Begriffserklärungen

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Reinhold Bierwirth

(22.2.1909 Hamburg – 30.6.1962)
Schulleiter an der Volksschule Seilerstraße 34
Alardusstraße 6 (Wohnadresse 1939)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat das Portrait über Reinhold Bierwirth verfasst und in seinem Buch „Täterprofile Band 2“ veröffentlicht.

Eine nicht untypische, dennoch erstaunliche Nachkriegskarriere machte Reinhold Bierwirth. 1909 geboren, wandte er sich nach dem Abitur an der Aufbauschule Hohe Weide einer Burschenschaft zu, „aus der er 1933 in die SA überführt“ worden war. Die unspektakuläre Aktivität eines jungen Lehrers während der NS-Zeit, Wehrmacht seit 1939, anschließende Kriegsgefangenschaft bis 1948, die für die Entnazifizierungsausschüsse eine mildernde Wirkung hatte. Schon drei Jahre später wurde Bierwirth als Schulleiter an der Volksschule Seilerstraße 34 auf St. Pauli eingesetzt. Damit war er einer von vielen Lehrern, deren NS-Belastung nach 1945 kein Makel war.

Reinhold Bierwirth wurde am 22.2.1909 in Hamburg geboren. Er besuchte von 1915 bis 1922 die Volksschule Altonaer Straße 58 und ging danach über auf die Aufbauschule Hohe Weide , die von der Schulverwaltung eingerichtet worden war, um begabten Volksschülern die Möglichkeit zu geben, das Abitur zu machen. Die Reifeprüfung bestand Reinhold Bierwirth dort am 10.9.1929.

Bierwirth begann danach an der Universität Hamburg ein Studium als Volksschullehrer mit den Fächern Deutsche Sprache und Literaturgeschichte und trat parallel dazu der Burschenschaft Hansea bei. Die wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an Volksschulen bestand er am 11.2.1933. Zur Prüfungskommission gehörten der Erziehungswissenschaftler Gustaf Deuchler, der sich den Nationalsozialisten zugewandt hatte und der jüdische Psychologieprofessor William Stern, der später vor eben diesen Nationalsozialisten emigrieren musste.1

Reinhold Bierwirth bekam eine Anstellung als Hilfslehrer an der Schule Poolstraße 10 und unterschrieb eine Verpflichtungserklärung, die in der Übergangsphase zur Herrschaft der Nationalsozialisten noch den Wortlaut hatte:

„Hiermit gelobe ich, daß ich das mir als Hilfslehrer von der Landesunterrichtsbehörde übertragene Amt nach der mir erteilten oder noch zu erteilenden Anweisung gewissenhaft ausführen, den dienstlichen Anordnungen meiner Vorgesetzten pünktlich Folge leisten und in Betreff aller zu meiner Kenntnis gelangenden Dienstangelegenheiten Verschwiegenheit beachten will. Vorstehende Verpflichtung ist am heutigen Tage unterzeichnet und durch Handschlag bekräftigt worden.“ Neben Reinhold Bierwirth unterschrieb diese Verpflichtung am 31.8.1933 auch Schulrat Fritz Köhne.2

Bierwirth arbeitete mit 24 Pflichtstunden an der von NSDAP-Mann Werner Matthies geleiteten Schule Poolstraße 10 (nach 1945 Rudolf-Ross-Schule) in einem kleinen Kollegium und bestand dort auch die zweite Lehrerprüfung am 23.10.1936.

Am 15.10.1935 heiratete Reinhold Bierwirth Hildegard Pohl, mit der er vier Kinder bekam.3 Nach eigenen Angaben wurde er „als Mitglied der Burschenschaft Hansea am 15.11.1933 in die SA überführt“.4 Als Mitglied der SA-Gruppe „Hansa“ nahm Reinhold Bierwirth als „Vor- und Nachkommando am Reichsparteitag 1936 in Nürnberg teil, oder, wie es im Vordruck des Führers der Gruppe Hansa vom 20.7.1936 an die Schulverwaltung hieß: „Zum Reichsparteitag der NSDAP 1936 in Nürnberg vom 5.9.1936 bis zum 14.9.1936 ist der Sturmmann Bierwirth dienstlich zur Teilnahme befohlen. Es wird gebeten, Vorgenannten rechtzeitig beurlauben zu wollen.“5

Reinhold Bierwirth war 1933 auch Mitglied im NSLB geworden, ohne besondere Funktion, aber mit Dienstbefreiungen für Kurse und Lagerveranstaltungen des NSLB. In der SA wurde er Rottenführer, in die NSDAP trat er am 1.5.1937 ein.6

Für Wehrdienstübungen wurde er beurlaubt, die längste absolvierte er vom 17.8. bis zum 15.10.1938. Alles in allem keine herausragende NS-Karriere. Ein dabeigewesener Mitläufer, wie viele andere auch. Erst am 30.1.1939 wurde Reinhold Bierwirth zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.7

Schulleiter Wilhelm Matthies, geb. 1893, Teilnehmer des 1. Weltkriegs von 1914 bis 1920 (mit frz. Kriegsgefangenschaft), nahm seit 1936 an jährlichen Reserveoffiziersübungen teil, meldete sich am 24.9.1939 zum Kriegsdienst und starb am 19.7.1945 nach einem Unfall als Kriegsgefangener als Hauptmann im Lazarett. Er wurde als Schulleiter während des Krieges von Friedrich Leverenz vertreten.

Am 30.10.1939 erfolgte Reinhold Bierwirths Einberufung zur Wehrmacht. Er war zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt, hatte mit seiner Frau zwei Kinder (1936 und 1938 geboren), ein drittes Kind kam 1940 auf die Welt. Bierwirth nahm an Kriegshandlungen erst im Westen, dann im Osten teil, bis er am 19.4.1944 auf Kreta stationiert wurde. Am 15.6.1945 wurde er als Feldwebel auf Kreta gefangen genommen und geriet in englische Kriegsgefangenschaft. Zuerst war er untergebracht im Lager in Ägypten und dann bis Ende 1947 im Kriegsgefangenenlager auf Kreta.8

Am 2.1.1948 wurde Reinhold Bierwirth aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und meldete sich am 7.1.1948 bei der Hamburger Schulverwaltung zurück, um wieder in den Schuldienst übernommen zu werden.9

Kriegsgefangene, zumal solche mit geringer NS-Belastung, erfuhren in der Regel milde Beurteilungen und wurden in Zeiten, in denen nach dem Krieg ein großer Lehrermangel herrschte, schnell wieder eingestellt.

Schon am 8.1.1948 hatte Schulrat Kurt Zeidler für den Entnazifizierungsfachausschuss eine politische Unbedenklichkeitserklärung für Reinhold Bierwirth ausgestellt, in der es hieß, dass „gegen den sofortigen Einsatz des am 7.1.1948 aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Lehrer Reinhold Bierwirth im Verwaltungsdienst der Schulbehörde Hamburg keine Bedenken bestehen.“10

Dem schloss sich der Beratende Ausschuss an und befand am 3.2.1948:

„Herr B. ist von dem Ausschuss gehört worden. Die geringen gegen ihn sprechenden Belastungen (Beitritt in die SA, Rottenführer) kann Herr B. glaubwürdig entkräften. Zur Unterstützung dieser Entkräftung sind gewichtige Gutachten vorgelegt. Der Beratende Ausschuss hat daher keinerlei Bedenken gegen Herrn B. und empfiehlt Bestätigung.“11

Die „gewichtigen Gutachten“ kamen aus seinem ehemaligen Kollegium an der Poolstraße , unter anderem von Schulleiter Friedrich Leverenz, der in der NS-Zeit und auch nach 1945 die Schulleiterfunktion innehatte, selbst auch NSDAP-Mitglied gewesen war, der bezeugte, dass der ehemalige Burschenschaftler Reinhold Bierwirth „ohne sein Zutun“ in die SA überführt worden war, aber „sich nicht aktiv für den Nationalsozialismus eingesetzt, vielmehr oft scharfe Kritik geübt“ hätte: „Seine Arbeitskraft und sein Einsatz galten der Schule.“12 Auch Mitläufer konnten sich gegenseitig entlasten.

Nun war Reinhold Bierwirth sicherlich kein besonderer NS-Aktivist gewesen. Am 5.3.1948 trat er seinen Dienst wieder im vertrauten Umfeld der Poolstraße 10 an. Erstaunlich war hingegen der nächste Karriereschritt. Als an der Volksschule Seilerstraße 43 auf St. Pauli der bisherige Schulleiter, Heinz Beck, Ostern 1951 pensioniert wurde, schlug Schulrat Robert Werdier den Lehrer Reinhold Bierwirth als kommissarischen Schulleiter vor. In seinem Gutachten schrieb er:

„Er ist ein fleißiger, erfolgreicher und sehr geschickter Pädagoge, an dem die Kinder hängen und der von den Eltern sehr geschätzt wird. Er ist stark sozial interessiert und bemüht sich um jedes einzelne Kind. Von den Kollegen wird er wegen seines verbindlichen Wesens und wegen seiner steten Einsatzbereitschaft anerkannt. Der Findungsausschuß hat sich auf ihn geeinigt. Das Kollegium der Volksschule Seilerstraße 43 hat diesem Vorschlag zugestimmt.“13

Nach einem Jahr musste Schulrat Werdier ein Bewährungsgutachten über Reinhold Bierwirth schreiben, in dem es hieß:

„Ihm war keine leichte Aufgabe zugefallen, da das Kollegium durch den sehr entgegenkommenden Herrn Beck in jeder Weise verwöhnt worden war und einen Hang zur Bequemlichkeit zeigte. Sehr ruhig, aber sehr bestimmt hat Herr Bierwirth das Kollegium wieder zu systematischer Arbeit geführt, die Schulzucht der Kinder gehoben und sich unablässig bemüht, dass auch eine Reihe von Renovierungen der Schulräume vorgenommen wurden. An der Abstimmung nahmen 16 Mitglieder des Kollegiums teil, zwölf entschieden sich für Herrn Bierwirth, drei stimmten gegen ihn, ein Mitglied enthielt sich der Stimme. Ich befürworte die Ernennung des Herrn Bierwirth zum Rektor auf Lebenszeit.“14

So geschah es, Reinhold Bierwirth wurde am 28.7.1952 zum Rektor auf Lebenszeit ernannt, seine Urkunde von Bürgermeister Max Brauer unterzeichnet.15

Die Berufsbiografie von Reinhold Bierwirth war nicht untypisch. Für Leitungsstellen nach 1945 standen nur in Ausnahmefällen Personen zur Verfügung, die keinerlei Verstrickung mit dem NS-Regime hatten. In vielen Fällen wurden sogar ehemalige Funktionsträger im Hamburger Schulwesen während der NS-Zeit wieder mit Leitungsaufgaben betraut und im Falle von Reinhold Bierwirth, der nach seinem zweiten Lehrerexamen abzüglich seiner Kriegsteilnahme und der anschließenden Gefangenschaft erst sechs Berufsjahre im Hamburger Schulwesen absolviert hatte, zählten sicherlich auch die gemachten Führungserfahrungen als Feldwebel mit, die ihn für die Leitung einer Schule qualifizierten.

Am 1.3.1958 gratulierte ihm die Schulverwaltung zum 25-jährigen Dienstjubiläum, wobei die Zeit in der Wehrmacht und der Kriegsgefangenschaft offenbar mitgerechnet worden waren.16

Reinhold Bierwirth erkrankte 1962 schwer an einem Magengeschwür, wurde einige Wochen im Krankenhaus Elim behandelt, wo er am 30.6.1962 verstarb.17

Das Profil ist nachzulesen in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile, Band 2. Hamburg 2017. Das Buch ist erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg.

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte Reinhold Bierwirth, StA HH, 361-3_A 2334. Siehe dazu auch die Biografie Gustaf Deuchler, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 142ff.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Entnazifizierungsakte Bierwirth, StA HH, 221-11_20360 KAT
5 Personalakte a.a.O.
6 Entnazifizierungsakte a.a.O.
7 Personalakte a.a.O.
8 Entnazifizierungsakte a.a.O.
9 Personalakte a.a.O.
10 Entnazifizierungsakte a.a.O.
11 Entnazifizierungsakte a.a.O.
12 Erklärung vom 28.1.1948, Entnazifizierungsakte a.a.O.
13 Gutachten vom 12.1.1951, Personalakte a.a.O.
14 Gutachten vom 5.3.1952, Personalakte a.a.O.
15 Personalakte a.a.O.
16 Personalakte a.a.O.
17 Personalakte a.a.O.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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