sohn des Apothekers Hermann Jünemann und dessen Frau Elisabeth in Hamburg geboren. Er besuchte die Privatschule Dr. Bieber und anschließend die Hammer Realschule, um dann 1922 auf das Kirchenpauer-Realgymnasium zu wechseln, wo er im Februar 1928 die Reifeprüfung bestand. Anschließend studierte er Anglistik, deutsche Literaturgeschichte und Romanistik in Freiburg und Bonn, um das Studium dann an der Universität Hamburg fortzusetzen und darüber hinaus Kunstgeschichte in sein Studienprogramm aufzunehmen. Nach acht Semestern legte er am 16.1.1932 die mündliche Doktorprüfung ab, nachdem er vorher eine Dissertationsschrift zum Thema „Drydens Fabeln und ihre Quellen“ verfasst hatte. Ende Juni 1932 bestand Wolfgang Jünemann die wissenschaftliche Prüfung für die höheren Schulen. Prüfungsvorsitzender war OSR Wilhelm Oberdörffer, der Kommission gehörten auch die beiden jüdischen Professoren Panofsky und Cassirer an, die nach Beginn der NS-Herrschaft emigrieren mussten.1

In dem handgeschriebenen Lebenslauf in seiner Personalakte gab Jünemann an: „Neben dem Studium war ich als ständiger Kritiker der literarischen Darbietungen des Norddeutschen Rundfunks an einer Hamburger Rundfunkzeitschrift beschäftigt. Eigene literarische Versuche erschienen bisher verstreut in Anthologien und Zeitschriften. Heute bin ich Mitarbeiter mehrerer großer Tageszeitungen, unter anderem der „Hamburger Fremdenblätter“ und der „Hamburger Nachrichten“.2

Den Vorbereitungsdienst absolvierte Wolfgang Jünemann ab dem 1.7.1932 an der Oberrealschule St. Georg und der Oberrealschule Alstertal, wo er auch zusätzlich Vertretungsunterricht gab. Vermerkt wurde: „Vergütung ist wegen Mangels an Mitteln nicht möglich.“3

Die Arbeit für Hamburger Tageszeitungen diente auch dem zusätzlichen Broterwerb, ab dem 10.10.1934 bekam Jünemann einen halben Lehrauftrag als wissenschaftlicher Hilfslehrer an dem Realgymnasium des Johanneums, daneben war er noch mit einem Lehrauftrag für Deutsch an einer privaten Realschule beschäftigt.4

Wolfgang Jünemann zeigte sich auch politisch umtriebig. Am 26.4.1933 trat er in die NSDAP ein, am 1.5.1933 ging er in die SA, wo er Scharführer wurde und in der Hitlerjugend, in der er seit dem 1.8.1935 als Kulturabteilungsleiter und Oberscharführer tätig war, fand er offensichtlich eine politische Heimat.5

Ab dem 1.4.1936 wurde Jünemann als Assessor mit einem Dreiviertelvertrag beschäftigt, erst ab dem 1.5.1937 bekam er eine volle Stelle im Schuldienst.

Wolfgang Jünemann tanzte auf mehreren Hochzeiten. Neben seinen literarischen Arbeiten, dem Dienst in verschiedenen NS-Organisationen und seiner Schularbeit, nahm er regelmäßig auch an Wehrübungen teil. Am 13.1.1938 meldete er eine zeitliche Kollision:
„Heute erhalte ich von der Reichsjugendführung die Mitteilung, dass die diesjährige Reichstheaterwoche der HJ vom Reichsjugendführer nach Hamburg gelegt wurde. Es handelt sich um die erste Woche im April, die Vorbereitungen und die verantwortliche Durchführung liegen beim Leiter der Kulturabteilung des Gebietes Hamburg der Hitlerjugend, also bei mir. Aus diesem Grunde sehe ich mich leider gezwungen, darum zu bitten die Einberufung zum 14.3.1938 zurückzuziehen. Da ich andererseits durch meine Tätigkeit als Studienassessor zeitlich gebunden bin, wird es mir nicht möglich sein, vor dem 15.3.1939 zu meiner zweiten Übung anzutreten. Mir ist bekannt, dass die Genehmigung zu einer zweijährigen Pause zwischen den beiden 8 Wochenübungen nur in Ausnahmefällen erteilt wird. Trotzdem bitte ich, mir diese Genehmigung zu erteilen, da ich in anderer Form nicht den verschiedenen Pflichten nachkommen kann, die mir als Studienassessor, HJ-Führer und Soldaten obliegen.“6

Wolfgang Jünemann bat die Schulverwaltung um eine Unabkömmlichkeitsbescheinigung, die ihm von OSR Theodor Mühe umgehend zugestellt wurde.7

Am 13. Juli 1938 beurlaubte die Schulverwaltung Wolfgang Jünemann auf Gesuch des NSLB für die Teilnahme an der „Summer School for Foreign Students des University College in Exeter“.8

In der Zeit vom 6.2.1939 bis zum 31.3.1939 wurde Jünemann für eine militärische Übung (Ufa-Lehrgang) vom Unterricht freigestellt.9

Das war dann die Vorbereitung auf den Ernstfall. Jünemann wurde zum 1.11.1939 zur Wehrmacht eingezogen. Auch hier genoss Wolfgang Jünemann die Wertschätzung seiner vorgesetzten Offiziere. Am Ende wurde er als Oberleutnant aus der Wehrmacht entlassen. Das Ende begann für ihn am 1.8.1941, als er mit schwersten Kriegsverwundungen in ein Lazarett eingeliefert wurde, die ihn etwa zwei Jahre außer Gefecht setzen und von deren Folgen er sich zeitlebens nicht völlig erholte.10

Am 3.6.1942 hatte OSR Walter Behne an Jünemanns Kompaniechef, Major Pagels, geschrieben: „Sein Gesundheitszustand wird es wohl auf absehbare Zeit nicht ermöglichen, daß er wieder völlig garnisonsdienstfähig wird, so daß er selbst für eine ausreichende Betätigung innerhalb des Ersatzbataillon keine volle Verwendung finden kann. Aus dem Grund ist wohl zu überlegen, ob nicht Leutnant Jünemann überhaupt wieder in seine zivile Tätigkeit im hamburgischen Schuldienst zurückkommen kann. Während Leutnant Jünemann also einerseits für die Wehrmacht nicht voll verwendungsfähig anzusprechen ist, gehört er andererseits mit zu unseren aktivsten und tüchtigsten Lehrern, die wir im hamburgischen Schulleben haben, so daß es wohl verständlich erscheint, wenn die Hamburgische Schulverwaltung versucht, den Leutnant Jünemann wieder für den Schuldienst einsetzen zu können. Ohne selbstverständlich irgendwie in die Belange der Wehrmacht eingreifen zu wollen, werden Sie, verehrter Herr Major, doch wohl verstehen, wenn die Hamburgische Schulverwaltung bei dem starken Lehrermangel, der durch den Krieg bedingt ist, doch den Versuch machen muß, Lehrkräfte, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes innerhalb der Wehrmacht nicht voll verwendungsfähig erscheinen, in den Schuldienst zurückzuberufen.“11

Walter Behne und Wolfgang Jünemann verband nicht nur dienstliches Miteinander. Zusammen mit den beiden Hamburger Schulleitern Bruno Peyn und Paul Wetzel gab Walter Behne die im Verlag Moritz Diesterweg erscheinende Nationalpolitische Sammlung heraus, in der Wolfgang Jünemann 1938 die Schrift „Um der Freiheit willen“ publizierte. Gemeinsam mit Jünemann waren Walter Behne sowie Peyn und Wetzel auch Herausgeber der Deutschbücher für den Unterricht an Hamburger höheren Schulen. Jünemann huldigte in seinem Buch „Um der Freiheit willen“ dem Krieg, dem Kampf, dem Heldentod, der Kameradschaft und den „nationalsozialistischen Helden“, wie Albert Leo Schlageter und Adolf Hitler, die sich auch durch Kerkerhaft nicht vom rechten Weg hatten abbringen lassen. In seinem Büchlein, das auch für den Unterricht an Schulen verwendet wurde, druckte Jünemann u. a. „die Schlussworte des Führers im Hitlerprozeß 1924“ ab:
„Die Tat des 8. November ist nicht mißlungen. Sie wäre dann mißlungen, wenn eine Mutter gekommen wäre und gesagt hätte: Herr Hitler, Sie haben auch mein Kind auf dem Gewissen. Aber das darf ich versichern: es ist keine Mutter gekommen. Im Gegenteil, tausend andere sind gekommen und haben sich in unsere Reihen gestellt. Das ist das sichtbare Zeichen des Gelingens des 8. November, daß in seiner Folge sich die Jugend wie eine Sturmflut erhebt und sich zusammenschließt. Das ist der größte Gewinn des 8. November, daß er nicht zur Depression geführt hat, sondern dazu beitrug, das Volk aufs höchste zu begeistern. Ich glaube, daß die Stunde kommen wird, da die Massen, die heute mit unserer Kreuzfahne auf der Straße stehen, sich vereinen werden mit denen, die am 9. November auf uns geschossen haben. Ich glaube daran, daß das Blut nicht ewig uns trennen wird … Die Armee, die wir herangebildet haben, wächst von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schneller. Gerade in diesen Tagen habe ich die stolze Hoffnung, daß einmal die Stunde kommt, daß die wilden Scharen zu Bataillonen, die Bataillone zu Regimentern, die Regimenter zu Divisionen werden, daß die alte Kokarde aus dem Schmutz herausgeholt wird, daß die alten Fahnen wieder voranflattern, daß dann die Versöhnung kommt beim ewigen letzten Gottesgericht, zu dem anzutreten wir willens sind. Dann wird aus unseren Knochen und aus unseren Gräbern die Stimme des Gerichtshofes sprechen, der allein berufen ist, über uns zu Gericht zu sitzen. Denn nicht Sie, meine Herren, sprechen das Urteil über uns, das Urteil spricht das ewige Gericht der Geschichte … Jenes Gericht wird über uns richten, über den Generalquartiermeister der alten Armee, über seine Offiziere und Soldaten, die als Deutsche das Beste gewollt haben für ihr Volk und Vaterland, die kämpfen und sterben wollten. Mögen Sie uns tausend mal schuldig sprechen, die Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwalts und das Urteil des Gerichts zerreißen; denn sie spricht uns frei!“12

1943 gab Wolfgang Jünemann in der Reihe „Die Kleine Glockenbücherei“ die Gedichtsammlung „Stehen hell die Sterne“, Verstagebuch eines Soldaten, heraus. Er wird wohl im Lazarett redigiert haben, was er in seinen beiden Kriegsjahren gedichtet hatte. Ein paar Kostproben, nicht aus Häme, weil er aus dem Krieg so schwer verwundet zurückkam, das sicherlich nicht. Aber es soll wiedergegeben werden, in welchem Geist Jünemann in den Krieg gezogen war und welche Botschaften an andere Soldaten, Jugendliche, also potentielle deutsche Soldaten von ihm übermittelt wurden.

Seine 80 Gedichte beginnen mit dem Gedicht

„Vom siegreichen Leben“:

„Und eines Nachts, da ist’s so weit –
und wieder wird verladen –
und wieder liegen Seit’ an Seit’
im Stroh die Kameraden.

Und Tag und Nacht durch fremdes Land –
und dann – ein deutsches Wort
hat tief sich in das Herz gebrannt –
der Zug rollt fort und fort.

Und eines Morgens ist’s so weit –
und es wird ausgeladen –
und stumm marschieren Seit‘ an Seit‘
voran die Kameraden.

Und jede Nacht, da werden‘s mehr –
Marschtritt und Ruf der Posten –
es zieht das ganze graue Heer
gen Osten nun, gen Osten.

Und näher rücken Seit’ an Seit‘,
ganz nah die Kameraden –
und endlich – ja, es ist so weit! –
wird das Gewehr geladen.

Dumpf träumen die Geschütze in den Wäldern
von ihrer dunklen, aufgetürmten Macht.
O Last des Schweigens! – Leiser Ruf von Meldern! –
Die Zeit des Angriffs ist nun überbracht.

Die Panzer ducken sich noch enger an die Hügel –
ein schwacher Lichtschein – Karten ausgebreitet –
besäß’ das Herz jetzt heimlich stille Flügel –
Ein Brief nur noch! – Die ernste Stunde schreitet.

Schon sind die Sturmkolonnen vorn zum Sprung bereit –
ein heiserer Vogelschrei im Morgenwind –
Minuten sind’s, Sekunden – Ewigkeit!
Und jetzt – der Feuerschlag! Die Schlacht beginnt!“13

Verse, Heldengesänge, Landseralltag, durchaus wenig heroisch:

„Ein stiller Händedruck
von Mann zu Mann –
du gibst dir einen Ruck –
die Kompanie tritt an!

Du blickst nicht mehr zurück –
stahlhart ist das Gesicht –
zum Feind gewandt der Blick –
es ruft – die Pflicht!“14

Oder:

„Das ist das Schwerste dieser Zeit –
zum Tode ja zu sagen,
und fern von allem, weit, so weit,
die fremde Erde tragen.

Das ist das Größte dieser Zeit –
hat es so kommen müssen –
du wirst in Treuen Seit‘ an Seit‘
die Kameraden wissen.“15

Und mancher Vers auch die eigene Kriegsverletzung thematisierend:

 

„Ja, das ist Deutschland! – Saubere, helle Wagen –
wie lang ist‘s her, daß wir dergleichen sahn!
Daß ich hier hilflos einst hineingetragen –
ich hätt es nicht geglaubt, als dieser Krieg begann.

Zur Heimat fahren wir – zurück nach Haus,
mit jedem Tag und jeder langen Nacht,
und doch sehnt sich das Herz zur Kompanie hinaus –
nun ließ ich euch allein in Kampf und Schlacht!

Die Grenze – Sonntag ist es – licht und klar –
die erste deutsche Frau steht blond im Gange
und tritt an jedes Bett – Unfaßlich, wunderbar –
ein deutsches Wort aus deutschem Frauenmunde!
Mein Vaterland! In hellem Kindersange
Krönt sich – was weinst du?- diese heil’ge Stunde.“16

Auch Nachkriegsgedanken:
„Wirst du einst dich auch verlieren
in des Alltags Einerlei –
ostwärts wirst du noch marschieren,
wenn es lang, schon lang vorbei.

Wirst des Nachts wohl oft erschrecken –
suchst noch taumelnd dein Gewehr –
aber das Soldatenwecken
Klingt für dich nicht mehr.“17

Es war absehbar, dass Wolfgang Jünemann mit all seinen Veröffentlichungen und nationalsozialistischer Heldenverehrung, die auch nach 1945 noch gedruckt vorlag, Schwierigkeiten bei der Entnazifizierung bekommen würde. Zunächst aber wurde er von der Hamburger Schulverwaltung befördert, nachdem er das Lazarett als Oberleutnant der Reserve verlassen konnte. Während er seine Kriegsverletzung auskurierte, war er am 9.11.1942 in Abwesenheit zum Studienrat ernannt worden.18

Am 9.3.1943 wurde Wolfgang Jünemann als Kriegsversehrter wieder in den Hamburger Schuldienst übernommen und von OSR Walter Behne als Leiter einer Schule mit besonderen Klassen berufen.

Bis zu den verheerenden Bombenangriffen auf Hamburg im Juli 1943, die den „normalen Unterricht“ in Hamburg zum Erliegen brachten, war Jünemann für die Neugründung einer Oberschule in Horn in den Gebäuden der Wichernschule vorgesehen. Danach erhielt er den Auftrag, den Unterricht für sogenannte Einsatzklassen zu organisieren, für HJ-Führer und BDM-Führerinnen, die in der Kinderlandverschickung eingesetzt worden waren, bzw. auf Führungsaufgaben in der KLV vorbereitet werden sollten. Es handelte sich dabei um 199 Schülerinnen und Schüler der Klassen 5, 6 und 7 (heute Jahrgangsstufen 10, 11 und 12). Diese Klassen sollten erst im Gebäude des Johanneums, dann an der Oberschule für Jungen in Eimsbüttel unterrichtet werden, später im Gebäude des HJ-Heimes Martinistraße .19

Der Unterricht begann am 9.10.1943, die HJ-Einsatzklassen wurden durch OSR Walter Behne, den HJ-Gebietsführer Franz Paul und Schulleiter Wolfgang ­Jünemann, der gleichzeitig HJ-Stammführer war, begrüßt.20

Der Unterricht fand über einen Zeitraum von drei Monaten statt. Am 8.12.1943 gab es dann eine Besprechung zwischen dem neuen Leiter der Hamburger Schulverwaltung, Prof. Ernst Schrewe, und den Gebietsführungen der HJ und des BDM, deren Ergebnis Justiziar Hasso von Wedel protokollierte:
„Mit der Wiedereröffnung der 5.–7. Klassen für Jungen im Hamburgischen Stadtgebiet ist der Grund für das Weiterbestehen der HJ-Einsatzklassen für Jungen weggefallen. Sie sind daher mit Beginn der Weihnachtsferien aufzulösen. Weiter bestehen bleiben lediglich die Mädel-Klassen, da für Mädchen keine allgemeine Beschulung nach Weihnachten stattfindet.

Es bestand aber Einigkeit darüber, dass in der kurzen Zeit des Bestehens der HJ-Einsatzklassen wertvolle pädagogische Ansätze entwickelt worden sind. Die Weiterführung einer Schule, deren Betrieb nach den in den HJ-Einsatzklassen entwickelten Grundsätzen gehandhabt wird, ist wertvoll für die gemeinsame Absicht der Schulverwaltung und der HJ, später einen besonderen neuen Schultyp vorzubereiten. Es soll daher Oberstudienrat Jünemann die stellvertretende Leitung einer der zur Zeit geschlossenen Schulen übernehmen, die nach Weihnachten eröffnet wird und diese nach den bisher in den HJ-Einsatzklassen verfolgten Grundsätzen führt. Den bisherigen Schülern der HJ-Einsatzklassen soll die Möglichkeit gegeben werden, sich von ihrer alten Schule abzumelden und in der von Oberstudienrat Jünemann geleiteten Schule anzumelden. In Aussicht genommen ist hierfür die Wichernschule. Die Schulverwaltung wird die juristischen Grundlagen für die Wiedereröffnung der Wichernschule prüfen. Oberstudienrat Jünemann wird im Einvernehmen mit der HJ die Frage der räumlichen Unterbringung der von ihm geleiteten Schule, die möglichst zentral liegen soll, in einem HJ-Heim prüfen und beschleunigt die erforderlichen Vorschläge und Anforderungen für die Ausstattung der Schule der Schulverwaltung einreichen.“21

Wolfgang Jünemann war also vorgesehen als Schulleiter für eine Art Kaderschule von Hitler-Jugend-Funktionären. Am 9.11.1944 wurde Jünemann endgültig zum Oberstudienrat befördert. Aufgrund der vielen zerstörten und für andere Zwecke umgewidmeten Schulgebäude hatte Wolfgang Jünemann einige Probleme zu bewältigen. Am 13.3.1944 wandte er sich über den für ihn zuständigen Oberschulrat, Karl Züge, an die Schulverwaltung:

„Wir bitten nach Rücksprache mit Herrn OSR Dr. Züge um die Zuweisung der früheren Hilfsschule Bundesstraße 94 für den Unterrichtsbetrieb der Oberschule in Eimsbüttel- Martinistraße und der Mädel-Einsatzklassen. Die Unterbringung im HJ-Heim Martinistraße kann im Interesse einer intensiven schulischen Arbeit nur ein vorübergehender Zustand sein. Die Knappheit der Räume, der damit zusammenhängende beständige Pendelverkehr mit der Oberschule in Eppendorf, die Mitbenutzung der Räume und Dienststellenzimmer durch die Ortsgruppe und durch HJ-Einheiten, das Fehlen einer ordnungsgemäßen Fernsprechanlage sind die Gründe, aus denen heraus wir dringend um Genehmigung und Ermöglichung dieses Umzuges bitten. Die Hilfsschule ist jetzt von der Polizei belegt.“22

Uwe Schmidt berichtete, warum der Einsatzort von Wolfgang Jünemann erneut verändert worden war:
„Bis zur Juli-Katastrophe 1943 war vorgesehen, den 33-jährigen Jünemann, Stammführer der HJ, mit der Neugründung einer Oberschule in Horn zu beauftragen, die nach dem im Kriege gefallenen HJ-Gebietsführer Wilhelm Kohlmeyer benannt und in enger Zusammenarbeit mit der HJ aufgebaut werden sollte. Es war vorgesehen, dass er das Kollegium ‚im Interesse der Einheitlichkeit’ selbst zusammenstellen durfte.“23 Und: „Jünemann, der als Jugendlicher vom Nationalsozialismus erfasst worden sein muss, steuerte als Beitrag zu einem Weihnachten 1943 vom HJ-Gebietsführer Hans Kaul herausgegebenen „Durchhaltebuch“ ein Gedicht über die Juli-Katastrophe bei. Dort hieß es unter anderem:

„Und aus den Wurzeln quillt ins verkohlte Geäst der Wille, die Kraft
trotzig und dennoch empor.
Da tritt über Nacht, der alles erblühen lässt, aus Tod und Verderben,
ein neuer Frühling hervor.
Ihr mögt die Stadt in Schutt und Asche legen. Das menschliche Herz
ist wie der blühende Baum.
In seinen Tiefen wird es sich keimend regen und findet immer noch
Erde und Licht und Raum.
Sterben auch alle. Es scharen die Toten sich stumm um die letzte
Wiege, die in den Trümmern steht.
Und werden wachen. Und kehren nicht eher um, bis nicht ein Glanz
von diesem Leben ausgeht.“24

Im Vorwort dieses Buches hatte Gebietsführer Hans Kaul geschrieben:

„Der Plan zu diesem Hamburg-Buch entstand in den Julitagen 1943. Als ein Zeichen des durch den Luftterror nicht zu brechenden Lebenswillens soll dieses Buch (…) nicht nur zur Erinnerung an die ewige Größe der Hansestadt dienen, sondern als weihnachtliche Gabe wird es alle Herzen in der gemeinsamen Verpflichtung vor der Zukunft zusammenfassen: Lever dod as Slav!“25

Wolfgang Jünemann stand hoch im Kurs der Hamburger Schulverwaltung in den letzten Jahren der NS-Herrschaft. Jung, politisch zuverlässig und nicht mehr kriegsverwendungsfähig, galt er als geeignet für alle Planungen, wenn eine neue Führungsaufgabe zu vergeben war. Ab dem 1.9.1944 wurde er mit der Leitung einer neuen Oberschule in Poppenbüttel unter dem Namen „Langemarck-Schule“ betraut. Diese war organisatorisch die Fortführung der 1943 völlig zerstörten Oberschule für Jungen in Rothenburgsort, die nunmehr zunächst in Baracken an der Alsterschleife eingerichtet wurde.26

In den letzten Kriegsjahren war Wolfgang Jünemann zudem noch stellvertretender Landesleiter der Reichsschrifttumskammer geworden und ganz zum Schluss, vom 1.3.1945 bis zum 1.5.1945 leitete er sogar noch als Bataillonsführer einen Volkssturm.27

Am 22.10.1945 wurde Jünemann auf Anordnung der britischen Militärregierung aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Zwei Jahre verbrachte er in der Internierungshaft im Lager Neumünster.28

Wolfgang Jünemann war klug genug, weil er sich seiner herausgehobenen Funktionen in der HJ und im Hamburger Schulwesen bewusst war, sich nicht sofort wieder um Einstellung bei der Schulverwaltung zu bemühen. Während des folgenden Entnazifizierungsverfahrens fand er am 1.4.1948 eine kaufmännische Anstellung bei der Montangesellschaft, Am Alten Wall 67, in Hamburg.29

Was Wolfgang Jünemann für diese Tätigkeit qualifizierte, ist nicht ersichtlich. Möglicherweise waren es seine Sprachkompetenzen mit einem Anglistik- und Romanistik-Studium. Nach vier Jahren, zum 1.8.1953, bekam er eine deutliche Gehaltserhöhung (900 DM).30

Interessant am Rande erscheint eine Anfrage der Schweizerischen Unfallversicherungsgesellschaft Winterthur (Direktion für das Deutsche Reich West), die für ihren Versicherten Wolfgang Jünemann am 11.5.1950 bei der Schulbehörde anfragte: „Da uns die Auskünfte der früheren Arbeitgeber besonders wertvoll sind, bitten wir Sie höflichst um Auskunft über Ruf, Charakter und die Lebensweise während des Arbeitsverhältnisses, ferner, soweit bekannt, über die wirtschaftlichen Verhältnisse und gegebenenfalls über Vertrauenswürdigkeit vor allem im Bezug auf anvertraute Vermögenswerte.“31

Oberschulrätin Pollitz bestätigte daraufhin, dass Jünemann bis zum 20.10.1945 im höheren Schuldienst der Hansestadt Hamburg beschäftigt gewesen war, erklärte aber auch: „Die Schulbehörde sieht sich aus grundsätzlichen Erwägungen außerstande, Auskünfte über Ruf, Charakter und Lebensweise von Lehrkräften zu erteilen.“32 Da war die Schulverwaltung in der NS-Zeit auskunftsfreudiger gewesen.

Wolfgang Jünemann hatte gut daran getan, sich um eine andere Beschäftigung bemüht zu haben. Das Entnazifizierungsverfahren gestaltete sich für ihn schwierig. Im Beratenden Ausschuss agierte mit Louise Broscheit, der neuen Schulleiterin der Caspar-Voght-Schule, eine Kollegin, die während der NS-Zeit als Lehrerin eine deutlich antinazistische Haltung bewiesen hatte, die Jünemann und insbesondere sein literarisches Wirken genau kannte. Sie schrieb am 11.7.1949 an den Vorsitzenden des Ausschusses, Johann Helbig:
„Dies ist ein Täuschungsmanöver! So harmlos war Wolfgang nicht. Ich habe meinen Giftschrank auf den Kopf gestellt, aber leider wenig gefunden, so bedeutend war er nun scheint‘s auch wieder nicht. Seine Soldatenbegeisterung ist erträglicher lyrisch, weil echte Töne anklingen; aber gerade darum können wir die jetzt auf keinen Fall für unsere Jugend gebrauchen. Er soll weiter Verse schmieden als ,freier Dichter‘; wir wollen ihn vor der Bürde eines so verantwortungsvollen Berufs bewahren.“33

Drei Tage später entschied der Beratende Ausschuss:
„Wir bitten den Fachausschuss, den Fall auch seinerseits eingehend zu betrachten. Herr Dr. Wilhelm Kunrede als Zeuge sagt aus, daß J. nicht aufdringlich wirkte, daß man vor ihm keine Angst zu haben brauchte, daß er sich energisch gegen schmutzige NS-Methoden des Zeichenlehrers im Kollegium der Armgartstraße wandte. Seine Gedichte für Feiern hätten nicht abstoßend gewirkt. Wir haben seine vier vorgelegten Gedichtbände einer Prüfung unterzogen. Der Abstieg vom schwärmerischen Idealismus des Jahres 1932 zur krassen Verherrlichung des Kriegerhandwerks hat uns sehr ungünstig beeindruckt.

Wir haben uns mit ihm eingehend unterhalten. Er gab uns offen über seine Motive und Ansichten von ehemals Auskunft. Auf meine Frage: ‚und heute?‘ konnte er nur sagen: ‚Resignation‘.

Wir vermögen uns nicht zu entschließen, seine Wiederbeschäftigung als Lehrer zu befürworten. Nur wenn der Fachausschuß zu dem Entschluß käme, ihm einen neuen Anfang zu gestatten, würden wir mit Bedenken uns anschließen.“34

Der Fachausschuss entschied da eindeutig: „Als Lehrer nicht tragbar, sonst keine Berufsbeschränkung.“35 Jünemann wurde in Kategorie IV eingruppiert.

Am 12.12.1952 wurde Wolfgang Jünemann mitgeteilt, dass der Leitende Ausschuss „gemäß Par. 6 des Gesetzes zum Abschluss der Entnazifizierung“ ihn „mit Wirkung vom 1.12.1952 in Kategorie V einstuft. Diese Entscheidung ist eine echte Entnazifizierungsentscheidung, die bei Erfüllung der allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen Rechtsansprüche gewährt.“36

Damit befand sich Wolfgang Jünemann in der komfortablen Lage, dass sein Rechtsanwalt nunmehr über die Wiedereinstellung in den Hamburger Schuldienst verhandeln konnte.

Es erfolgte ein langwieriger Rechtsstreit über die Frage, unter welchen Bedingungen Jünemann wieder eingestellt würde. Sein Rechtsanwalt Barber hielt es für selbstverständlich, dass Jünemann als Oberstudienrat in den Schuldienst zurückkehren würde und nicht „zum Studienrat degradiert“.37

Durch seine Stellung bei der Montangesellschaft konnte Jünemann in Ruhe abwarten, bis die juristische Situation im Laufe der Jahre die für ihn günstigste Phase erreichte.

Am 28.10.1952 hatte das Personalamt der Freien und Hansestadt Hamburg noch festgestellt: „Nach den mir vorliegenden Unterlagen sind Sie am 20.4.1940 zum Studienassessor im außerplanmäßigen Dienstverhältnis, am 1.9.1942 zum planmäßigen Studienrat und am 1.11.1944 zum planmäßigen Oberstudienrat ernannt worden. Die ungewöhnlich rasche Ernennung zum Oberstudienrat kann nur auf Ihre enge Verbindung zum Nationalsozialismus, nämlich auf Ihre Zugehörigkeit zur SA vom Mai 1933 bis Mai 1935 (Oberscharführer) und auf das von Ihnen seit August 1935 bekleidete Amt eines Oberstammführers bei der HJ, zurückgeführt werden. Es ist damit erwiesen, daß die o. a. Ernennung zum Oberstudienrat wegen enger Verbindung zum Nationalsozialismus vorgenommen worden ist und daher unberücksichtigt bleibt.“38

Aber schon am 15.8.1953 hob das Personalamt diese Entscheidung wieder auf und erklärte, dass Jünemann „nunmehr als Oberstudienrat zur Wiederverwendung zu behandeln“ sei.39

Danach ging es um die Frage, binnen welcher Frist Wolfgang Jünemann von der Montangesellschaft in den Schuldienst wechseln konnte. Rechtsanwalt Barber: „Wir dürfen darauf aufmerksam machen, daß Herr Dr. Jünemann, da er seit 1945 von der Schulbehörde nichts gehört hat, gezwungen war, sich nach einer anderen Stellung umzusehen und dürfen hinzufügen, daß es Herrn Dr. Jünemann anfänglich außerordentlich schlecht ergangen ist. Herr Dr. Jünemann hat sich jedoch mit großer Energie und sehr viel Hingabe eine andere Stellung errungen, die er nicht von heute auf morgen aufgeben kann.“40

Es ist schon unglaublich, wie hier die Geschichte auf den Kopf gestellt wurde. Aber die „Gewinner der Geschichte“, die die für sie unvorteilhafte Entwicklung „ausgesessen“ hatten bis zur günstigsten juristischen Situation, blieben unverfroren: „Wie uns bekannt ist, hatte Herr Dr. Jünemann im Zeitpunkt seiner Beurlaubung infolge der Entnazifizierungsgesetzgebung der Besatzungsmächte die Stellung eines Leiters der Oberschule Poppenbüttel inne. Herr Dr. Jünemann wäre daran interessiert, zu erfahren, ob die Schulbehörde in der Lage ist und beabsichtigt, ihm die Leitung dieser Schule wiederum zu übertragen oder ihn mit der Leitung einer anderen Schule zu beauftragen.

Das Verhalten der Schulbehörde in der Vergangenheit seit 1945, insbesondere die in den letzten Monaten erfolgten Maßnahmen, sind unseres Erachtens nicht gerade geeignet, Herrn Dr. Jünemann zu veranlassen, nunmehr freudig jeder Anregung der Schulbehörde zu folgen, sondern haben wenigstens und zwangsläufig zur Folge, daß sich Herr Dr. Jünemann irgendwelche Entscheidungen, die anscheinend von ihm erwartet werden, sehr reiflich überlegen wird und muß. Dies wird verständlicherweise eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, so daß wir bitten dürfen, sich sowohl zu erklären als auch zu gedulden.“41

Nach einigem Hin und Her zwischen Schulbehörde und Personalamt wurde die Rechtsauffassung des Leitenden Regierungsdirektors in der Schulbehörde, Otto von Zerssen, bestätigt, der festgestellt hatte: „Ein Recht, die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit im Schuldienst von einer Klärung seiner Rechtsverhältnisse abhängig zu machen, steht ihm nicht zu. Schulleiter zu werden, kann er keinesfalls beanspruchen, wobei bemerkt sei, dass er niemals zum Schulleiter (Oberstudiendirektor) ernannt ist, sondern nur (überraschend schnell wegen seiner NS-Betätigung) zum Oberstudienrat. Aus seiner vorübergehenden Verwendung als stellvertretender Schulleiter gegen Ende des Krieges, weil sich die Schulleiter im Wehrdienst befanden, kann er keine Ansprüche herleiten.“42

Letztendlich wurde Wolfgang Jünemann zum 1.7.1954 wieder als Studienrat in den Hamburger Schuldienst eingestellt und an der Abendoberschule im Holstenglacis 6 eingesetzt. Sein Schulleiter, Dr. Bernhard Müller, ebenfalls NS-belastet als Schulleiter an der Oberrealschule für Mädchen in Altona bis 1945, nach 1945 wieder eingestellt und zum Schulleiter berufen worden, schrieb am 11.10.1954 einen Befähigungsbericht über Jünemann, der ihm sicherlich von Schulleitersitzungen in der NS-Zeit bekannt gewesen war. Darin hieß es:
„Seine unterrichtliche Verwendung bis Michaelis mit 10 Stunden Geschichte war etwas unglücklich, da er die Lehrbefähigung für dieses Fach nicht besitzt (Geschichte war mit Kunstgeschichte verwechselt worden). Es ist anzuerkennen, dass sich Dr. Jünemann bereitwillig eingefügt und sich um den Erfolg auch in diesem Fach ehrlich bemüht hat.“43

Ich finde es aus anderen Gründen mehr als „etwas unglücklich“, wenn ein stark NS-Belasteter, der bedenkliche NS-verherrlichende Bücher geschrieben hatte, nach seiner Wiedereinstellung als erstes mit zehn Unterrichtsstunden Geschichte eingesetzt worden war.

Die Beurteilung, die Wolfgang Jünemann nach drei Monaten Unterricht bekam, las sich sehr positiv:
„Dr. Jünemann, ein Mann mit gewandtem und sicherem Auftreten, voller Liebenswürdigkeit im Umgang mit Kollegen und Schülern, ist ohne Frage ein guter Lehrer; man merkt das sehr schnell und untrüglich, auch wenn es zunächst nicht möglich ist, einen durch Einzelheiten begründeten Beweis für dieses mehr gefühlsmäßige Urteil zu bringen. Es erscheint mir aber sicher, dass sich Dr. Jünemann auch innerlich in seinem Beruf wieder zurechtfinden wird; der Wille dazu ist überall spürbar, er dürfte echt sein.

Seine Unterrichtsstunden und ihre Vorbereitung nimmt er ernst, er bemüht sich um lebendige Gestaltung der Stunden, d.h. um die Mitarbeit der Schüler. In seiner Methode neigt er mehr zur Unterhaltung und Diskussion als zu straffer Führung, womit ich nicht sagen will, dass er etwa planlos arbeitete. Seine Beurteilungen liegen etwas hoch, er sieht mehr das Bemühen und den Ansatz als die Leistung des Schülers. So gewinnt er aber schnell Vertrauen (weckt natürlich auch Illusionen) und mit ihm eine gute Grundlage für den Erfolg. Über seine Befähigung, Schüler und Leistungen sachlich zu beurteilen, kann eine begründete Aussage nicht gemacht werden. Ich weiß aber aus den Klassenkonferenzen, dass er seine Beurteilungen ernst nimmt und über den Schematismus der Zensurenskalen hinauskommt. Ich glaube zusammenfassend sagen zu können, dass Dr. Jünemann im höheren Schuldienst Hamburg nicht fehl am Platze ist.“44

Am 2.21955 ergänzte Schulleiter Müller seinen Bericht:
„Es hat sich bestätigt, dass Dr. Jünemann ein guter Lehrer ist: er ist lebendig und sicher im Unterricht, gewandt und energisch in der Arbeit, geschickt in der Behandlung der Schüler. Sein fachliches Interesse ist groß; er verbindet es mit guten wissenschaftlichen Grundlagen. An der Abend-Oberschule füllt er seinen Platz voll und ganz aus, im Kollegium hat er sich einen beachteten Platz verschafft. Sein Verhalten kennzeichnet sich durch Fleiß, Gründlichkeit und gewissenhafte Erfüllung aller Pflichten. Es wird immer wieder deutlich, dass der Lehrerberuf seine eigentliche Bestimmung ist und dass er in kurzer Zeit nach langen Jahren der Entfremdung innerlich und äußerlich den Anschluss gefunden hat.“45

Interpretationsfähig und ein wenig sybillinisch erscheinen Müllers abschließende Bemerkungen:
„Wenn Dr. J. auch aus Gründen seiner Sicherstellung in den Schuldienst zurückgekehrt sein mag, schließt das nicht aus, dass er im Grunde seines Herzens glücklich und dankbar ist, wenn er nun wieder als Lehrer tätig sein kann. Bei aller Verschlossenheit (ich möchte nicht sagen: Undurchsichtigkeit) seines Wesens spürt man, dass er Vertrauen sucht und Vertrauen rechtfertigen will. Es ist sicher richtig, dass die Vergangenheit noch neben ihm steht und dass er sie auch mit seinen Augen sieht – aber sie verstellt ihm den Blick nicht für die Gegenwart, und vor allem macht sie ihn nicht unsicher in der Bereitschaft, die Forderungen dieser Gegenwart ehrlich anzuerkennen. Und somit könnte man ihm wohl volle Verantwortung und die mit ihr verbundenen Rechte anvertrauen.“46

Sollte damit angedeutet werden, dass eine Wiederbeförderung von Jünemann angezeigt sei?

Als nächstes hospitierte OSR Karl Wagner im Deutschunterricht von Wolfgang Jünemann. In seinem Bericht bemerkte er: „Herr Jünemann unterrichtet außerordentlich temperamentvoll, so dass die Schüler spüren, dass ihn die Probleme ungeheuer packen. Und von dieser Spannung springt durchaus ein Funke auf die Schüler über. Manchmal allerdings schlägt bei ihm der Propagandist durch, der einfach von dem, was ihn packt, mitgeben möchte, ohne an die Lösung der eigenen Kräfte der Schüler zu denken. Diese durch sein Temperament bedingte Überrumpelung der Schüler soll aber in der angehörten Stunde stärker sich ausgewirkt haben als sonst, wie mir Herr Dr. Müller versichert.“47

Der Eindruck des Oberschulrats, der die Begriffe „Propagandist“ und „Überrumpelung“ auf Jünemanns Unterricht anwendete, verhinderte nicht, dass Wolfgang Jünemann zum Beamten auf Lebenszeit ernannt wurde. In Hamburg regierte der konservative Hamburg-Block, die Ernennungsurkunde vom 14.6.1955 war von Bürgermeister Kurt Sieveking unterschrieben, der Ernennungsvorschlag von Schulsenator Prof. Hans Wenke. Zur Begründung hatte OSR Wagner positiv formuliert: „Herr Dr. Jünemann zeichnet sich durch Fleiß, Gründlichkeit und gewissenhafte Erfüllung aller Pflichten aus. Seine Wirkung auf die Schüler geht von einem sprühenden Temperament aus, das seinen Unterricht sehr lebendig macht. Er ist gewandt und energisch bei der Arbeit, sein fachliches Interesse ist groß.“48

Erstaunlicherweise fand sich in der Rubrik des Vordrucks: „Frühere Zugehörigkeit zur NSDAP, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden“ lediglich ein Strich. Man lebte wieder in anderen Zeiten.

1957 begann Wolfgang Jünemann erneut, Anträge zu stellen, um endlich zum Oberstudienrat befördert zu werden.49

Es dauerte noch vier Jahre, dann war es soweit. Formal wurden Beförderungen in den Fällen beantragt, wo Studienräte sich durch Anleitung von Referendaren profiliert und verdient gemacht hatten. Über Wolfgang Jünemann schrieb nun der Nachfolger von Bernhard Müller am staatlichen Abendgymnasium vor dem Holstentor, Beckmann, einen Ernennungsvorschlag, indem es unter anderem hieß:

„Dr. Jünemann ist vom Kollegium Jahr für Jahr in den Vertrauensausschuß gewählt worden. Das beruht darauf, daß er an allen schulischen Fragen, auch wenn sie ihn nicht unmittelbar betreffen, lebhaften Anteil nimmt, jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung steht und bei auftretenden Differenzen durch verständnisvolle Vermittlung ausgleichend wirkt. Er hat eine entschiedene eigene Meinung, ist aber durchaus auch für andere Auffassungen aufgeschlossen. Obwohl er den faulen Kompromiss scheut, stellt er den Dienst einer gemeinsamen Aufgabe in jedem Falle über die Rücksichtnahme auf seine eigene Person. Überhaupt ist die Art, wie er in seinem Beruf aufgeht, einmalig und verdient die höchste Anerkennung. Er befördert nicht nur das Schulleben durch seine stets wache Sorge um die Verbesserung der äußeren und inneren Voraussetzungen für einen anspruchsvollen Unterricht, wobei er in der Lage ist, den Schülern mit feinem Verständnis zu begegnen, ohne Konzessionen in Bezug auf Leistungsanforderungen zu machen. Man kann es sehr wohl verstehen, daß er seine Schüler packt und im positiven Sinne beunruhigt, d. h. geistig in Bewegung setzt. Er wirkt durch das eigene Vorbild. Bei der ihm eigenen Toleranz ist die Gefahr einer einseitigen Einflußnahme nicht gegeben. Gerade bei seinen Schülern habe ich beobachtet, daß sie sich erfreulich zu sich selbst entwickeln.“50

OSR Karl Wagner befürwortete den Ernennungsvorschlag und ergänzte:
„Trotz einer schweren Kriegsverletzung, die ihm körperlich zu schaffen macht, ist er ungewöhnlich arbeitssam und nimmt auch außerunterrichtliche Verpflichtungen sehr ernst. Wegen seiner guten Fachkenntnisse und methodischen Sicherheit wurde er als Berater und Anleiter der jungen Kollegen eingesetzt, die sich auf die besonderen Verhältnisse des Abendgymnasiums erst einstellen mußten.“51

Und, in der Tat, am 24.3.1961 legte diesmal Senator Heinrich Landahl in seiner zweiten Amtsperiode den Ernennungsvorschlag vor, der am 16.5.1961 vollzogen wurde.52

Offenbar führte diese Beförderung Jünemanns zum Oberstudienrat zu politischen Reaktionen. So musste Schulsenator Landahl Bürgermeister Paul Nevermann Rechenschaft über diese Beförderung ablegen. Dafür hatte OSR Wagner für Senator Landahl und Landesschulrat Matthewes einen Vermerk zum Werdegang von Wolfgang Jünemann und insbesondere über dessen politische Betätigung von 1933 bis 1945 anzufertigen. Darin gab er alle Belastungspunkte, die sich aus Jünemanns Personalakte ergaben, richtig wieder. Dann vermerkte er aber auch:
„Die Schulbehörde ist der Meinung, daß nach Wiedereinstellung als Studienrat Herr Dr. Jünemann die gleichen Chancen bei Bewährung gegeben werden müssen, wie allen anderen Studienräten auch. Andernfalls würden wir dem Grundsatz gleicher Behandlung aller Beamten widersprechen. Bei Hospitationen und vor allem bei Abiturprüfungen ist Herr Dr. Jünemann dem Problem der neuesten Geschichte einschließlich Nationalsozialismus nicht aus dem Wege gegangen, und von einer verborgenen nationalsozialistischen Haltung war nichts zu bemerken. Er hat in den Abiturprüfungen Werke der modernen Malerei besprochen (z. B. Klee) und sich geradezu leidenschaftlich für die Aussagekraft dieser Werke eingesetzt. Da er nicht zu den Personen gehört, die sich scheuen, anderer Ansicht als ihre Vorgesetzten zu sein, muß ich annehmen, daß hier die eigene Einstellung spricht.

Es ist vor allem zu bedenken, daß Herr Dr. Jünemann mit der Ernennung zum Oberstudienrat keinen neuen Arbeitskreis bekommt, in dem er etwa einflußreicher auf die Jugend als bisher einwirken kann. Es handelt sich nur um eine Anerkennung für seine Fähigkeiten und seinen wirklich ungewöhnlichen Fleiß und für die Bedeutung, die er im Leben des Abendgymnasiums hat.“53

Auf dieser Grundlage schrieb Senator Landahl am 23.8.1961 an Bürgermeister Nevermann:
„Es handelt sich bei Dr. Jünemann um den typischen Fall einer hochbegabten sensiblen Künstlernatur, die sich von dem Neuen im Nationalsozialismus fangen ließ, ohne ein Gefühl für die menschlichen und politischen Unzulänglichkeiten der damaligen Machthaber zu besitzen. Hierin liegt sein eindeutiges Versagen. Die Schulbehörde hat daraus die Konsequenzen gezogen. Ihm wurde erst 1953 die Möglichkeit gegeben, wieder in den Schuldienst einzutreten und obwohl er Oberstudienrat gewesen war und seine Leistungen in der Schule schon nach kurzer Zeit eine Ernennung zum Oberstudienrat gerechtfertigt hätten, hat die Schulbehörde ihn nicht zum Oberstudienrat ernannt, als andere Oberstudienräte aufgrund des Gesetzes zum Art. 131 befördert wurden. Er ist auch später immer wieder übergangen worden.“54

Im Weiteren bezog sich Landahl auf die beobachteten Kompetenzen und den Einsatz von Wolfgang Jünemann am Abendgymnasium.

1973 stellte Wolfgang Jünemann den Antrag auf vorzeitige Pensionierung, der zum 31.7.1973 erfüllt wurde. Danach übernahm er noch bis 1976 verschiedene Lehraufträge.

Er starb am 9.6.1977.55

Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile, Band 2, Hamburg 2017 ist in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg erhältlich.

Anmerkungen
1 Schreiben vom 27.10.1945, Entnazifizierungsakte Dätz, StA HH, 221-11_Ed 1053
2 Handgeschriebener Lebenslauf in seiner Personalakte, StA HH, 361-3_A 1295. Alle weiteren Angaben ebenfalls laut Personalakte.
3 Gesuch von Ernst Dätz um Anrechnung der Kriegszeit auf sein Besoldungsdienstalter, Personalakte a.a.O.
4 Schreiben vom 26.9.1933, Personalakte a.a.O.
5 Ebd.
6 Personalakte a.a.O.
7 Alle Angaben laut Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte a.a.O.
8 Personalakte a.a.O.
9 Ebd.
10 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 63ff.
11 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 63.
12 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 64.
13 Ebd.
14 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 65.
15 Ebd.
16 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 65f.
17 Personalakte a.a.O.
18 Personalakte a.a.O.
19 Personalakte a.a.O.
20 Ebd. Sehe auch die Biografien über Theodor Mühe und Wilhelm Oberdörffer, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile, Bd. 1, Hamburg 2016, S. 371ff. und S. 528ff.
21 Personalakte a.a.O.
22 Ebd. Schreiben vom 2.9.1935.
23 Entnazifizierungsakte, a.a.O.
24 So etwa für Sophie Barrelet und Walter Brockmöller, in: de Lorent 2016, S. 352ff. und S. 336ff.
25 Schreiben vom 22.9.1945, Entnazifizierungsakte a.a.O.
26 Schreiben von Ernst Dätz an die Schulverwaltung vom 27.10.1945, Entnazifizierungsakte a.a.O.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd. Anlage zum Fragebogen.
31 Ebd.
32 Schreiben vom 11.7.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
33 Siehe de Lorent 2016, S. 538ff. und S. 575ff.
34 Schreiben vom 3.7.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
35 Schreiben vom 19.10.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
36 Erklärung vom 26.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
37 Personalakte, a.a.O.
38 Siehe zu Wilhelm Kiesselbach: de Lorent 2016, S. 49ff.
39 Protokoll vom 17.11.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
40 Ebd.
41 Ebd.
42 Schreiben von Ernst Dätz an die Schulbehörde am 4.12.1953, Personalakte a.a.O.
43 Ernennungsvorschlag vom 25.7.1958, Personalakte a.a.O.
44 Ebd.
45 Uwe Reimer: Das Johanneum in der Nachkriegszeit, Hamburg 2014, S. 131.
46 Personalakte a.a.O.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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