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Versorgungsheim Farmsen

Das Versorgungsheim Farmsen während der NS-Zeit

Das Versorgungsheim Farmsen wurde 1904 als Erweiterung des Werk- und Armenhauses Oberaltenallee eröffnet. Es verfügte über 300 Hektar Landwirtschaft, Gärtnerei, Dampfwäscherei, Schneiderei mit Plättstube, Tütenkleberei, Wergzupferei, Schlachterei und Bäckerei. Durch die Beschäftigung in diesen Bereichen sollten die betreuten Menschen wieder erwerbsfähig werden. 1922 kamen Einrichtungen für „jüngere Psychopathen“, jugendliche Obdachlose, Wanderer („Tippelbrüder“), Alkoholiker und Prostituierte hinzu.

Ab 1927 wurden diejenigen Prostituierten, die „öffentlich in einer Sitte oder Anstand verletzenden oder andere belästigenden Weise“ zur „Unzucht“ aufforderten oder sich dazu anboten, zu bis zu sechs Wochen Haft verurteilt. Das Gericht konnte die Verurteilten nach der Haftentlassung für eine Dauer von bis zu zwei Jahren in ein Arbeitshaus einweisen. Diese Frauen kamen dann in ein Lager auf dem Gelände des Versorgungsheimes in Farmsen.

Im Jahr 1930 sollen im Versorgungsheim Farmsen „1400 Obdachlose, Alkoholiker, geschlechtskranke Prostituierte und sonstige Asoziale“ untergebracht gewesen sein, die von nur 20 Angestellten (darunter einem Arzt) betreut wurden. Die Insassen mussten sich weitgehend selbst versorgen. Stand zunächst der Gedanke an Rehabilitation im Vordergrund, trat diese Zielsetzung im Zuge der fortschreitenden Wirtschaftskrise ab 1929 zusehends zurück. Im Be­streben, die Ausgaben für die so genannte Irrenfürsorge auf ein Mindestmaß zu reduzieren, sollten schon vor 1933 auf Vorschlag der Fürsorgebehörde nur die unbedingt „anstaltsbedürftigen“ Personen in der damaligen Irrenanstalt Langenhorn (später Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn) und in der damaligen Staatskrankenanstalt Friedrichsberg (später Allgemeines Krankenhaus Eilbek) aufgenommen werden. Alle anderen, auch die Grenzfälle, sollten den kostengünstigeren Wohlfahrtsanstalten, insbesondere dem Versorgungsheim Farmsen zugewiesen werden.

Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Anfang 1933 war das Versorgungsheim Farmsen eine Anstalt, in der Alte, Sieche, chronisch Kranke, Behinderte, „Gefährdete“ und so genannte Bewahrfälle untergebracht waren. Als „Bewahrung“ galt die gegebenenfalls gegen den Willen der Betroffenen, notfalls mit Zwang durchgeführte fürsorgerische Behandlung in geschlossenen oder bestenfalls halboffenen Anstalten.

Anschließend diente Farmsen bis 1945 fast nur der Unterbringung von „asozialen“ und „sozialschwierigen“ Insassen zu zwangsfürsorgerischen Behandlungen. In allen Anstalten des Amtes für Wohlfahrtsanstalten wurden arbeitsfähige Insassinnen und Insassen zur Arbeit herangezogen. Ordneten sie sich dort ein, blieben sie an Ort und Stelle. Machten sie jedoch nach damaligem Verständnis Schwierigkeiten oder waren welche zu erwarten, wurden sie nach Farmsen verlegt und hier nach strengen „sozialpädagogischen“ Grundsätzen „behandelt“ und beschäftigt.

Durch diese Maßnahmen festigte Farmsen seine Funktion als „Bewahranstalt“ immer mehr. Die Zahl der geschlossenen und festen Stationen nahm zu. Von den Frauen ist bekannt, dass sie auffällige Kleidung in Form von rot-weiß gestreiften Kitteln tragen mussten. Auch die Männer trugen Anstaltskleidung. Fluchtversuche wurden durch Fenster mit starken Eisenstäben und metallbeschlagene Türen erschwert. Das Anstaltsgelände war von einem hohen Zaun umgeben. Die Zahl der als Prostituierte bezeichneten Frauen im Versorgungsheim Farmsen wuchs bis Ende Juni 1935 auf über 230 an.

Viele der Insassinnen und Insassen befanden sich zwangsweise in Farmsen. Aus Sicht der Verantwortlichen hörte es sich so an: „Die Notwendigkeit einer solchen Anstaltsunterbringung entspringt dem Bedürfnis, diese Personen (Berufsverbrecher, Landstreicher, Zuhälter, Dirnen, Rauschgiftsüchtige usw.) daran zu hindern, weiterhin die Volksgemeinschaft zu schädigen. Die Bewahrung hat das Ziel, diese gemeinschaftsschädlichen Personen aus der Volksgemeinschaft zu asylieren und den Versuch zu machen, sie nach ihren Kräften zu nützlicher Arbeit anzuhalten und nach Möglichkeit zur zuchtvollen Einordnung in die Volksgemeinschaft zu erziehen.“ ( Käthe Petersen über die „Behandlung der Asozialen“, o. D., Aufzeichnung aus den Jahren 1937–1938, StA Hamburg, Sozialbehörde I, VZ 23.23.)

Sofern die Frauen sich den Regeln des Heimes nicht anpassten, wurden sie verwarnt, mussten mit Lohn- oder Zubrotentzug, „Einzelerziehung“ mit oder ohne Arbeit oder sogar mit Arrest bei Brot und Wasser rechnen.

Aus einem Bericht der Weiblichen Kriminalpolizei vom 4. Juni 1941: „Gerade die Anstalt Farmsen hat das schwierigste und übelste Menschenmaterial als Insassen.“ Wie man sich auf Dauer des „schwierigsten und übelsten Menschenmaterials“ zu entledigen versuchte, lässt sich an Folgendem erkennen: Der leitende Oberarzt, Heinrich Buchta, fertigte Entmündigungsgutachten an, stellte Anträge auf vorläufige Entmündigung und hatte zu entscheiden, welche Frauen und Männer zwangssterilisiert werden sollten. Von 1935 bis 1938 hatte Buchta von 1.000 Neuzugängen 300 Personen als „sehr wahrscheinliche Sterilisationsfälle“ und 400 weitere als fragliche Fälle eingestuft. Zwischen 1934 und 1939 wurden in Farmsen 1.143 Sterilisationen veranlasst.

Allein 1936 wurden in das Versorgungsheim Farmsen auf der Grundlage unterschiedlicher Rechtsvorschriften 922 Personen zwangsweise eingewiesen. Weitere rund 800 Personen kamen „freiwillig“ nach Farmsen, weil ihnen materielle Unterstützung nur unter der Bedingung gewährt wurde, dass sie sich in „geschlossene Fürsorge“ begaben. 1938 bot das Versorgungsheim Farmsen als „Bewahranstalt“ für so genannte Asoziale, Schwachsinnige und Gefährdete, sowie zur Durchsetzung des Arbeitszwanges, insgesamt etwa 2000 Plätze.

Unter den Insassen des Versorgungsheims Farmsen befanden sich auch homosexuelle Männer, wie die vier folgenden Lebensgeschichten beweisen. In der Literatur über Farmsen

werden homosexuelle Männer allerdings kaum erwähnt. Ohne Zweifel waren Männer in Farmsen zumindest den gleichen Pressionen ausgesetzt wie ihre Leidensgenossinnen. Kam bei einem als „asozial“ eingestuften Mann der Vorwurf homosexueller Handlungen hin­zu, hatte er kaum noch Chancen, wieder in Freiheit zu kommen.

Zeitweise waren auch Jüdinnen und Juden in der Versorgungsanstalt Farmsen untergebracht. Soweit bekannt, wurden die letzten am 18. September 1940 nach der Anstalt Langenhorn überstellt und von dort am 23. September 1940 mit weiteren aus hamburgischen und norddeutschen Anstalten zusammengezogenen Jüdinnen und Juden nach Brandenburg/Havel deportiert und dort noch am selben Tag mit Gas ermordet. Das Gedenkbuch Hamburger jüdischer Opfer des Nationalsozialismus dokumentiert insgesamt 125 in Brandenburg ermordete Opfer allein aus Hamburg, von denen mindestens zwei aus dem Versor­gungsheim Farmsen kamen. In einem Arbeitsbericht des Versorgungsheims Farmsen wurde darauf hingewiesen, dass sich dort im Jahre 1939 10 Männer und 12 Frauen jüdischen Glaubens befanden.

Ab Februar 1941 wurden in Hamburg Fragen einer Evakuierung von Anstaltsinsassen nicht nur des Versorgungsheims Farmsen erörtert. Als Grund bzw. Vorwand diente die Absicht, sie vor den Gefahren des Luftkrieges zu bewahren. Unter dem 28. Februar 1941 äußerte sich der Oberpräsident von Stettin zu der Aufnahmefähigkeit der „Landesheilanstalt Meseritz-Obrawalde“ im heutigen Polen und am 21. März 1941 teilte diese mit, dass angekündigte „Leichtkranke“ am 26. und 27. März 1941 erwartet würden; die Reichsbahn sei verständigt, die Transportwagen auf einem vorhandenen Anschlussgleis direkt in die Anstalt zu befördern. Zehn Frauen aus Farmsen gehörten zu diesem Transport.

In einem Tätigkeitsbericht der Anstalt Farmsen vom 18. August 1941 wurde berichtet, im März des Jahres seien noch weitere 35 Männer nach Meseritz-Obrawalde verlegt worden. Dorthin wurden Kranke, aber auch „asoziale Elemente“ (zu denen manchmal auch politische Gegner des Regimes zählten) aus allen Teilen Deutschlands deportiert. Sie wurden nachts an der Rampe des Anschlussgleises der Anstalt von Pflegerinnen und Pflegern in Empfang genommen und – soweit sie arbeitsunfähig waren – innerhalb von drei Tagen getötet, meist durch Giftspritzen oder durch Verabreichung vergifteter Speisen.

Aus Farmsen gingen weitere Transporte ab. „Leicht geisteskranke“ Männer und Frauen kamen in die Württembergischen Heilanstalten Schussenried und Zwiefalten. Zwei Transporte hatten die damalige Landesanstalt Neuruppin zum Ziel. Diese Anstalten waren in das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten einbezogen. Bettlägerige Personen wurden in die damalige Staatskrankenanstalt Langenhorn überstellt. Langenhorn diente vielfach als Sammelanstalt für Transporte in Tötungsanstalten.

1941 war in Farmsen eine Zunahme arbeitsfähiger jugendlicher Insassen im Alter von 15–21 Jahren zu verzeichnen. Hier wirkte sich die Kontrolle der Jugendlichen durch staatliche Organe aus, die sich während des Krieges den geltenden Normen nicht anpassen wollten. Bekannt war besonders die „Swing-Jugend“. Farmsen musste, um die Jugendlichen unterbringen zu können, eine neue Station mit 38 Betten einrichten, die schnell überbelegt war.

Wer erwartet hätte, dass sich die menschenunwürdigen Verhältnisse in Farmsen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus schnell bessern würden, wurde enttäuscht. Georg Steigerthal, der Leiter, schrieb über die Nachkriegszeit: „Bis auf die Entfernung einzelner durch NS-Vergangenheit stark belasteter Personen änderte sich in Farmsen zunächst nichts am Alltag.“ Dieser Georg Steigerthal leitete von 1926 bis 1950 (!) das gesamte Anstaltssystem mit mehreren tausend Insassen in Hamburg. Vor 1933 arbeitete er intensiv an der Schaffung und Begründung eines Bewahrungsgesetzes. Nach 1933 beeinflusste er maßgeblich die Verhältnisse in den Hamburger Anstalten. Steigerthal war ein entschiedener Verfechter der zwangsweisen Anstaltsfürsorge für „Gefährdete“ in billigen Sammelanstalten, der in der Hansestadt die „Bewahrung“ mit Hilfe extensiv gehandhabter Entmündigungen durchführte.

Es sollte einige Jahre dauern, bis das Versorgungsheim Farmsen seine Funktion als „Bewahranstalt“ verlor und zum Pflegeheim wurde. Heute betreibt die Pflegen und Wohnen Hamburg GmbH in Farmsen eine neu erbaute Einrichtung für Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf. Die alten Backsteingebäude des früheren Versorgungsheims Farmsen stehen unter Denkmalschutz. Sie sollen künftig für Wohnzwecke genutzt werden. Eine würdige Gedenkstätte für die in Farmsen Gequälten und Entrechteten fehlt bis heute.

Text von Ingo Wille aus dem Buch von Ulrike Sparr und Björn Eggert: Stolpersteine in Hamburg.. Biographische Spurensuche. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Hamburg 2011, S. 155-158.

Quellen: 4; Bernhard Rosenkranz/Ulf Bollmann/Gottfried Lorenz, Homosexuellenverfolgung in Hamburg 1919–1969, Hamburg 2009; Angelika Ebbinghaus/Heidrun Kaupen-Haas/Karl Heinz Roth, Heilen und Ver­nichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984; Kurt Marggraf, Aus der Geschichte des Pflegeheims Farmsen: Vom Werk- und Armenhaus zum Pflegeheim, StaH 731-1 (Handschriftensammlung); Uwe Lohalm, Völkische Wohlfahrtsdiktatur, Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, Hamburg/München, 2010; Michela Freund-Widder, Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik, Münster 2003; Gottfried Lorenz, Vortrag zur NS-Politik in sozialen Institutionen, u. a. im Versorgungsheim Farmsen im Pflegezentrum Farmsen am 3.August 2009, mr3er.de/dr-lo/index.php?t=1&c=57, Zugriff am 27.8.2011; www.zeit.de/1965/14/akten-aus-meseritz, Zugriff am 27.8.2011.
 

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Von Hamburger NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Zuschauer/innen ... Eine Hamburg Topografie.

NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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