Begriffserklärungen

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Cäsar Iburg

(13.8.1888 Hamburg - 21.4.1969)
Schulleiter am Kirchenpauer Gymnasium
Wohnadresse: Moorende 27 (1938)

„Nach den Richtlinien für die Parteigerichte können Parteigenossen, die jüdisch versippt sind, nicht weiterhin in der NSDAP verbleiben."

Ein komplizierter Fall ist Cäsar Iburg. Schon 1927 war er als Schulleiter am Kirchenpauer-Realgymnasium gewählt worden. Er blieb es in der Nazizeit, hilfreich dafür war sein Eintritt in die NSDAP zum 1.5.1933. Auch das Amt des NSLB- Verbindungsmannes an seiner Schule übernahm er, nach seiner Erklärung nach 1945, um zu verhindern, dass der umtriebige SA-Mann Walter Brockmöller darüber Einfluss auf die Schule gewann. Später wurde entdeckt, dass die Ehefrau Iburgs einen jüdischen Vater hatte. Iburg verlor die NSDAP-Mitgliedschaft und sein Schulleiteramt. Er protestierte und argumentierte dagegen. Nach 1945 behauptete er, alles nur zum Schutz seiner Familie und seiner Schule getan zu haben. Die Entnazifizierung gestaltete sich für ihn schwierig trotz vieler entlastender Zeugnisse.  

Cäsar Iburg wurde am 13.8.1888 in Hamburg als Sohn eines Volksschullehrers geboren. Nach der Volksschule besuchte er das Wilhelm-Gymnasium, bestand dort die Reifeprüfung und studierte anschließend in München, Leipzig und Rostock Philologie, Französisch, Englisch und Latein. Das Anleitungsjahr absolvierte er 1913 an der Gelehrtenschule des Johanneums. Seine Doktorarbeit in Rostock hatte das Thema: „Über Metrum und Sprache der Dichtungen Nicole de Margival‘s". Cäsar Iburg zog dann bis 1917 in den Krieg, in dem er 1916 zum Leutnant befördert wurde.

Die Festanstellung Iburgs erfolgte 1917, er wurde zum Oberlehrer ernannt, zunächst an der Gelehrtenschule des Johanneums und nach Ausscheiden aus dem Kriegsdienst im November 1917 dem Kirchenpauer-Realgymnasium zugeteilt. 1927 wählte das Kollegium ihn zum Schulleiter (1).

Cäsar Iburg trat am 1.5.1933 in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 3005311). Später, am 11.1.1943, gab Iburg noch weitere NS-Mitgliedschaften zu seiner Personalakte. NSLB seit 1.4.1933, NSV seit 1937, NSKOV seit 1933 und NSLB seit 1935. Ebenso diverse Kriegs-, Orden- und Ehrenzeichen. (2)

Das hatte einen besonderen Grund. Auf Cäsar Iburgs berufliche Karriere und sein persönliches Leben war 1938 ein Schatten gefallen. Zusammengefasst stellte das Kreisgericht 5 der NSDAP am 11.4.1938 den Antrag, Cäsar Iburg aus der NSDAP zu entlassen. Zur Begründung hieß es, dass „Pg. Iburg jüdisch versippt ist. Erst auf Grund einer Meldung, die bei der Ortsgruppe ‚Hammer Redder ‘ einging, wurde durch den Ortsgruppenleiter Pg. Behrens nach Rücksprache mit Pg. Dr. Iburg festgestellt, daß der Großvater der Ehefrau des Pg. Dr. Iburg Volljude gewesen ist. Pg. Dr. Iburg gibt zu, dies gewusst zu haben. Er will aber bei Abgabe seiner Aufnahmeerklärung über diesen Punkt nicht befragt worden sein. Dies glaubt ihm das Kreisgericht auch. Unverständlich ist aber dem Kreisgericht, dass Pg. Dr. Iburg als Studiendirektor und Schulleiter der Kirchenpauer-Oberschule nicht gewusst haben will, daß er die jüdische Versippung der Partei hätte melden müssen. Hieraus ist ihm unbedingt ein Vorwurf zu machen. Nach § 26, Ziffer 7 der Richtlinien für die Parteigerichte können Parteigenossen, die jüdisch versippt sind, nicht weiterhin in der NSDAP verbleiben." (3)

Cäsar Iburg legte gegen diesen Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts Beschwerde ein. Ohne Erfolg. Die dritte Kammer des Gaugerichts der NSDAP-Hamburg wies Iburgs Beschwerde zurück und schrieb in der Begründung: „Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Nach den feststehenden Grundsätzen der Partei können Volksgenossen nicht der Partei angehören, solange sie mit Trägern jüdischer Blutsteile verheiratet sind. Eine Abweisung von dieser grundsätzlichen Einstellung wäre mit der nationalsozialistischen Weltanschauung unvereinbar. Hierbei ist es auch unbeachtlich, wie stark der jüdische Rasseneinschlag des Ehegatten ist. Der Beschluss des Kreisgerichtes besteht somit zu Recht. Auch ist vom Kreisgericht bereits berücksichtigt, daß auf Seiten des Angeschuldigten ein Verschulden nicht vorliegt, sodaß gemäß § 26 Ziffer 7 der Richtlinien für die Parteigerichte nicht auf Ausschluß, sondern auf Entlassung aus der NSDAP zu erkennen war. Ein Rechtsmittel ist gegen diesen Beschluss dem Angeschuldigten nicht gegeben. Dem zuständigen politischen Leiter steht ein Beschwerderecht innerhalb einer Frist von acht Tagen zu." (4)

Kurz darauf wurde Cäsar Iburg per Verfügung von NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann am 25.6.1938 aus der NSDAP entlassen. (5)

Hermann Jessen, der seit 1927 Stellvertreter von Cäsar Iburg an der Schule war, schrieb auftragsgemäß ein kurzes Gutachten über Cäsar Iburg: „Während 12 Jahren habe ich als stellvertretender Schulleiter an der Kirchenpauer-Oberschule unter Herrn Dr. Iburg gearbeitet und ihn in seiner Eigenschaft als Schulleiter kennen gelernt. In der Erledigung seiner Amtsgeschäfte zeichnete er sich aus durch peinliche Gewissenhaftigkeit, große Treue und unermüdlichen Fleiß. Wir Lehrer empfanden, daß hinter seiner Arbeit nicht nur das Pflichtbewusstsein stand, sondern auch die Liebe zu seinem Amte und zu unserer Schule. Als Vorgesetzter bewies Herr Dr. Iburg im Verkehr mit seinen Amtsgenossen auch in schwierigen Lagen ein feines Taktgefühl und stete Hilfsbereitschaft. Über seine Lehrtätigkeit kann ich nicht urteilen." (6)

Iburg war am 30.3.1939 auch seines Amtes als Schulleiter enthoben und durch den strammen Nationalsozialisten Paul Dittmer ersetzt worden, der die Schule wieder „auf Linie" bringen sollte. (7)

Cäsar Iburg wurde zum 1.4.1939 an die Oberschule für Jungen nach Altona versetzt, an die Schule von Schulleiter Peter Meyer, wo er den ebenfalls suspendierten Schulleiter Robert Grosse kennenlernte. (8)

Interessant erschien, dass auch Iburg auf seinen Antrag vom 26.7.1940 gewährt wurde, den Titel „Oberstudiendirektor" weiter zu tragen.

Am 28.7.1943 wurden Iburg und seine Frau total ausgebombt ( Moorende 27) und zogen nach Stubbendorf, in den Kreis Stormarn.

Ab dem 27.2.1945 wurde Iburg gewährt (kriegswichtige Arbeit), in der Abteilung Recht des Milch-, Fett- und Eierwirtschaftsverbandes Schleswig Holstein zu arbeiten.

Nach Ende der NS-Herrschaft war Cäsar Iburg dann guten Glaubens, wieder als Schulleiter eingesetzt zu werden. Der nach wie vor in Stubbendorf wohnende Cäsar Iburg schrieb am 11.5.1945 an die Schulverwaltung: „Hierdurch erhebe ich in aller Form einen Anspruch auf Rehabilitierung als Leiter der Kirchenpauerschule, da ich am 30.3.1939 lediglich deswegen meines Amtes enthoben wurde, weil ich ‚jüdisch versippt‘ war, während meine mehr als zwölfjährige Amtszeit wiederholt von meinen damaligen Vorgesetzten – insbesondere Oberschulrat Dr. Oberdörffer – als einwandfrei und vorbildlich anerkannt wurde." (9)

Iburg arbeitete nach wie vor in der Rechtsabteilung des Viehwirtschaftsverbandes bei Syndikus Rechtsanwalt John Schmidt, der ihn juristisch beriet. Iburg schrieb weiter: „Ich möchte meinem eigentlichen Berufe baldmöglichst wieder zugeführt werden. Jedoch ist die Lösung der Wohnungsfrage unerläßliche Vorbedingung. Ich bitte die Schulverwaltung, mir die Hausmeisterwohnung der Kirchenpauerschule als Direktorwohnung einzuräumen. Der Hausmeister könnte dann in den anstoßenden Räumen, die bisher als Papp-, Holz- und Metallwerkstatt dienten, geeignete Unterkunft finden. Um Mißverständnisse auszuschließen, betone ich, daß auch ich mit letztgenannten Räumen gern vorliebnähme, oben vorgeschlagene Regelung aber aus autoritären Gründen für gangbar halte." Und unter PS ergänzte er: „Solange eine Betätigung als Oberschul-Leiter nicht in Frage kommt, bitte ich mich in der Ernährungswirtschaft zu belassen." (10)

Unterstützung erhielt Cäsar Iburg von der Vereinigung ehemaliger Schüler des Kirchenpauer-Realgymnasiums. Mit Schreiben vom 8.6.1945 richtet sich deren Vorsitzender an die Hamburger Schulverwaltung: „Die Vereinigung ehemaliger Schüler des Kirchenpauer-Realgymnasiums e.V., die sich aus mehr als 400 Mitgliedern zusammensetzt und in deren Reihen die hanseatische Kaufmannschaft und alle höheren Berufe stark vertreten sind, sieht mit Sorge der Entwicklung der Kirchenpauer-Oberschule entgegen, da dieselbe nach der Abberufung des Schulleiters Dr. Iburg seit 1939 aus reinen parteipolitischen Gründen von völlig unqualifizierten Personen geleitet wurde. Der Rückgang unserer Schule musste umso mehr auffallen, als die Schule sich jahrelang in der Person von Herrn Dr. Iburg eines besonders tätigen, zuverlässigen und mannhaften Direktors erfreut hatte. Für die früheren Schüler, die mit unwandelbarer Treue an ihrer alma mater weiter hängen, würde es die größte Beruhigung sein, wenn die Schulverwaltung der Kirchenpauer-Oberschule ihr angestammtes Oberhaupt wiedergibt, da gerade unsere Schule durch den Nationalsozialismus allerschwersten Schaden gelitten hat, weil manche schwere Lücken durch diese Partei uns gerissen wurden und wir die besten Lehrkräfte, ja fast sogar selbst das Schulgebäude abgeben mussten." (11)

Und auch ehemalige Kollegen, die zu der Gruppe von zehn bis zwölf Nichtnationalsozialisten an der Schule gehörten, verwendeten sich für Cäsar Iburg. So forderte Dr. Adolph Grabner die Rehabilitierung von Cäsar Iburg und des Lehrerkollegen Walther Gabe, dessen Großmutter Jüdin war. Zu Iburg schrieb Grabner: „Dr. Iburg, lange Jahre vor 1933 gewissenhafter und guter Schulleiter, wurde als einziger der damaligen Schulleiter im früheren hamburgischen Gebiet Weihnachten 1938 nicht als Oberstudiendirektor bestätigt und Ostern – ohne Angabe des Grundes – als Schulleiter abgesetzt; er erbat und erhielt dann seine Versetzung. Schritte des Lehrkörpers zu seinen Gunsten blieben erfolglos; Gründe wurden nicht mitgeteilt." (12)

Offenbar war das Lehrerkollegium war über die Gründe von Iburgs Demission im Unklaren gelassen worden.

In einem internen Vermerk stellte Oberschulrat Heinrich Schröder am 8.9.1945 fest: „Dr. Iburg kann als Parteigenosse vom 1.5.1933 kein leitendes Amt bekleiden. Die Entlassung aus der NSDAP, die nicht auf seinen Wunsch erfolgt ist, gegen die er im Gegenteil sogar noch Beschwerde eingelegt hat, kann daran nichts ändern. Irgendwelche Beweise, daß Herr Dr. Iburg sich als Gegner des Nationalsozialismus gezeigt hat, liegen nicht vor. Im Gegenteil, die Tatsache, daß er gegen die Entlassung aus der Partei Beschwerde einlegte, spricht dafür, daß er sich vom Nationalsozialismus nicht trennen wollte. Die Wiedereinsetzung in das Amt eines Oberstudiendirektors wäre außerdem eine durch nichts gerechtfertigte Bevorzugung vor denjenigen Direktoren, die jetzt wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei gemaßregelt werden und entweder entlassen, pensioniert oder nur als Studienrat weiterbeschäftigt werden.“ (13)

Am 25.9.1945 teilte Schröder Cäsar Iburg mit, dass er aus den genannten Gründen nicht wieder Leiter am Kirchenpauer-Gymnasium werden könne. (14) Und nachdem Iburg den Entnazifizierungsfragebogen ausgefüllt hatte, wurde ihm von Senator Landahl am 20.11.1945 mitgeteilt, dass er auf Anordnung der Britischen Militärregierung entlassen werde. Schwerwiegend dafür war die Parteimitgliedschaft zum 1.5.1933 und die NSLB-Funktion als Schulwalter, die nach Kriterien der britischen Militärverwaltung als die eines politischen Leiters gewertet wurde. (15)

Iburg begründete seinen Eintritt in die NSDAP damit, seine Familie schützen zu wollen: „Da mein Schwiegervater Volljude war und bereits grosse Gefahr für sich und seine Familie befürchtete, trat ich in die Partei ein, um ihn und seine Angehörigen, darunter meine halbjüdische Frau zu schützen. Ich war der Ansicht, dass ich auf diese Weise die zu erwartenden Verfolgungen, wenn nicht ganz vermeiden, so doch wenigstens abmildern konnte.“ (16)

Später formulierte Iburg dieses Argument noch stärker und schrieb: „Ich war mir der Folgen voll bewusst, die sich aus der Durchführung des Parteiprogrammes für meine halbjüdische Frau und für meinen Schwiegervater, der Jude war, ergeben würden und hoffte, meinen Verwandten durch diese Tarnung Schutz zu gewähren. Später wurde mir jedoch vollkommen klar, dass diese Berechnung ein Fehler gewesen war." Und: „Meine Frau ist in Altona geboren. Ihr Vater war Jude und ein Freund des bekannten früheren jüdischen Reichsministers Walther Rathenau, der ein Opfer faschistischer Gruppen wurde. Meine Schwiegermutter starb im Jahre 1936 in Folge mehrerer Schlaganfälle, die durch die Aufregungen, welche durch die Naziverfolgungen verursacht waren, hervorgerufen wurden.“ (17)

Und: „Meine Frau wurde aufgrund falscher Anschuldigungen der Nazis in Haft genommen und von einem nazistischen Polizisten derartig misshandelt, dass sie noch heute unter den Folgen leidet. Nach zweitägiger Haft wurde sie freigelassen, nachdem Rechtsanwalt Schmidt, John, die völlige Unhaltbarkeit der Beschuldigungen bewiesen hatte."

Dies war eine zumindest nicht zu widerlegende Argumentation, auch wenn im Kontext der weiteren Aussagen Iburgs Zweifel blieben bei den Entnazifizierungsausschüssen. Etwa, wenn Iburg weiter argumentierte, warum er der NSDAP beitrat: „Mit vielen meiner Kollegen, die gleich mir eine besorgliche und bedenkliche Entwicklung der N.S.D.A.P. in Richtung auf einen Krieg beobachteten, war ich der Ansicht, dass durch den Eintritt vieler besonnener Leute eine Abschwächung der radikalen Richtung zu erreichen sein würde. Diesem Irrtum konnte ich umso eher verfallen, da ich mich vorher nie mit politischen Dingen beschäftigt hatte und die NSDAP für eine Partei wie andere Reichstagsparteien auch hielt, das heisst der Ansicht war, dass man durch seinen Eintritt einen gewissen Einfluss auf Ziele und Entwicklung nehmen konnte."

Dieses Argument war in Entnazifizierungsverfahren ziemlich verbreitet. Wobei es nicht wirklich den Eintritt in die NSDAP zum 1.5.1933 erklärt. Darum gab Iburg als nächstes Argument an: „Der damalige Reichsstatthalter ordnete an, dass die Schulleiter der Partei beizutreten hätten. Ein Ungehorsam würde eine Entfernung vom Posten eines Direktors zur Folge gehabt haben. In dem Falle würde ein aktiver Nazi meine Stelle eingenommen haben. Nachdem mir von meinen Kollegen entsprechend geraten worden war, trat ich sowohl im Interesse meiner Schule als im  Interesse meiner Kollegen der Partei bei." (18)

Und auch seine Übernahme des Amtes des NSLB-Vertrauensmannes begründete er so, dass bei den Mitgliedern des Entnazifizierungsausschuss  Zweifel aufkommen konnten, weil es wieder nach dem damals gängigen Rechtfertigungsmuster aussieht: „Wenn ich mir selber treu bleiben wollte, konnte ich nicht gestatten, dass  Nazis auf die Leitung der Schule irgendwelchen Einfluss bekamen. Da ich Vertrauensmann der Berufsorganisation (NSLB) an der Schule war, konnte ich es nicht verhindern, dass diese Stelle von der NSDAP in ein Amt (eines ‚Schulwalters‘) verwandelt wurde ohne verdächtigt zu werden oder Gefahr zu laufen, dass diese Stelle mit einem SA-Sturmführer besetzt wurde."

Da in einem parallel laufenden Entnazifizierungsverfahren der ehemalige Lehrer der Kirchenpauer-Oberrealschule, Hermann Schwegler, behauptet hatte, dass er „am 1.5.1933 nur unter Druck meines damaligen Schulleiters Dr. Iburg in die Partei eingetreten" sei, wurden Iburgs Aussagen weiter erschüttert. Als Beleg hatte Schwegler das Schreiben vom damaligen Schulleiter Cäsar Iburg vom 13.5.1933 beigebracht, in dem Iburg geschrieben hatte, „dass der Unterschied zwischen Ihrer Dienstauffassung, die der eines freischaffenden Künstlers sehr nahe kommen dürfte und der meinigen, die streng soldatisch ist und bleiben wird“. (19) Dies wurde von Schwegler genutzt, um Iburg als Schulmonarchen mit Wehrmachts-Offiziersgehabe darzustellen. Aus meiner Sicht eine nahezu intrigenhafte Verdrehung von Tatsachen. Bei Durchsicht der Personalakte von Hermann Schwegler wurde deutlich, dass er immer wieder an den etwa zehn Schulen seiner Berufstätigkeit wegen seiner laxen und unzuverlässigen Berufs-Auffassung Schwierigkeiten hatte mit Kollegen und Schulleitungen. Dieser kurze aus einem Kontext gerissene Brief von Cäsar Iburg warf ein unzulässiges Licht auf Iburg, das Schwegler entlastete und Iburg schadete.

Fazit: Der Beratende Ausschuss fasste am 13.8.1946 folgenden Beschluss: „Dr. Iburg war 1927 Schulleiter an der Kirchenpauer-Schule, damals vom Kollegium gewählt. 1933 trat er in die Partei ein, wurde als Schulleiter von der nationalsozialistischen Schulverwaltung bestätigt und später auch zum Oberstudiendirektor befördert. Am 11.4.1938 wurde er durch Entscheidung des Parteigerichts aus der NSDAP ausgeschlossen, weil er jüdisch versippt sei und es unterlassen habe, diese Tatsache der Partei zu melden. Gegen diese Entscheidung legte Iburg Beschwerde ein, die aber von der Kammer des Gaugerichts am 9.1.1938 zurückgewiesen wurde. Iburg wurde daraufhin von seinem Amt als Schulleiter abberufen und als Studienrat weiter beschäftigt, erhielt aber Titel und Gehalt eines Oberstudiendirektors. Seine Entlassung durch die Militärregierung dürfte auf sein Amt als Schulwalter zurückzuführen sein. Iburgs politische Haltung wird von einigen seiner Kollegen nicht als nationalsozialistisch bezeichnet. Demgegenüber steht die Angabe Dr. Schweglers, daß er nur auf den Druck von Dr. Iburg hin in die Partei eingetreten sei. Über die ‚soldatische‘ Haltung Iburgs gibt ein aus der Akte Schweglers beigefügtes Schreiben Auskunft. Der Antrag Dr. Iburgs im Sommer 1945, seinen Fall als Wiedergutmachungsfall zu betrachten und als Oberstudiendirektor seiner ehemaligen Schule wieder eingesetzt zu werden, wurde von der Schulverwaltung abgelehnt, weil Iburg seit 1933 Mitglied der NSDAP war und weil er durch seine Beschwerde gegen das Urteil des Kreisgerichts gezeigt hat, daß er auch 1938 noch an der Partei festhalten wollte. Weil Iburg aber als durch die Rassengesetzgebung Geschädigter angesehen werden kann, befürwortet der Beratende Ausschuss seine Weiterbeschäftigung als Studienrat." (20)

Für Iburg sprachen die Leumundszeugnisse einiger antinazistischer Kollegen seiner alten Schule. So schrieb etwa Walther Gabe, der wegen seiner jüdischen Großmutter Schwierigkeiten hatte: „Die Nachricht von Ihrer Entlassung aus dem Schuldienst und die Aberkennung aller materiellen Rechte hat mich erschüttert, und es drängt mich, Ihnen zu sagen, wie schmerzlich ich Ihre unverdientes Unglück mitempfinde. Anders kann ich es mir nicht erklären, als daß hier ein „oversight“ passiert ist, denn was könnte ausgerechnet gegen Ihre Person vorliegen! Als Sie seinerzeit in die Partei eintraten, geschah es, wie mir bald klar wurde, nicht deshalb, weil Sie das Programm billigten, sondern offenbar zu dem Zweck, mit Hülfe dieser Tarnung das von Ihnen geleitete Kirchenpauer Realgymnasium zu decken und vor Einmischungen und Angriffen von Naziseite zu schützen. Ich erinnere mich auch gern, wie Sie bei dem Angriff des Herrn Brockmöller gegen mich sowohl der Schulverwaltung wie auch dem NSLB gegenüber für mich eingetreten sind. Sie taten das im vollen Bewusstsein der Gefährdung Ihrer eigenen Stellung." (21)

Und: „Bei der Beurteilung Ihres Charakters, lieber Kollege Iburg, und Ihrer einwandfreien politischen Haltung darf meine Stimme besonders schwer ins Gewicht fallen, angesichts der Tatsache meiner Abstammung und der Verfolgung durch die Nazis, der ich wehrlos ausgesetzt war. Anfang 1943 wurde ich von heute auf morgen aus dem Schuldienst entfernt und als gewöhnlicher Schreiber 2 1/4 Jahr lang in der Verwaltung beschäftigt. Im Mai 1945 schlug dann meine Befreiungsstunde. Mit Bestimmtheit rechne ich auf Ihre Rehabilitierung!"

Auch der antinazistische Lehrer Theodor Claussen bestätigte Iburg: „Waren Sie es doch gerade, der es in den damaligen politisch aufgeregten Zeiten verstand, dem Nationalsozialismus sozusagen die schlimmsten Giftzähne auszubrechen." (22)

Und auch Iburgs ehemaliger Stellvertreter, Hermann Jessen, bestätigte Iburgs Motiv, die NSLB-Schulwalter-Stelle zu übernehmen: „Daß Dr. Iburg später Schulwalter wurde, hatte folgende Bewandtnis: Herr Studienrat Hestermann war im Kollegium der Vertrauensmann des Philologenvereins und legte das Amt nieder bei der Umwandlung dieses Vereins in den NS. Lehrerbund. Da bestand die Gefahr, dass Herr Brockmöller, ein SA Sturmführer und Aktivist, sich dieses Postens bemächtigen würde. Daher übernahm Dr. Iburg dieses Amt, das ohne sein Zutun zum Amt eines Schulwalters wurde; er hoffte, die Parteispitzel auf diese Weise unbehindert in Schach zu halten und von der Schule eine dauernde Beunruhigung abzuwehren." (23)

Auch die Vereinigung ehemaliger Schüler des Kirchenpauer-Realgymnasiums verwendete sich am 23.1.1946 noch einmal für Cäsar Iburg. Ebenso Rechtsanwalt John Schmidt, der sich als bekannten Anti-Nationalsozialisten bezeichnete und schrieb: „Ich sehe das Unrecht, das hier begangen wurde darin, dass jemand, der jahrelang – schon lange vor 1933 – und dann bis 1939 als gewählter Schulleiter in vorbildlichster Weise eine höhere Schule in Hamburg geleitet hat, zum Schutze seiner jüdischen Angehörigen reiner Formgenosse in der Partei gewesen ist und schließlich auch als Opfer nationalsozialistischer Machenschaften von seinem Posten als Schulleiter entfernt ist, nun abgestempelt werden soll als politisch untragbarer Nationalsozialist." (24)

Cäsar Iburg wandte sich am 30.12.1946 an den ehemaligen Kollegen in Altona, Robert Grosse, von dem er vermutete, dass er Einfluss nehmen könne, das langwierige Verfahren positiv zu verkürzen und Heinrich Schröder anzusprechen. Und in der Tat, das Schreiben gelangte in die Hände von Oberschulrat Schröder und damit auch in die Personalakte von Cäsar Iburg (25)

Der Berufungsausschuss tagte am 24.1.1947 und gab der Berufung Iburg statt, „mit der Maßgabe, dass Iburg als Studienrat wieder einzusetzen ist“. (26)

Interessant darin ist auch die andere Bewertung der Behauptung Hermann Schweglers: „Die Angabe Dr. Schweglers, er sei nur auf Drängen von Iburg der Partei beigetreten, kennt der Berufungsausschuss aus der Akte Dr. Schweglers und hat sie damals für nicht sehr glaubwürdig gehalten. Auch der der Akte beiliegende Brief Dr. Iburgs an Dr. Schwegler dürfte nicht besonders belastend sein." (27)

Die Verdächtigung durch Schwegler hat das Verfahren immerhin um zwei Jahre verlängert. Cäsar Iburg wurde als Studienrat an das Gymnasium Schlee-Schule berufen.

Am 5.9.1948 beantragte er die Wiederaufnahme des Verfahrens. Ein Jahr später entschied der Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten in Iburgs Sinne. Ihm „wird die Führung der Amtsbezeichnung Oberstudiendirektor und das Gehalt eines Oberstudiendirektors mit Wirkung vom 1. September 1949 zuerkannt ". Er wurde im Kategorie V eingestuft, Entlasteter. In der Begründung hieß es: „Nach der Auffassung des Berufungsausschusses hat Dr. I. seinen Beitritt zur NSDAP erklärt, um die Leitung der Schule gegenüber einem aktiveren Nationalsozialisten weiter zu behalten und um seine jüdischen Familienangehörigen besser schützen zu können. Er hat tatsächlich, wie ihm von sämtlichen unbelasteten Mitgliedern seines Kollegiums bestätigt wird, die Schule nach Möglichkeit von den ns. Einflüssen freigehalten, so daß ihm allerseits hierfür Dank ausgesprochen wird. Bei dieser Haltung erscheint es dem Ausschuss nicht gerechtfertigt, ihm den den nationalsozialistischen Machthabern abgerungenen Titel bzw. die Amtsbezeichnung als Oberstudiendirektor und die hiermit verbundene Besoldung abzuerkennen. Seiner Berufung war daher stattzugeben." (28)

Die Schulbehörde akzeptierte dieses nicht und gewährte Iburg weiterhin nur die Bezüge eines Studienrates. (29) Cäsar Iburg klagte vor dem Landesverwaltungsgericht und auch dort wurde seine Klage am 25.5.1950 abgewiesen.

Der Ton zwischen Iburg und der Schulbehörde verschärfte sich. Der damalige juristische Vertreter der Behörde in solchen Verfahren, Oberregierungsrat von Zerssen, soll Iburg in einem Prozess des ehemaligen Kirchenpauer-Studienrats Werner Studt gegen die Behörde nach Aussagen seines Rechtsanwalts als „Querulanten“ bezeichnet haben. Iburgs Anwalt John Schmidt wies dies in einem Schreiben an das Personalamt entschieden zurück. Und Iburg selbst schrieb einen ironischen Brief an die Schulbehörde, die ihm zum 1.1.1953 zum 40jährigen Dienstjubiläum gratulierte und ihm mitteilte, dass für eine Feier anlässlich des Jubiläums „aus öffentlichen Mitteln bis zu 50 DM zur Verfügung gestellt werden." Iburg antwortete am 9.3.1949: „Der Schulbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg spreche ich hierdurch meinen aufrichtigen Dank aus für die mir anlässlich meines 40jährigen Dienstjubiläums erwiesene Ehrung sowie die großzügige Geldspende, die mich instand setzte, eine Feier in meinem Betriebe zu veranstalten und darüber hinaus meinen Hausrat, den ich als Ausgebombter völlig eingebüßt hatte, ansehnlich zu ergänzen." (29)

Am 13.8.1953 wurde Iburg in den Ruhestand versetzt, zur Weiterführung einer Abiturklasse in Englisch und Französisch erhielt er noch einen Lehrauftrag für ein Jahr.

1964 wurde Cäsar Iburg nach A 14 übergeleitet. Er legte Widerspruch ein und ein Vergleich beendete den jahrelangen Rechtsstreit am 9.3.1966. Iburg erhielt danach Versorgungsbezüge nach A 15.

Am 12.8.1968 gratulierte Landesschulrat Wolfgang Neckel Iburg zum 80. Geburtstag mit der Standardformel und ergänzte den Dank „insbesondere für Ihre erfolgreiche Tätigkeit als Leiter der Kirchenpauer-Schule." Eine kleine Rehabilitation.

Cäsar Iburg starb am 21.4.1969. Seine Ehefrau Clara am 6.9.1980.

Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1. Alle Angaben nach Iburgs Personalakte, StA HH, 361-3_A 1595 Bd. 1
2. Ebd.
3. Abschrift des Schreibens, ebd.
4. Entscheidung vom 9.6.1938, ebd.
5. Ebd.
6. Ebd.
7. Siehe Biografie Paul Dittmer in diesem Buch.
8. Siehe Biografien Peter Meyer und Robert Grosse in diesem Buch.
9. Personalakte Iburg, a.a.O.
10. Ebd.
11. Ebd.
12. Schreiben vom 30.6.1945, ebd.
13. Ebd.
14. Ebd.
15. Ebd.
16. Personalakte Iburg, StA HH, 361-3_A 1595 Bd. 2
17. Anlage 3, ebd.
18. Alle Argumente Iburgs ebd.
19. Ebd.
20. Ebd.
21. Schreiben vom 31.12.1945, ebd.
22. Schreiben vom 6.12.1945, ebd.
23. Schreiben vom 16.12.1945, ebd. Siehe auch Biografie Walter Brockmöller in diesem Buch.
24. Schreiben vom 3.12.1945, ebd.
25. Personalakte Iburg Bd. 1, a.a.O.
26. Personalakte Iburg Bd. 2, a.a.O.
27. Ebd. Siehe auch die Personalakte Schwegler, StA HH, 361-3_A 3061 und auch seine Entnazifizierungsakte, StA HH, 221-11_Ed 6933. Daraus ergibt sich, dass Schwegler sehr wohl nationalsozialistisch aktiv war. So trat er nicht nur am 1.5.1933 in die NSDAP ein, er war mehrere Monate SS-Anwärter und später im NSLB als Ortsgruppen-Amtswalter tätig. Seine Beschuldigung gegenüber Cäsar Iburg muss danach als Schutzbehauptung gewertet werden.
28. Ebd.
29. Alle zitierten Dokumente ebd.
30. Dieses und alle weiteren Dokumente ebd.
 

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Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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