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Paul Löden

(11.5.1906 – 30.10.1984)
Lehrer an der Bismarck-Oberrealschule Bogenstraße
Baron-Voght-Straße 4 (Wohnadresse, 1943)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat das Portrait über Paul Löden verfasst und in seinem Buch „Täterprofile Band 2“ veröffentlicht.

Paul Löden war der Klassenlehrer von Uwe Storjohann an der Bismarck-Oberrealschule in der Bogenstraße in Eimsbüttel. Durch die von Storjohann veröffentlichen Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit wurde bekannt, wie Löden als Lehrer agierte und als Nationalsozialist und SA-Mann an der Pogromnacht am 9. November 1938 beteiligt war. Nach sechsjährigem Kriegsdienst und einer einjährigen Kriegsgefangenschaft kam Löden nach Hamburg zurück. Persönliche Schicksalsschläge in seiner Familie führten zu wohlwollenden Leumundszeugnissen, so dass er nach ungewöhnlich kurzer Zeit wieder eingestellt wurde. Wie so manch anderer NS-Belasteter machte er nach 1945 dann noch einmal einen Karriereschritt.

Paul Löden wurde am 11.5.1906 in Hamburg geboren. Sein Vater war Hausmeister der Oberrealschule in der Bogenstraße , später Bismarck-Oberrealschule. Löden besuchte die Volksschule, danach von 1914 bis 1925 die Oberrealschule an der Bogenstraße , in der er mit seinen Eltern auch wohnte. Nach dem Abitur am 11.2.1925 studierte er in Freiburg und seit 1927 in Hamburg Geschichte, Deutsch, Englisch und Turnen. Die Turnlehrerprüfung bestand er 1927 in Freiburg, am 26.3.1930 promovierte er, sein Dissertationsthema: „Zur Vorgeschichte und Geschichte der preußischen Grundrechte. Ein Beitrag zur preußischen Verfassungsgeschichte.“1

Anschließend legte Paul Löden die wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen mit „gut“  ab.

1926 hatte Paul Löden an der Oberrealschule an der Bogenstraße mit besonderer Erlaubnis der Oberschulbehörde Turnunterricht erteilt. Oberstudiendirektor Karl Züge bescheinigte ihm erfolgreiche Arbeit:
„Herr Löden hat sich dieser Aufgabe in allen Klassenstufen mit großem Eifer hingegeben. Er hat es verstanden, sich stets sofort durch seine Persönlichkeit durchzusetzen und durch sein Vorbild die Klassen mit fortzureißen. Ganz besonders zu erwähnen ist der frische Zug, den Herr Löden in den Turn- wie in den Spielbetrieb hinein brachte, wodurch er auch innerlich den Schülern schnell nahetrat. Die Schule kann ihm das Zeugnis ausstellen, daß er alle ihm anvertrauten Aufgaben mit großem Geschick, ernster Berufsfreude und gutem Erfolg löste.“2

Vom 1.4.1932 bis zum 23.8.1933 absolvierte Löden den Vorbereitungsdienst, zuerst an der Lichtwarkschule und anschließend an der Oberrealschule auf der Uhlenhorst. An der Lichtwarkschule, einer der ausgewiesenen Reformschulen in Hamburg, hatte Paul Löden offenbar keine wirklichen Erfolgserlebnisse gehabt, wie aus dem Bericht des für die Lehramtsanwärter zuständigen Studienrats, Friedrich Kauffmann, von Schulleiter Heinrich Landahl gegengezeichnet, hervorging:
„Herr Löden war während des Sommerhalbjahres unserer Schule überwiesen. Er konnte nicht immer und nicht regelmäßig an den Besprechungen des Seminars teilnehmen, weil er in ungewöhnlichem Ausmaß durch Vertretungen in Anspruch genommen war. Er zeigte dann eine gewisse Zurückhaltung, die ihn hinderte, über einen Gegenstand sich zu äußern, mit dem er innerlich noch nicht fertig war. Bei privaten Unterhaltungen war jedoch festzustellen, daß er unterrichtlichen und erzieherischen Fragen lange nachging, und ich vermute, daß er ein starkes Interesse an allen Fragen des Schullebens hat, nicht minder an den Problemen, die sich aus der Entwicklung des öffentlichen Lebens unserer Zeit für den Aufgabenkreis der Schule ergeben.

Was nun die praktische Arbeit des Herrn Löden angeht, so handelte es sich für ihn um eine Aufgabe, die zu schwer war und wohl für jeden anderen zu schwer gewesen wäre. Er mußte notgedrungen den ganzen kulturkundlichen Unterricht in der Obersekunda übernehmen. Die Schüler waren also in dem Alter, in dem sie besonders schwer ein inneres Verhältnis zu einem neuen Lehrer gewinnen. Für einen Anfänger im Lehramt mußte sich diese Schwierigkeit besonders stark auswirken. Es muß auch in Rechnung gesetzt werden, daß die fragliche, nur mäßig begabte Klasse ohnehin dem Lehrer schwierige Aufgaben stellte. Dies vorausgeschickt, muß die Tätigkeit des Herrn Löden durchaus anerkannt werden. Mit unermüdlichem Fleiß hat er immer wieder seine Aufgabe zu lösen unternommen. Hätte er den Beistand und die Führung gehabt, die sonst einem Anfänger im Lehramt nicht vorenthalten bleiben, so würde er Gutes geleistet haben.“3

Dennoch bestand Paul Löden die pädagogische Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen und somit das zweite Staatsexamen am 8.3.1932 mit „gut“.4 Anschließend war Löden Vertretungslehrer im privaten Schulbereich, zuerst bei der Schulgemeinschaft auf Gut Marienau und danach an der Wahnschaff-Schule, bis er am 24.8.1933 als wissenschaftlicher Hilfslehrer an der Bismarck-Oberrealschule beschäftigt wurde, zum 1.4.1934 als Studienassessor.5

Über die Unterrichtsarbeit von Paul Löden hat Uwe Storjohann in seinem Erinnerungsbuch „Hauptsache: Überleben“ berichtet. Storjohann, dessen Schulerlebnisse an der Jahnschule ich in dem ersten Band der „Täterprofile“ schon an verschiedenen Stellen zitiert habe6, beschrieb in einem Gespräch, das ich mit ihm am 21.6.2012 führte, wie sich Löden seiner fünften Klasse als Klassenlehrer vorstellte:

„Als Löden an die Bismarck-Oberrealschule kam und sich in der 1. Stunde der neuen Klasse vorstellte, schrieb er an die Tafel ‚Dr. Löden‘, nicht etwa ‚Herr Löden‘. Dazu ließ er uns Schüler wissen: ‚Herr Löden, das ist der von unten. Dr. Löden, das bin ich, und er unterstrich dabei seine Doktortitelabkürzung.“7 Diese Abgrenzung Lödens von seinem Vater, dem Hausmeister in der Souterrainwohnung der Schule, hatte Uwe Storjohann auch 80 Jahre später nicht vergessen.

Paul Löden war im September 1932 in die NSDAP eingetreten, im November 1933 wurde er SA-Mann und als Rottenführer8 aktiv.

In seinen Erinnerungen beschrieb Uwe Storjohann den Morgen am 10. November 1938, dem Tag nach dem Pogrom an den deutschen Juden:
„Ich bin an diesem Tag einer von vielen tausend willigen Statisten, ein Kind, das mitläuft in der großen Masse, nach Wunsch und Willen seiner Regisseure. Das Drehbuch schreibt mir meine Aufgabe vor. Am Morgen, in der Bismarck-Oberrealschule, muß ich mich mit 28 anderen Knaben der Quarta dem Volkszorn an die Seite stellen. Wir tun es mit Befriedigung, denn eigentlich war für die Stunde englische Grammatik vorgesehen. Unser Klassenlehrer Dr. Löden, erprobt im Umgang mit den Feinden unseres Deutschtums, ist der Stichwortgeber. Er trägt die Spuren des nächtlichen Einsatzes noch auf Gesicht und Uniform. Gerötete Augenlieder, Bartstoppeln, verschwitzte Mensurnarbe, Mundgeruch, die sonst stets frisch und sorgsam geglätteten Haare flüchtig aus der Stirn gekämmt, das braune SA-Truppführerhemd zerknittert und mit Ruß befleckt. Woher die Spuren stammen, können wir uns denken. Es hat sich herumgesprochen, was in der Nacht passiert ist. Doch niemand stellt Fragen. Wir kennen Dr. Löden. In einer ernsten Stunde wie dieser ist es nicht angebracht, mit eigenem Heldentum zu protzen. Er liest uns einen vorbereiteten Text vor, den wir später auch in der Zeitung nachlesen können. ‚Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten Parteigenossen vom Rath haben sich im ganzen Reich spontane Anti-Judenkundgebungen entwickelt. (…) Ausdruck des heiligen Zorns, der Empörung und der Verachtung für das meuchelmörderische Pack war es, wenn die Menge dabei die Fensterscheiben der großen jüdischen Geschäfte in der Innenstadt zertrümmerte, deren Besitzer noch immer in satter Behaglichkeit in Deutschland leben. Jahrelang ist ihnen kein Härchen gekrümmt worden. Nun hat das Volk in spontaner, einmütiger Erhebung gegen die ungebetenen Fremdlinge gezeigt, daß die Zeit der Warnungen vorbei ist …“9

Paul Löden profilierte sich neben der Schule auch auf anderem Gebiet. Als die Hamburger Volkshochschule unter ihrem neuen Leiter, Heinrich Haselmayer10, im Sommersemester 1933 Kurse für Lehrer durchführte, „die speziell auf den neuen Geschichtsunterricht zugeschnitten waren“11, referierte Paul Löden zum Thema „Verfassung und Revolution in der deutschen Geschichte“. Er befand sich dabei in prominenter Gesellschaft von Nationalsozialisten, die ab 1933 im Schulbereich Karriere machten. So etwa die beiden ehemaligen Studienräte der Bismarck-Oberrealschule, der neue OSR Walter Behne („Geschichte des 19. Jahrhunderts und Fichtes Reden an die deutsche Nation“) sowie Bruno Peyn, ab 1933 Oberstudiendirektor („Das Niederdeutsche und seine Literatur“), dann der neue OSR Theodor Mühe („Die sozialen Triebkräfte in der Bildung der menschlichen Persönlichkeiten und ihre biologischen Grundlagen“), der spätere Leiter der Gauführerschule und OSR Albert Henze („Die Aufgabe der deutschen Kolonialpolitik“), sowie Hans Rösch („Irrlehren des Marxismus“). Alle Personen sind im ersten Band der „Täterprofile“ ausführlich porträtiert worden.12

Lödens Auftreten in diesem Kontext, sowie seine frühe Parteimitgliedschaft vor 1933 hätten erwarten lassen, dass auch er im Schulbereich Karriere machen würde. Nun war er im Sommer 1933 erst 27 Jahre alt und gerade in den hamburgischen Schuldienst eingetreten. Am 12.11.1938 wurde er erst einmal zum Studienrat befördert. Ein weiterer Karriereschritt wäre möglicherweise erfolgt, wäre Paul Löden nicht am 28.8.1939 zum Kriegsdienst eingezogen worden.13 Löden hatte 1937 und 1938 mehrmonatige militärische Übungen absolviert, so dass er während seiner Militärzeit zum Oberschirrmeister befördert worden war.14

Noch arbeitete Paul Löden an der Bismarck-Oberrealschule als Lehrer von Uwe Storjohann, der einiges über Löden zu berichten hatte, so etwa vom Sportunterricht, über den der damalige Oberstudiendirektor Karl Züge15 urteilte: „Ganz besonders zu erwähnen ist der frische Zug, den Herr Löden in den Turn- wie in den Spielbetrieb hineinbrachte, wodurch er auch innerlich den Schülern nahetrat.“16

Das Nahetreten im erlittenen Sportunterricht sah bei Uwe Storjohann so aus:
„Ich klebte mit schweißnassen Händen an den Ringen, unfähig, mich hochzustemmen und dem Vorturner Kurti Brandt die ‚Schwalbe‘ nachzuturnen. Neben mir Dr. Löden: ‚Reiß dich gefälligst zusammen, Mensch! Du schlotterst ja vor Schiß! Das gibt‘s doch gar nicht! Nimm den Hintern hoch!‘ In sein pausbäckiges Gesicht steigt drohend und gefährlich Zornesröte, über die eingekerbten Überkreuzmensuren in die frische Rasur. ‚Seht ihn euch an, den feigen Lahmarsch!‘

Ich schwanke hilflos auf dem Hochreck. Unter mir Gesichter, ich bilde mir ein, daß sie nur auf mein Versagen lauern. Die Bauchwelle ist angesagt. Dr. Löden greift ein, drückt meinen Kopf nach unten und dreht mich mit einem Ruck um die Reckstange herum. Mir wird schwarz vor Augen, in den Ohren saust es. ‚Fallen lassen‘, hämmert es in meinem Kopf. ‚Laß dich fallen! Vielleicht hast du Glück, brichst dir Arm und Beine und brauchst dann in den nächsten Wochen nicht mehr mitzuturnen. Laß dich fallen!‘ Die nassen Hände rutschen von der Stange. Ich in die Tiefe, ein Strom der Erleichterung geht durch den Körper – und noch im selben Augenblick das bittere Gefühl einer zermalmten Hoffnung. Nichts ist gebrochen, weder Arm noch Beine. Dr. Löden und Kurt Brand, der unten Hilfestellung gibt, haben mich gemeinsam aufgefangen. Kein Aussichtsschimmer auf ein Ende des Martyriums, nur wieder Schimpf und Schande. Da capo für den ‚feigen Lahmarsch‘. Ich empfinde Scham, Verzweiflung, Minderwertigkeit. Gibt es eine schlimmere Demütigung für einen deutschen Sextaner, als vor versammelter Klasse von seinem Lehrer, der als SA-Truppführer höchstes Ansehen genießt, derart abgekanzelt, erniedrigt zu werden? Ich erwarte inständig die Pausenglocke, das Ende der Folterstunde.“17

Die Bismarck-Oberrealschule verfügte über ein Schullandheim in Wenningstedt auf Sylt, das von den Schulklassen regelmäßig besucht wurde. Nicht immer zur Freude von Uwe Storjohann:

„Daß ich in diese Schule gehe, verdanke ich meinem Vater: ‚Weil du dann jeden Sommer drei Wochen mit der Klasse nach Sylt fahren kannst.‘ Er hat es gut gemeint. Nichts wirkt stimulierender auf Geist und Körper heranwachsender Knaben als Sylter Nordseeluft, nichts zwischen Belt und Alpen, was diesem Prickelklima gleichkäme. Es reizt die Sinne und den Drang, sich zu entfalten. Aber eben das paßt leider nicht in jedermanns Erziehungskonzept. Unser Klassenlehrer Dr. Löden mißtraut der sinnlichen Entfaltung vorpubertärer Oberrealschüler. Drei Jahre lang setzte er Zwang, Drill, harte Zucht dagegen. Sogar zum Baden in die Brandung geht‘s militärisch straff in geschlossener Formation. Jeder Schritt ist überwacht. Ob zum Strand, zum Sportplatz, zum Geländespiel, zum Ausflug in die Dünen, wird in Reih und Glied marschiert. ‚Im Gleichschritt marsch! Ein Lied, drei, vier!‘ ‚Die blauen Dragoner, sie reiten …‘ Wenn ich das Lied höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Ich denke an die krachenden Ohrfeigen, die sich für gewolltes oder ungewolltes Aus-der-Reihe-Tanzen in mein Gesicht wuchten, jeder Schlag zwei Tage Schädelbrummen, garantiert.

Die Anlässe sind nichtig. Das erste Mal im Sommer 1936, am zweiten Tag auf der Insel, war es der Übermut. Auf dem Tagesplan stand Mittagsruhe, aber wie schafft es ein Zehneinhalbjähriger, von Jod und Nordseesalzen aufgekratzter leptosomer Knabe still im Bett zu liegen, wenn draußen hell die Sonne scheint, die Möwen kreischen und die anderen Sextaner auf der Bude von all den neuen Eindrücken genauso überdreht sind wie er selbst? Natürlich schafft er es nicht. Er singt stattdessen ein Nonsenslied: ‚Eine Wassermaus und eine Kröte, stiegen eines Abends spöte, einen steilen Berg hin-nan-nan-nan-nan-nan …‘ An dieser Stelle reißt Dr. Löden die Tür zu unserem Schlafraum auf. ‚Wer hat da gesungen?‘ Er bohrt seinen Geierblick in unseren Stubenältesten Kurt Brand hinein. Dem rutscht das Herz in die Pyjamahose. Er zeigt auf mich. Klatsch! Voll im Gesicht getroffen, schleuderte ich gegen die Spindwand und falle krachend vorneüber auf die Nase. Das ist der Auftakt, jetzt weiß ich, woran ich bin. Ohrfeigen und Dauerüberwachung stehen als Synonyme für Sylt und Nordseelandschulheim. Und das drei Sommer lang.“18

Möglicherweise unterschied sich Paul Löden mit diesem Verhalten nicht von den Praktiken vieler anderer Lehrer in der Zeit (und nicht nur in dieser), für die prügeln zur Pädagogik gehörte, zumindest als Mittel zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung.

Interessant ist, was Storjohann bei seinem Syltaufenthalt mit Klassenlehrer Löden 1939 erlebte, unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkrieges:

„Doch nun, in diesem Sommer 1939, bei unserem vierten Aufenthalt im Nordseeheim, ist alles ganz anders. Dr. Löden ist wie verwandelt. Freundlich, fürsorglich, fast ein Kumpel, nicht nur zu seinen Lieblingen Jürgen und Didi. Er ist nett zu allen. Kein Brüllen mehr, keine Stubenarreste, keine stumpfsinnigen Kampf- und Kadettenspiele. Statt Mißtrauen, ständiger Kontrollen und Bestrafungen: Großzügigkeit und Freizeit. Wie kann ein Mensch sich so verändern? ‚Na, ist doch klar! Er hat eben geschnallt, daß wir keine kleinen Kinder mehr sind‘, meint der lange Rudi, dessen Stimme gerade in den Keller gerutscht ist. Ich gebe mich damit zufrieden. Wir werden langsam erwachsen, das wird der Grund sein.

Natürlich ist das nicht der Grund. Was uns zugute kommt in diesen letzten Augusttagen 1939, ist die Besorgnis der Lehrer. In ihrem Aufenthaltsraum steht ein Radioapparat. Früher stand er meistens stumm und unbeachtet in der Ecke. Nun sind die Stühle davor fast immer besetzt. Die Lehrer sitzen dort als geschlossene Gesellschaft, mit angespannten Gesichtern, Warten auf die neuesten Nachrichten, versäumen kaum eine Rede, kaum eine aktuelle Übertragung. Manchmal schnappen wir auf, was sie miteinander reden. Gesprächsfetzen. Die Stimmen sind leiser als sonst, unruhiger, ernster. In Schülernähe tun sie, als sei der Wetterbericht das Wichtigste von der Welt, unser bevorstehendes Tischtennisturnier ein Ereignis von ungeheurer Bedeutung, aber wenn sie unter sich sind, fällt immer wieder, geflüstert und als bange Frage das eine Wort ‚Krieg‘ … ‚Wird es Krieg geben?‘

Es ist üblich, daß die Ehefrauen der Lehrer ihre Männer ins Nordseeheim begleiten. Dr. Löden hat außerdem noch seine beiden Kleinkinder dabei. Er nutzt jede Minute, jede Gelegenheit, um mit ihnen zusammen zu sein. Ich bemerke es schon. Doch meine Lebenserfahrung reicht nicht aus, den Zusammenhang zu begreifen, zu erkennen, daß die gelockerte Disziplin, der wir die viele Freizeit verdanken, mit der drohenden Kriegsgefahr zu tun hat. Unsere Freizeit läßt Dr. Löden Zeit für die Familie. Es sind vielleicht die letzten Tage, die er mit Frau und Kindern verleben kann. Er müßte als Reserveoffizier sofort zu seinem Regiment, wenn mobil gemacht wird. ‚Mobilmachung‘ – auch das ein Wort der Stunde.“19

Uwe Storjohann beschrieb damit eine einschneidende Lebenssituation von Paul Löden. Dieser wurde unmittelbar danach zur Wehrmacht eingezogen, mit Ausnahme von kurzen Fronturlauben kehrte Paul Löden erst nach Kriegsgefangenschaft am 29.9.1946 wieder nach Hamburg zurück.20

Löden war seit dem 15.7.1933 mit Elisabeth Karcher verheiratet und hatte drei Kinder, von denen eines tödlich verunglückte.21

Während seiner Kriegsgefangenschaft war Paul Löden am 24.5.1945 mitgeteilt worden, dass er, wie alle anderen Beamten, die vor dem 1.4.1933 der NSDAP beigetreten waren, mit sofortiger Wirkung von seinem Dienst beurlaubt werde. Am 20.6.1945 wurde Löden aus dem Dienst entlassen.22

Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft reichte Paul Löden seinen Entnazifizierungsfragebogen ein. Kurz darauf konnte er einige Leumundszeugnisse nachliefern, die aus meiner Sicht erstaunlich positiv waren und ihre Wirkung nicht verfehlten. So etwa vom neuen Schulleiter der Bismarck-Oberrealschule, Dr. Otto Nicolai, der jahrelang als Studienrat an der Schule gearbeitet hatte. Nicolai, der als Freimaurer nicht in die NSDAP eintreten konnte, schrieb nach 1945 nahezu für alle NS-belasteten Kollegen seiner Schule „Persilscheine“, als nach 1945 neu eingesetzter Schulleiter, der stets betonte, niemals der NSDAP angehört zu haben, mit erkennbarem Renommee bei den Entnazifizierungsausschüssen. Über Löden gutachtete er:
„Herr Paul Löden ist mir seit seiner frühesten Jugendzeit gut bekannt. Er war Schüler meiner Schule; auch nach der Schulzeit und während seiner Studienzeit und Lehrertätigkeit bin ich stets in enger Berührung mit ihm gewesen. Er entstammt einer sehr ehrenwerten Familie. Sein verstorbener Vater war der Hausmeister unserer Schule, ein Muster von Pflichttreue und das beste Vorbild eines Beamten. Er stand mir persönlich als Freimaurer nahe; aus sehr häufigen Gesprächen mit ihm weiß ich, in welcher Gesinnung Paul Löden erzogen worden ist. Er ist gewiss besten Glaubens gewesen, als er im Jahre 1932 in die NSDAP eintrat. In der SA war er seit 1934, wie ich annehme, durch damaligen äußeren Druck veranlasst. In der Partei hatte L. kein Amt, in der SA war er Rottenführer, und als Studienrat ist er erst 1938 angestellt worden, nachdem er schon 1932 sein Staatsexamen gemacht hat. Im Unterricht war er niemals politisch eingestellt, wie ich oft bemerken konnte, besonders bei häufigen gemeinsamen Aufenthalten in unserem Schullandheim auf Sylt. Im Krieg hat ihn schweres Leid getroffen. Er verlor seinen Vater, seine Schwiegereltern sind bei Bombenangriffen auf Freiburg im Breisgau getötet worden, sein kleiner Sohn wurde ihm durch ein Autounglück entrissen.“23

Die persönlichen Schicksalsschläge und die einjährige Kriegsgefangenschaft mögen zur Empathie für Paul Löden beigetragen haben. Denn auch der gegenüber den Nationalsozialisten kritisch eingestellte Lorenz Nicolaysen, der zwar 1937 auch der NSDAP beigetreten war, aber von Uwe Storjohann als begnadeter Pädagoge und Demokrat geschildert wurde und der nach 1945 als Schulleiter der Oberschule für Jungen in Blankenese eingesetzt worden war, sprach sich zugunsten von Paul Löden aus. Nicolaysen, der nach Lödens Eintritt in den Kriegsdienst dessen Klasse als Klassenlehrer übernahm, schrieb:
„Aus seiner Haltung und aus Gesprächen ging deutlich hervor, daß er aus Idealismus und im Glauben an eine gute Sache der Partei schon frühzeitig beigetreten war. Seine politischen Überzeugungen, die sich zwar im allgemeinen aus der nationalsozialistischen Ideologie ableiteten, aber doch einer kritischen Betrachtung sich nicht verschlossen, hat er in durchaus fairer Weise zum Ausdruck gebracht, ohne eine betonte Aktivität zu entfalten oder Meinungsgegner zu unterdrücken oder zu gefährden. Er gehört nach meiner Meinung zu der Gruppe der mißbrauchten Idealisten, die man als intellektuelle Opfer des Faschismus ansprechen kann und denen man die Berufsgrundlage wieder festigen sollte.“24

Der Beratende Ausschuss wertete die beiden Leumundszeugnisse sehr positiv, insbesondere die Aussage, dass Löden nicht sehr aktiv gewesen sei und abweichende Positionen anderer geachtet habe. Nach einem ausführlichen Gespräch mit ihm war der Ausschuss davon überzeugt, dass er persönlich immer stärker in kritischer Distanz zur Partei stand. „His first disappointment was the RÖHM scandal. But he was completely disillusioned by the pogroms in the autumn of 1938.“25

Dies war nun laut den Erinnerungen von Uwe Storjohann eine glatte Fehleinschätzung gewesen, da Paul Löden im Gegenteil an den Pogromen direkt beteiligt gewesen war. Der Beratende Ausschuss befand, dass Löden jenseits seiner formalen Belastung wertvolle Arbeit in der Schule leisten könne. Somit wurde die Wiedereinstellung befürwortet.26

Der Fachausschuss mochte dem nicht zustimmen und empfahl, Löden nicht wieder als Lehrer zu beschäftigen.27

Der Funktionsoffizier der britischen Militärregierung war anderer Auffassung und somit wurde Löden am 11.11.1946 bestätigt und schon am 25.11.1946 konnte Oberstudiendirektor Nicolai den Dienstantritt von Paul Löden in der Bismarckschule vermelden.28

Eine Entscheidung nach kurzmöglichster Überprüfung auf der Grundlage von falschen Aussagen von Paul Löden vor dem Beratenden Ausschuss und von „Persilscheinen“, die vom starken Eindruck der persönlichen Schicksalsschläge Lödens geprägt waren.

Interessant ist, was Uwe Storjohann mir im Gespräch außerdem noch erzählte. Er war 1974 mit einem jüngeren Arbeitskollegen beim NDR eher zufällig im Gespräch auf den Namen Paul Löden gestoßen. Beide hatten Löden als Klassenlehrer erlebt, Storjohann vor dem Krieg und der Kollege danach. Storjohann hatte ihm „die Grausamkeiten Lödens“ während seiner Zeit geschildert. „Ich stieß bei meinem Gegenüber jedoch auf Erstaunen, denn dieser hatte Löden immer als ‚eigentlich ganz nett‘ empfunden und eingeschätzt. Einzig beim Rudern habe Löden einen scharfen Ton angeschlagen“, so der Kollege Storjohanns im Gespräch. „Die NS-Historie sei jedoch selbstverständlich nicht im Geschichtsunterricht erwähnt worden.“29

Möglicherweise hatte es eine Verhaltensänderung bei dem Pädagogen Paul Löden nach dem Krieg gegeben.

Löden, dem ich in der NS-Zeit schon eine Karriere zugetraut hätte, wenn es nicht zum Krieg gekommen wäre, erlebte einen weiteren Karriereschritt 1959. Im Herbst 1958 hatte eine informelle Befragung an dem nun Bismarck-Schule genannten Gymnasium in der Bogenstraße ergeben, „dass das Kollegium als zukünftigen stellvertretenden Schulleiter Herrn Dr. Löden wünscht“, wie Oberstudiendirektor Radbruch am 5.3.1959 der Schulbehörde mitteilte. Am 2.3.1959 war nun die eigentliche Wahl durchgeführt worden und Löden erhielt 32 Stimmen von 35 Kollegen, einer stimmte gegen ihn und zwei enthielten sich der Stimme.30 Oberschulrat Prof. Möckelmann hatte auf dem Schreiben der Schule handschriftlich vermerkt: „Zwar hätte ich der Schule einen energischeren stellvertretenden Schulleiter gewünscht, aber gegen Herrn Dr. Löden kann man keine Bedenken geltend machen, die seine Eignung infrage stellen.“31

In seiner Beurteilung schrieb Möckelmann dann am 15.4.1959:
„Studienrat Dr. Paul Löden ist ein in allen Klassenstufen bewährter Lehrer von sicherem und besonnenem Wesen, vorbildlich in seiner Bescheidenheit, aber streng in sachlichen Forderungen, wenn sie notwendig sind. Besonders hervorzuheben ist die ruhige und selbstverständliche Art, mit der er als Protektor des Schülerrudervereins seine Jungen im Sinne der Schülermitverwaltung zur Verantwortungsfreude und Selbständigkeit erzieht. Er ist als stellvertretender Schulleiter gut geeignet.“32

1962 machte Oberstudiendirektor Robert Radbruch in seiner Beurteilung noch den Versuch, Paul Löden für die Übernahme einer Schulleitungsfunktion zu empfehlen: „Aufgrund seines hervorragenden Fachwissens, einer sehr guten pädagogischen Begabung und seines feinen menschlichen Wesens konnte er immer wieder besonders gute Unterrichts- und Erziehungserfolge erreichen. Regelmäßig führt er Oberstufenklassen in sehr feiner Weise durchs Abitur. Er ist für mich ein wertvoller Mitarbeiter und aufrichtiger Berater. Als solcher hat er wiederholt gezeigt, daß er auch geeignet ist, eine Schule zu leiten. Ich halte ihn darum für würdig, in jeder Hinsicht gefördert zu werden.“33

Daraus wurde zwar nichts, aber am 11.12.1962 erhielt Paul Löden eine Stellenzulage zu seiner A14-Besoldung und die Amtsbezeichnung „Studiendirektor“.

Das 40-jährige Dienstjubiläum feierte Löden am 7.4.1970 an der Schule, an der er immer tätig gewesen war, die er schon als Schüler besucht hatte und in deren Souterrain er in der Hausmeisterwohnung seiner Eltern aufgewachsen war. Am 31.3.1971 trat er in den vorzeitigen Ruhestand.

Paul Löden starb am 30.10.1984.34

Das Buch „Täterprofile, Band 2, Hamburg 2017“ ist erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg.

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte Paul Löden, StA HH, 361-3_A 2593
2 Kopie am 16.4.1930 bescheinigt vom Schulleiter der Lichtwarkschule, Heinrich Landahl, Personalakte a.a.O.
3 Bericht vom 27.10.1930, Personalakte a.a.O.
4 Personalakte a.a.O.
5 Personalakte a.a.O.
6 Hans-Peter de Lorent: Täterprofile, Bd. 1, Hamburg 2016, insbesondere S. 11ff., S. 397ff., S. 404ff. und S. 424ff.
7 Im Gespräch mit mir und Lena Griem am 21.6.2012, von Lena Griem protokolliert.
8 Laut Entnazifizierungsakte Löden, StA HH, 221-11_Ed 14741
9 Uwe Storjohann: „Hauptsache: Überleben“, Hamburg 1993, S. 49f.
10 Siehe die Biografie Haselmayer in: de Lorent 2016, S. 621ff.
11 Uwe Schmidt: Hamburger Schulen „Dritten Reich“, Hamburg 2010, S. 100. Die Dozenten und ihre Themen sind hier genannt worden.
12 Alle Biografien in: de Lorent 2016.
13 Daten laut Personalakte, a.a.O.
14 Laut Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte Löden, a.a.O.
15 Siehe auch die Biografie Karl Züge, in: de Lorent 2016, S. 385ff.
16 Siehe Anmerkung 2.
17 Storjohann 1993, S. 21f.
18 Storjohann 1993, S. 70ff.
19 Storjohann 1993, S. 72.
20 Laut Personalakte, a.a.O.
21 Personalakte, a.a.O.
22 Personalakte, a.a.O.
23 Gutachten von Otto Nicolai, undatiert, Entnazifizierungsakte a.a.O.
24 Schreiben vom 23.8.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
25 Beratender Ausschuss vom 30.8.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
26 Ebd.
27 Entscheidung vom 4.10.1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
28 Personalakte a.a.O.
29 Laut Mitschrift des Gesprächs mit Uwe Storjohann vom 21.6.2012.
30 Schreiben vom 5.3.1959, Personalakte a.a.O.
31 Ebd.
32 Beurteilung vom 15.4.1959, Personalakte a.a.O.
33 Beurteilung vom 22.11.1962, Personalakte a.a.O.
34 Alle Angaben laut Personalakte, a.a.O.
 

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und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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