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Ingrid Möller

(12.4. 1920 Altona – 23.5.2013)
BDM-Führerin, nach 1945 Schulleiterin der Schule Schanzenstraße 105
Schanzenstraße 105 (Wirkungsstätte)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat das Portrait über Ingrid Möller verfasst und es in seinem Buch „Täterprofile, Band 2“ veröffentlicht.

Ein ungewöhnlicher Fall ist die Geschichte von Ingrid Möller, die, Jahrgang 1920, in Hamburg zur Schule ging, nach kurzem Studium die erste Lehrerprüfung ablegte und dann bis Ende April 1945 als BDM-Führerin tätig war, zum Schluss als Bannmädelführerin. Nach dem Krieg war sie deswegen fast ein Jahr im Lager Staumühle bei Paderborn interniert. Danach versuchte sie in den Hamburger Schuldienst zu kommen. Das gelang erst 1949, die Lehrerausbildung musste noch beendet werden. Nach erstaunlich kurzer Zeit wurde Ingrid Möller 1957 zur Schulleiterin der Schule Schanzenstraße 105 berufen und löste dort die gerade pensionierte Emma Lange ab, die in der NS-Zeit im NSLB-Hamburg Gausachbearbeiterin für Mädchenerziehung gewesen war. Eine merkwürdige Staffelübergabe.

Ingrid Möller wurde am 12.4.1920 in Altona geboren. Sie besuchte dort von 1926 bis 1930 die Grundschule der 5. Mädchen-Volksschule, wechselte danach bis 1936 auf das Oberlyzeum Altona, um dann, nach eigenen Angaben, an der Frauenschule Altona 1938 die Reifeprüfung abzulegen.1 In der allgemeinen Beurteilung im Reifezeugnis wurde ihr bescheinigt: „Frl. M. ist gesund und körperlich leistungsfähig. Ihr klares und sicheres Urteil, ihr ernstes zielbewusstes Streben, so wie ihr überzeugtes und als Klassenführer tatkräftiges Eintreten für die Gemeinschaft machten Frl. M. zu einem persönlich und charakterlich wertvollen Menschen.“2

Danach absolvierte sie das sogenannte Pflichtjahr für Mädchen bei einer kinderreichen Familie in Blankenese, wo sie mit Hausarbeit und Kinderbetreuung beschäftigt war.3

In ihrer Entnazifizierungsakte gab sie an, von April 1939 bis zum 2. Oktober 1940 an der Hansestadt Hochschule für Lehrerbildung studiert und dieses erstaunlich kurze Studium am 2.10.1940 mit der ersten Prüfung für das Lehramt an Volksschulen mit „gut“ bestanden zu haben.4

Die Rektorin der Volksschule für Mädchen, Lucienstraße 3, Elise Kiesbye, schrieb in einem Leumundsschreiben 1947:
„Fräulein Ingrid Möller ist mir von ihrer frühesten Kindheit her bekannt. Da ihre Eltern meine Wohnungsnachbarn waren, habe ich ihre Entwicklung aus nächster Nähe verfolgen können. Sie war stets ein gutgeartetes, wohlerzogenes Kind. Mit der Gläubigkeit der Jugend gab sie sich den Idealen des Nazismus wie sie ihnen so überzeugend gepredigt wurden, hin und hegte bald den lebhaften Wunsch, in der BDM-Arbeit die Verwirklichung dieser Ideale vorbereiten zu helfen. Insbesondere lockte sie die soziale Seite der Arbeit und als Führerin bemühte sie sich vor allem um das verstehende Helfen von Mensch zu Mensch. Als Hauptringführerin zeigte sie viel Verständnis für die Notwendigkeiten der Schulen und arbeitete mit diesen freundlich zusammen. Ihre Gesamthaltung wurde stets von ruhiger Sachlichkeit, zu keiner Zeit von Fanatismus bestimmt.“5

Dieser „Persilschein“ von Elise Kiesbye spielte im Entnazifizierungsverfahren eine größere, für Ingrid Möller entscheidende, positive Rolle. Es wird noch genauer darauf einzugehen sein.

Erst einmal entschied sich Ingrid Möller gegen die weitere Arbeit und Ausbildung als Lehrerin in der Schule. Sie wandte sich der hauptamtlichen Arbeit im BDM zu und machte dort Schritt für Schritt Karriere. Sie wurde Jungmädel-Gruppenführerin, dann Hauptringführerin im Bann Altona des BDM. In dieser Funktion kommunizierte sie auch mit den Altonaer Mädchen-Schulen, da es an jeder dieser Schulen Vertrauenslehrerinnen für den BDM gab. In einem Schreiben vom 20.3.1942 bat sie alle Vertrauenslehrerinnen in Altona, einen Fragenkatalog auszufüllen, damit „wir einen Überblick über die zur Zeit vorhandenen Vertrauenslehrerinnen gewinnen“.6

Anschließend wurde Ingrid Möller nach Wilhelmshaven versetzt, danach nach Bremen-Lesum. Sie avancierte am „Führergeburtstag“, am 20.4.1944, zur Bannmädelführerin und war zentral als Leiterin von Lehrgängen des BDM-Werks „Glaube und Schönheit“ tätig.7

An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, ein paar Informationen über den Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend zu geben. Gisela Miller-Kipp schrieb:
„Der BDM war der Teilverband der weiblichen Jugend in der ‚Hitler-Jugend‘ (HJ), der staatlichen Jugendorganisation des ‚Dritten Reiches‘. Der Mitgliederstärke nach war der BDM deren zweite Hälfte – im BDM waren knapp 4 Millionen Kinder und Jugendliche organisiert, in der HJ waren es insgesamt 8,7 Millionen. (Stichtag: 20.4.1939). Zu seiner Zeit weltweit einzigartig, bot der BDM erstmals einer ganzen weiblichen Jugendgeneration in Deutschland an, ein eigenes selbstbestimmtes Jugendleben außerhalb von Elternhaus und Schule zu führen und sich an Staat und Gesellschaft aktiv zu beteiligen. Historisch-funktional gesehen war der BDM im Herrschaftssystem des Dritten Reiches freilich eine Institution zur Erfassung, zur politischen Kontrolle und gesellschaftlichen Lenkung der weiblichen Jugend. Durch den BDM gelang es, sie zum großen Teil an den ‚Führerstaat‘ zu binden.“8

 Miller-Kipp beschrieb auch, wie der Eintritt in den BDM stattfand:
„Mitglied wurde man nach der ‚Meldung‘ zum BDM bei der örtlichen HJ-Stelle durch eine feierliche Aufnahme in den ‚Bund‘. Diese Aufnahme erfolgte seit 1936 jeweils für den kompletten Jahrgang der dann 10-jährigen zum ‚Führergeburtstag‘ am 20. April. Sie wurde im ganzen ‚Reich‘ gefeiert, die zentrale Festveranstaltung auf der Marienburg in Königsberg wurde landesweit im Rundfunk übertragen. Die neuen Mitglieder trugen zum ersten Mal – stolz, wie die meisten sich erinnern – ihre Uniform. Nach halbjähriger Probezeit wurde man im Herbst desselben Jahres endgültig und wiederum feierlich in den BDM aufgenommen. Dort blieb man acht Jahre lang bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Nach der ‚Entlassung‘ aus dem BDM bot sich als Anschlussorganisation das ‚BDM-Werk Glaube und Schönheit‘ an. Es war 1938 für die 17- bis 21-jährige weibliche Jugend gegründet worden und organisierte Arbeitsgemeinschaften auf den Gebieten Sport/Gymnastik, Hauswirtschaft, Gesundheit und Kultur. Die Mitgliedschaft war freiwillig, wurde offiziell aber gern als reguläre ‚Überführung‘ und Pflichtveranstaltung hingestellt. Nicht einmal die Hälfte der BDM-Mitglieder scheint davon Gebrauch gemacht zu haben.“

Gisela Miller-Kipp beschrieb auch genauer, woraus die BDM-Aktivitäten bestanden und welchen Effekt sie hatten:
„Dies Gefühl der persönlichen Verbundenheit ergab sich neben dem beschriebenen Führungsaufbau aus der jugendspezifischen Praxis des BDM. Sie hieß ‚Dienst‘, kam als Erlebnisangebot daher und stellte für die weibliche Jugend eine sozial, kulturell und emotional attraktive gesellschaftliche Offerte dar. Sie bestand aus einer ununterbrochenen Kette von gemeinschaftlichen Aktivitäten in drei Kategorien: Formaldienst, Freizeitaktivitäten und gesellschaftliche Dienste im engeren Sinne von Dienstleistung. Die für die skizzierte Mentalitätsbildung wichtigsten und einprägsamsten Ereignisse waren die Feste und Feierlichkeiten im Rhythmus des sogenannten ‚Feierjahres‘ des ‚Dritten Reiches‘, die Ausflüge und Fahrten, dabei Singen und Gesang und Lagerfeuerromantik, dann der Sport, dieser freilich nicht mehr so einhellig wie die zuvor genannten Aktivitäten. Das Sportprogramm im BDM war in Umfang und Art für die weibliche Jugend seinerzeit neu. Es propagierte das sportlich-natürliche, das gesunde und tatkräftige (!) Deutsche Mädel und wurde großenteils im Freien absolviert. Das lag nicht jeder, abgesehen davon, dass Unsportlichen Sport nie liegt, und wurde auch von manchen Eltern missfällig angesehen; dazu saß auch die Sportbekleidung nach damaliger Ansicht recht knapp. Für den Sport gab es wöchentlich einen Sportnachmittag, außerdem wurde jährlich ein großer ‚Reichssportwettkampf‘ organisiert.

In der Kette der Ereignisse und Veranstaltungen, die das BDM-Jugend-Kollektiv zusammenspannte, sind zu nennen: der ebenfalls wöchentliche ‚Heimatsabend‘, die ‚kleine Fahrt‘ im Sommer und das jährliche ‚Jugendlager‘. Dazu kamen übers Jahr verteilt gesellschaftliche Einsätze wie Erntehilfe, volkswirtschaftliche und karitative Sammlungen, soziale Hilfsdienste sowie ‚kulturelle Einsätze‘. Mit dieser Kette von Aktivitäten war die BDM-Jugend zum einen durch Dienstleistung in das gesellschaftliche Leben des ‚Dritten Reiches‘ integriert, zum anderen durch Feiern in die ‚Volksgemeinschaft‘ eingebunden. So empfand sich dann jedes BDM-Mitglied zugleich als Mitglied einer einzigen dem ‚Führer‘ und Deutschland dienenden Jugendgemeinschaft und als Mitglied der großen deutschen Volksgemeinschaft.“9

Die Reichsreferentin des BDM von 1937 bis April 1945, Dr. Jutta Rüdiger10, hatte im rechtsradikalen Askania-Verlag, der nach Ende der Nazizeit darauf spezialisiert war, Erinnerungen ehemaliger Nationalsozialisten und Rechtfertigungsschriften zu veröffentlichen, 1983 das Buch „Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete“ veröffentlicht und ein Jahr später „Der Bund Deutscher Mädel. Eine Richtigstellung“. Jutta Rüdiger war die höchste BDM-Führerin der Reichsjugendführung in Berlin gewesen und leitete ab 1942 auch die BDM-Organisation „Glaube und Schönheit“, für die Ingrid Möller tätig gewesen war. Jenseits aller Beschönigung und Rechtfertigung gibt insbesondere das erste Buch einen materialreichen Einblick in die Arbeit und die Struktur der Hitlerjugend und des BDM.11

Ingrid Möller war am 20.4.1944 24 Jahre alt, als sie zur Bannmädelführerin befördert wurde, damit befand sie sich auf der sechsten Hierarchieebene des BDM, im Ranggefüge mit der Wehrmacht verglichen rangierte sie auf der Stufe eines Oberst. Um diese Funktion zu erlangen, hatte sie ein langes Auslese- und Ausbildungsverfahren durchlaufen. Zur Auslese der Führerinnen schrieb Jutta Rüdiger:
„Charakter und Leistung, kein totes Wissen, sondern Bildung und eine vorbildliche Haltung sollten die Führungspersönlichkeit auszeichnen. Die Hitler-Jugend entschied sich deshalb dafür, die Jugendlichen, die sich bereits in den unteren Einheiten bewährt hatten oder durch Unternehmungsgeist, Durchsetzungsvermögen und vor allem durch eine vorbildliche Haltung aufgefallen waren, auszulesen, um sie weiterzubilden und zu fördern.“12

Nach Rüdiger hatte Ingrid Möller in ihren Funktionen als BDM-Führerin mindestens alle zwei Jahre eine Ausbildung in den Führerinnenschulen erhalten, darüber hinaus drei Wochen in der Reichsführerinnenschule in Potsdam. „Die Schulung bestand in: Leibeserziehung (bei den Mädelführerinnen vorwiegend Gymnastik, bei den Führern unter anderem Wehrsport), weltanschaulicher Schulung, Kulturarbeit (Singen, Werken, Laienspiel, Brauchtumsarbeit), ferner in dem Besuch von Theater, Konzerten, Ausstellungen, Dichterlesungen. Ergänzend wurden Vorträge gehalten und Arbeitsgemeinschaften über die verschiedenen Arbeitsgebiete gebildet, zum Beispiel über die Gesundheitsführung, besonders über Fragen der körperlichen und seelischen Entwicklung des Jugendlichen und der sich daraus für die Führung ergebenden Konsequenzen: über die Zusammenarbeit mit den Eltern, der Schule, den Berufsständen; für die Mädelführung zusätzlich über Wohnkultur und über geschmackvolles Kleiden – einschließlich Modevorführungen“.13 Diese Beschreibung hatte verharmlosenden Charakter und klang fast nach Erzieher- und Lehrerausbildung. Sie muss ergänzt werden, durch das, was Jutta Rüdiger zum Thema weltanschauliche Schulung schrieb:

„Die Einheit nationalsozialistischen Denkens muß immer klar in all unserer Schulungsarbeit herausgestellt werden. Gedanken von Rasse und Volk, Blut und Boden sind die Kerngedanken, die als letzte Erkenntnisse und Bekenntnisse unseres Glaubens unser ganzes Volk durchdringen. Diese Totalität unserer Weltanschauung müssen wir sehen. Für unsere Schulungsarbeit bedeutet das: Nicht die Fülle sämtlicher Lebensbereiche müssen wir behandeln, um junge Nationalsozialisten zu formen, sondern wenige Gebiete genügen, weil sich überall die Grundgedanken nationalsozialistischer Weltanschauung aufzeigen lassen.“14

Der Jahrgangsschulungsplan 1938/39 für den Bund Deutscher Mädel sah folgendermaßen aus:
„1. Jahr: der Kampf um das Reich, Germanen über Europa, Das Reich ist des Kaisers, Ulrich von Hutten (Bauernkriege), Der große Schwabenzug, Der Dreißigjährige Krieg, Der große Kurfürst, Freiherr vom Stein, Bismarck, der Weltkrieg.

2. Jahr: Die nationalsozialistische Bewegung im Kampf um Volk und Reich, Die Aufstellung des Parteiprogramms, Die NSDAP 1919–1923, 1924–1933, Das Aufbauwerk des Führers, Der geeinte Staat (Zerschlagung der Parteien), Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Wehrfreiheit, Wirtschaftliche Freiheit, Gegen den Weltbolschewismus, Groß-Deutschland (Volk vor den Grenzen)

3. Jahr: Das Volk und sein Blutserbe, Maßnahmen des Dritten Reiches zur Rassenpolitik, Ahnensblatt, Sippschaftstafel, Gesetz zur Erhaltung und Förderung kinderreicher Familien, Maßnahmen zur Siedlung, Nürnberger Gesetze, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und Ehegesundheitsgesetz, Gegner des Rassegedankens, Künder deutschen Sippenstolzes, Volk und Persönlichkeit, Liselotte von der Pfalz, Friedrich Schiller, Maria Theresia, Jacob und Wilhelm Grimm , Peter Rosegger, Gorch Fock, Weihnachten.“15 Hier wurde deutlich, dass BDM mehr war als Feiern, Gemeinschaft, Sport und Gesundheit.

Nach eigenen Angaben war es Ingrid Möllers Aufgabe, vom 13.4.1943 bis zum 12.4.1945 in Bremen-Lesum als Bannmädelführerin Lehrgänge im BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ durchzuführen. Auch die Überlegungen und die Konzeption dazu hatte Jutta Rüdiger ausführlich beschrieben:

„Das BDM-Werk ‚Glaube und Schönheit‘ führte die Mädel zum Endziel der gesamten Erziehungsarbeit des Bundes Deutscher Mädel. Während im Jungmädelbund und im Mädelbund die charakterliche Formung im Vordergrund stand, wurde hier die speziell weibliche Erziehung aufgegriffen, die das Mädel auf seine Aufgabe als Frau in Beruf und Familie vorbereiten sollte. Im Januar 1938 wurde das BDM-Werk ‚Glaube und Schönheit‘ gegründet. Im BDM-Werk wurden vier wesentliche Arbeitsgebiete unterschieden: 1. Leibeserziehung, 2. Gesunde Lebensführung, 3. Persönliche Lebensgestaltung, 4. Politische und geistige Bildung.“ Rüdiger beschrieb im Weiteren, was genau darunter jeweils zu verstehen war. Bei Gesunder Lebensführung wurde u.a. aufgezählt: „Kochen, Vorratshaltung einschließlich Einkauf, gesunde Ernährung, Gesundheitsdienst, Krankenpflege, Säuglingspflege, Körper- und Schönheitspflege“.16

Bei Persönlicher Lebensgestaltung gab es keine berufliche Orientierung, sondern Freizeitgestaltung, „geschmackvolles Kleiden, Schönheit des Wohnens, Kultur in Heim und Familie Pflege der Musik, des Liedgutes, des Brauchtums, Fest- und Feiergestaltung.“17 Die Rollen waren hier eindeutig verteilt. Und bei Politischer und Geistiger Bildung stand dann: „Fragen des völkischen Lebens, Volkstumsarbeit, Auslandskunde, Geopolitik, Kunstgeschichte, Literatur.“18

Mit Ende der NS-Herrschaft ergab sich eine schwierige Situation für Ingrid Möller. Sie hatte ihre Ausbildung als Lehrerin nicht beendet. Als hauptamtliche BDM-Führerin war sie schwer belastet, so dass sie am 10.2.1946 verhaftet wurde und in das Internierungslager Staumühle bei Paderborn überführt wurde. Vorher war sie in Hamburg bei Schulrat Gustav Schmidt gewesen, der es ermöglicht hatte, sie Ende April 1945 als Amtsanwärterin in den Hamburger Schuldienst einzustellen. Da die Schulen noch geschlossen waren, arbeitete Ingrid Möller im Sommer 1945 auf eigenen Wunsch als Hilfsschwester im staatlichen Krankenhaus Langenhorn. Inzwischen hatte sie ihren Entnazifizierungsfragebogen abgegeben und nun sah Gustav Schmidt ein Problem: „Nach Ausfüllung meines Fragebogens im Juni 1945 riet mir Herr Schulrat Schmidt, dessen Schulkreis ich damals zugeteilt worden war, meine Kündigung bei der Hamburger Schulverwaltung einzureichen, da ich sonst eventuell mit einer Kündigung von Seiten der Schulverwaltung zu rechnen hätte. So schied ich zum 1.8.1945 auf eigenes Gesuch wieder aus dem Dienst der Schulverwaltung aus. Im Herbst 1945 bat ich um die Genehmigung, an dem Sonderlehrgang für Junglehrerinnen in Hamburg teilnehmen zu dürfen, die mir auch erteilt wurde, sodaß ich im Winter 1945 die Vorlesungen und Übungen dieses Lehrganges besuchen konnte und die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den Fragen der heutigen Erziehungswissenschaft und des geistig-politischen Lebens der Gegenwart hatte.“19

Die Vergangenheit war noch gar nicht solange vergangen, aber es war schon eine andere Zeit gewesen, in der Ingrid Möller stärker pädagogisch sozialisiert worden war als in der kurzen Phase ihrer Lehrerausbildung.

Zwischenzeitlich ergab sich dann noch ein weiteres Problem für Ingrid Möller. Sie wurde erneut aus dem Lehrgang entlassen, mit der Begründung, „am Wehrwolf beteiligt zu sein“. Die Organisation „Wehrwolf“ (meistens Werwolf geschrieben) war eine nationalsozialistische Freischärler- bzw. Untergrundbewegung am Ende des Zweiten Weltkrieges, die im September 1944 von SS-Reichsführer Heinrich Himmler ins Leben gerufen worden war. Kommandos des Werwolf verübten vereinzelte Brandstiftungen und Sabotageakte und richteten sich in den letzten Kriegswochen vor allem gegen Deserteure und kriegsmüde Deutsche. Durch einen Rundfunkappell des „Sender Werwolf“ wurde diese Bewegung am 1. April 1945 als angeblich „spontane Untergrundbewegung“ der deutschen Bevölkerung in den besetzten Gebieten des Reiches bekannt gemacht: „Haß ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei.“20

Ingrid Möller kam in Bedrängnis und gab gegenüber dem Leiter des Sonderlehrganges für Junglehrerinnen, Schulrat Hans Brunckhorst, am 24.1.1946 folgende Erklärung ab:

„Nachdem meine Arbeit als BDM-Führerin in der Nähe Bremens infolge der dort einsetzenden Kampftätigkeit nicht mehr möglich war, wurde ich an die Dienststelle der Reichsjugendführung in Hamburg verwiesen zur weiteren Verwendung. Da im April 1945 in Hamburg keine Einsatzmöglichkeiten für mich bestanden, bekam ich die Anweisung, mich in einer Langenhorner Kaserne zu einem dort laufenden Frauen- und Mädellehrgang zu melden. Über Sinn und Aufgabe dieses Lehrganges schien in der Dienststelle der Reichsführung nichts Genaues vorzuliegen, mir selbst war jedenfalls gar nichts darüber bekannt. In Langenhorn erfuhr ich dann im Lehrgang selbst, daß von dort ein Einsatz von Frauen und Mädeln in Zusammenarbeit mit der Truppe und einzelnen in verschiedener Form geplant war, der mir und diejenigen Teilnehmerinnen, die BDM-Führerinnen waren, als unvereinbar mit unseren bisherigen Erziehungszielen erschien. Es ergab sich in den wenigen Tagen, die ich in Langenhorn war, ein eindeutiger Gegensatz zwischen der Lehrgangsleitung und den anwesenden BDM-Führerinnen, der schließlich dazu führte, daß diese unter einem Vorwand aus dem Lehrgang entfernt wurden, ehe er beendet war. So fehlte auch eine endgültige Zusammenfassung und Einordnung der einzelnen Vorträge für einen praktischen Einsatz, da ich ja nur die ersten Tage eines Lehrganges miterlebte, in den ich ahnungslos hineingeraten war, und dessen Ziele und Methoden ich scharf ablehnte. Nachdem ich mit mehreren anderen Teilnehmerinnen aus diesem Lehrgang ausgeschlossen war, habe ich selbstverständlich auch nie wieder etwas darüber gehört und keinerlei Verbindung zu derartigen Bestrebungen gehabt. Aufgrund der oben angeführten Tatsachen erscheint es mir nicht gerechtfertigt, mich der Beteiligung am ‚Wehrwolf‘ zu bezichtigen.“21

Zu den Akten gegeben wurde eine Information der Britischen Militärregierung vom 29.1.1946,in der es hieß:
„Möller war von 1942–1943 Bannmädelführerin in Wilhelmshaven. 1943 wurde ihr die Leitung der BDM-Führerinnen-Schule in Lesum bei Bremen übertragen, wo sie persönlich die weltanschauliche Schulung durchführte. Später besuchte sie eine Sabotageschule in Langenhorn, die unter Leitung der SS stand. Der Ausbildungsplan umfaßte auch Ausbildung der BDM-Angehörigen zur Arbeit in Kasernen der Alliierten, um dort Nachrichten über Truppenbewegungen zu erlangen, und Arbeit in alliierten Küchen und Kasinos, um dort das Essen zu vergiften. Es besteht nicht die Absicht, die Möller jetzt zu verhaften, sie wird jedoch durch diese Abteilung streng überwacht.“22

Ingrid Möller wurde kurz darauf doch verhaftet und ein Jahr lang in einem Internierungslager festgehalten.

Sie meldete sich am 22.8.1947 wieder und bewarb sich um Wiedereinstellung in den Dienst der Schulbehörde. Ihr Anliegen war, in einem in Hamburg durchgeführten Entnazifizierungsverfahren eine günstigere Einstufung als die Kategorie III zu bekommen, mit der sie aus der Internierung entlassen worden war.23 Sie reichte ihren Entnazifizierungsfragebogen ein und erklärte zu ihrer Motivation, sich statt für die Fortführung der Lehrerausbildung für den BDM-Dienst entschieden zu haben:

„Auf meine Bitte wurde ich von der Schulverwaltung vorläufig vom Dienst in der Schule freigestellt, da ich den Wunsch hatte, einige Zeit in der BDM-Arbeit tätig zu sein, ehe ich endgültig in den Schuldienst eintrat. Ich glaubte damals, in der Jugendführung während des Krieges mehr Möglichkeiten zu intensiver Erziehungsarbeit zu haben als in der Schule, die mir durch das Hineintragen vieler schulfremder Aufgaben in der Kriegszeit sehr in ihren Erziehungsmöglichkeiten eingeengt schien.“24

Ingrid Möller hatte in ihrem Entnazifizierungsfragebogen neben ihrer Funktionstätigkeit beim BDM angegeben, dass sie am 1.7.1933 in die HJ (BDM) eingetreten war, während ihres Studiums vom 1.5.1939 bis zum 1.10.1940 Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes gewesen und am 1.9.1939 in die NSDAP eingetreten war. Interessant auch, dass sie unter Auslandsreisen angegeben hatte: „Holland, einige Tage Juli 1944, Zweck der Reise: Kurierdienst.“25

Sie hatte einige Leumundszeugnisse mit eingereicht, so etwa von dem Buchhändler, bei dem sie als ungelernte Hilfskraft arbeitete: „Sie erfüllt ihre Pflichten in mustergültiger Weise, zeigt sich kameradschaftlich, ist pünktlich und zuverlässig. Ich habe bei gelegentlichen Diskussionen, die unter den Mitarbeitern über politische Dinge stattfanden, von Fräulein Möller nie eine Äußerung gehört, die Rückschlüsse auf eine aktive Nazigesinnung zulassen. Ich kann mir daher aufgrund der mir bekannten charakterlichen Eigenschaft das Urteil erlauben, dass Fräulein Möller bestimmt nicht die Gesinnung einer aktiven Nationalsozialistin hat.“26

Und der Apotheker der Apotheke in Blankenese bescheinigte Ingrid Möller: „Aus Gesprächen mit Fräulein Möller habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie den Geschehnissen und politischen Vorgängen der Jetztzeit sowie den Maßnahmen der Besatzungsmacht objektiv und unbeeinflusst durch ihre frühere Parteizugehörigkeit gegenübersteht.“27

Das wichtigste Leumundsschreiben war offenbar von der Rektorin Elise Kiesbye gekommen, das ich schon erwähnt habe. Sie hatte noch geschrieben: „Ihre Gesamthaltung wurde stets von ruhiger Sachlichkeit, zu keiner Zeit von Fanatismus bestimmt. Dieses Bemühen um Sachlichkeit hat sie inzwischen zu anderen Erkenntnissen über den inneren Wert der Idee, der sie diente, geführt, und sie ist heute bestimmt keine Nazistin mehr, bildet also auch keine politische Gefahr. Bei ihrer charakterlichen Reife und ihren erzieherischen Fähigkeiten dürfte sie als Lehrerin Gutes bewirken können. Ich unterstütze daher ihre Bitte um Wiedereinstellung in den Schuldienst aufs Wärmste.“28

Frau Kiesbye hatte darauf hingewiesen selbst nicht der NSDAP angehört und sich auch „nie um die Mitgliedschaft bemüht“ zu haben.29

Das hatte seine Wirkung beim Entnazifizierungsausschuss nicht verfehlt: „Unter den verschiedenen eingereichten Gutachten und Zeugnissen scheint das von Frau Rektorin i. R. Kiesbye gegebene am wichtigsten; es ist für Frl. Möller voll positiv zu werten.“30 Was die Ausschussmitglieder nicht wussten, war, dass es eine sehr viel engere Beziehung zwischen Elise Kiesbye und der Familie von Ingrid Möller gegeben hatte. Sie waren nicht Wohnungnachbarn gewesen, sondern wohnten in derselben Straße, der Bülowstraße Nr. 8 (Möller) und Nr. 12 (Kiesbye). Die eigentliche Verbindung bestand aber darin, dass Elise Kiesbye Schulleiterin der Schule Lucienstraße 3 gewesen war und Julius Möller, der Vater von Ingrid Möller, dort stellvertretender Schulleiter. Und das während der NS-Zeit.31 Das waren enge persönliche Kontakte, aus denen „Persilscheine“ entstanden.

Auf Elise Kiesbye (1884–1965) bezogen hatte der fanatische Altonaer NS-Schulrat Karl Schlofeldt am 24.10.1942 die Frage gestellt, „ob Frl. Kiesbye in dem Amt einer Schulleiterin belassen werden kann, da sie aus religiösen Gründen von den Möglichkeiten, in die NSDAP aufgenommen zu werden, keinen Gebrauch gemacht hat“.32

In ihrem Entnazifizierungsverfahren hatte Kurt Zeidler in seinem Bericht über Elise Kiesbye geschrieben: „Frl. Kiesbye genießt in der Altonaer Lehrerschaft ein bedeutendes Ansehen. Ihre warmherzige, echt frauliche Art sichert ihr die Achtung aller, die mit ihr zu tun haben. Sie hat sich in der Nazizeit tapfer gehalten und, obwohl sie in ihrem Amt belassen wurde, keine entehrenden Konzessionen gemacht. Der NSDAP ist sie nicht beigetreten“33

Und auch ein anderer „Persilschein“, von dem stellvertretenden Schulleiter der Schule Alsenstraße 19 während der NS-Zeit, Karl Paschen, der nach 1945 Schulleiter der kleinen Schule Taubenstraße 6 auf St. Pauli geworden war, machte den Eindruck von persönlich verbundener Gefälligkeit. Viermal kommt in dem Schreiben die Begrifflichkeit von Führerin und Führer vor:
„Ingrid Möller kenne ich seit ihrem 9. Lebensjahr. Während gemeinsamer Ferienaufenthalte zusammen mit den Eltern und bei vielen Besuchen in der Familie Möller habe ich Gelegenheit gehabt, Fräulein Möller in ihrer geistigen und charakterlichen Entwicklung zu beobachten. Fräulein Möller ist ein recht gut begabter Mensch. Den Weg durch die höhere Schule bis zum Abitur ist sie ohne Schwierigkeiten gegangen. Ihre Führung war, wie ihre Zeugnisse auch beweisen, stets einwandfrei. Schon früh hegte sie den Wunsch, Lehrerin zu werden. Dieser Wunsch entsprang einer natürlichen Veranlagung für den Erzieherberuf. Ihr lag es schon von früh an sehr gut, andere zu betreuen und zu führen. Aus dieser Veranlagung heraus ist es auch zu verstehen, daß sie nach ihrem Eintritt in den BDM verhältnismäßig früh einen Führerposten bekam und allmählich zur Mädelringführerin aufstieg. Es war reinster Idealismus bei ihr, daß sie sich zur nationalsozialistischen Weltanschauung bekannte. Sie glaubte, einer reinen und gerechten Sache zu dienen und ahnte nichts von den Dingen, die nach dem Zusammenbruch an die Öffentlichkeit kamen. Sie war tolerant gegenüber Menschen, die anders eingestellt waren und achtete auch deren Meinung und Auffassung. Sie war in keiner Weise fanatisch. Selbstsüchtige Absichten lagen ihr vollkommen fern, sie war Idealistin. Die Enttäuschung, die sie nach dem Zusammenbruch erlebte, war groß und bitter.“34

Karl Paschen (1889–1972) war aus meiner Sicht selbst NS-belastet. Er war 1937 Mitglied der NSDAP geworden, von 1930 bis 1944 stellvertretender Schulleiter gewesen und zum 1.7.1944 mit der Schulleitung der Schule Alsenstraße 19 beauftragt worden. Schulrat Ernst Preuße schrieb zur Begründung seiner Ernennung zum Schulleiter am 10.3.1943: „Die politische Haltung von Herrn Paschen ist völlig einwandfrei. Er steht durchaus positiv zum neuen Staat und seinen Einrichtungen.“35

Der Entnazifizierungsausschuss tat sich schwer mit einer einheitlichen Entscheidung für Ingrid Möller. Im Beratenden Ausschuss gab es zwei unterschiedliche Positionen, die getrennt ausgewiesen wurden, was ich äußerst selten gesehen habe. Gemeinsam wurde festgestellt:

„Die Hauptbelastung der Antragstellerin ist das innegehabte Amt einer Bannmädelführerin im BDM. Die Amnestie ist auf sie als einer hauptamtlich Angestellten nicht anwendbar. Nach ihren schriftlichen und persönlich vor dem BA wiederholten und unterstrichenen Angaben ist Frl. Möller früher gläubige Nazianhängerin gewesen, sie habe jedoch innerlich völlig mit diesem Regime gebrochen, nachdem sie seine Verderblichkeit für Deutschland eingesehen habe. Ihre jetzige Tätigkeit in einer Leihbücherei befriedigt sie nicht, ihre betonte Aktivität drängt sie erneut in die Schule. Unter den verschiedenen eingereichten Gutachten und Zeugnissen scheint das von Frau Rektorin i.R. Kiesbye gegebene am wichtigsten; es ist für Fräulein Möller voll positiv zu werten. Ebenfalls tritt Herr Schulrat Werdier klar für Fräulein Möller ein. Nach gründlicher und grundsätzlicher Durchdenkung des Falles Möller kommt der BA nicht zu einer einheitlichen Stellungnahme, sondern muß zwei unterschiedliche Formulierungen vorlegen.“36

Die Ausschussmitglieder Otto Weinheber und E. Fröhlich stellten fest:
„Eine uneingeschränkte Abstufung in Gruppe IV kann bei einer ehemaligen Bannmädelführerin, die nach ihrer Berufsausbildung nicht in die Schule, sondern in den BDM ging, nicht gegeben werden. In Anbetracht der günstigen Beurteilungen und des offensichtlich vorhandenen echten pädagogischen Tätigkeitsdranges der Antragstellerin ist der BA jedoch mit einer Abstufung in IV einverstanden, wenn bei einer Wiedereinstellung Frl. M. während einer ein- oder zweijährigen Bewährungsfrist im Dienst der besonders scharfen Beobachtung durch einen Schulrat und eine Schulleitung unterworfen wird. Nach dieser Bewährungsfrist, die bei diesem Präzedenzfall unerlässlich erscheint, wäre endgültig über Frl. M. zu entscheiden.“37

Das dritte Ausschussmitglied, Alwin Zels, begründete sein abweichendes Votum folgendermaßen:
„Auch bei höchster Würdigung der für Frl. M. eintretenden Gutachten und Zeugnisse kann ich einer Abstufung in Gruppe IV nicht zustimmen. Die Belastung als Bannmädelführerin erscheint mir grundsätzlich als so schwerwiegend, daß ich eine Befürwortung der Abstufung versagen muß.“38

Der weitere Fortgang ist lückenhaft dokumentiert. Offensichtlich galt das Mehrheitsvotum des Beratenden Ausschusses. Ingrid Möller wurde vom Fachausschuss am 23.9.1947 in Kategorie IV bestätigt und danach Lehramtsanwärterin. Am 10.5.1949 wurde sie dann sogar in Kategorie V eingruppiert, als Entlastete.39

Frau Möller absolvierte den zweiten Teil ihrer Lehrerausbildung an der Schule Schanzenstraße 105, an der die ehemalige NSLB-Gauverantwortliche für die Mädchenerziehung, Emma Lange, Schulleiterin war. Sehr wahrscheinlich ist es aus meiner Sicht, dass es eine Bekanntschaft zwischen Emma Lange und Ingrid Möller aus deren Funktionen im NSLB und im BDM gegeben hatte und die Zuteilung zur Schule Schanzenstraße 105 nicht zufällig erfolgte. Auch nicht ganz eindeutig zuzuordnen ist der Einsatz für Ingrid Möller vom neuen Schulrat dieser Region, Robert Werdier, der während der NS-Zeit Lehrer an einer Nachbarschule der Schule Schanzenstraße 105 gewesen war, an der Schule Moorkamp 3. Werdier war ein eindeutiger Nazi-Gegner gewesen. Hier bleibt vieles spekulativ.

Bemerkenswert ist die weitere berufliche Entwicklung von Ingrid Möller. Als Emma Lange 1957 in den Ruhestand trat, wurde Ingrid Möller ihre Nachfolgerin als Schulleiterin und blieb dies über 25 Jahre bis zum Sommer 1982.40

Ingrid Möller hatte möglicherweise durch ihre hauptamtliche Tätigkeit als BDM-Führerin die notwendigen Führungskompetenzen entwickeln können. Und sie war in das Kollegium einer Mädchenschule geraten, mit der ihr zugewandten Emma Lange41 als Schulleiterin, 18 anderen Kolleginnen und sechs Männern, die deutlich älter waren und eine NS-Vergangenheit hatten, die ihnen bei der Entnazifizierung Schwierigkeiten bereitet hatte. So etwa Alfred Lübkert, der vertretungsweise die Schule geleitet hatte, nachdem der statt Emma Lange 1933 eingesetzte Schulleiter in den Krieg gezogen war. Alfred Lübkert, Jahrgang 1901, war NSLB-Mitglied seit 1933, in der NSDAP seit 1937.42 Dann war da noch Johannes Lorenz, Jahrgang 1903, der auch NSDAP-Mitglied seit 1937 war, im NSLB seit dem 1.5.1933, Zellenleiter und Blockwart im Reichsluftschutzbund.43 Hans Ohrt, Jahrgang 1912, in der NSDAP ebenfalls seit dem 1.5.1937, im NSLB seit 1933, der an der Schule Eppendorfer Weg 65 nach seinen Angaben „als jüngstes Mitglied des Kollegiums seinerzeit aufgefordert worden war, das Amt des Schulwalters des NSLB zu übernehmen“, wie die Funktion der Verbindungsperson der Schule zum NSLB genannt wurde.44 Oder Johannes Kollath, Jahrgang 1908, der 1937 aus Danzig nach Hamburg gekommen war, Mitglied in der NSDAP seit 1938 und im NSLB seit 1936.45 Alle diese Männer waren während des Krieges bei der Wehrmacht gewesen.

Schließlich noch Tjard Carstens, der in Ingrid Möllers Amtszeit als stellvertretender Schulleiter fungierte. Carstens, Jahrgang 1902, war schon in der NS-Zeit stellvertretender Schulleiter an der Schule Hohe Weide 12 gewesen, im NSLB Mitglied seit 1933, Schulwalter seit 1939, in die NSDAP am 1.5.1940 eingetreten.46 Sie waren alle NS-belastet, wenngleich ohne fanatische Nationalsozialisten gewesen zu sein.

Auch das erklärt vielleicht, warum die Wahl auf Ingrid Möller fiel.

Von Schulrat Robert Werdier war Ingrid Möller schon am 29.6.1950 sehr positiv beurteilt worden, als es noch um ihre Anstellung als Lehrerin ging:
„Fräulein Möller ist eine sehr tüchtige, fleißige, einsatzbereite Lehrerin, die in jedem Semester eine Reihe von Kursen im Institut für Lehrerfortbildung mitmacht, um dort neue Gedanken und Anregung zu erwerben. Ihre Klasse ist bei guter Disziplin gut gefördert. Die Eltern wissen ihre Kinder bei ihr in besten Händen; von den Kollegen wird sie geschätzt.“47

Und auch Schulleiterin Emma Lange war am 17.7.1952 voll des Lobes für Ingrid Möller:

„Frl. Möller arbeitet sicher und zielbewusst. Sie ist sprachlich gewandt, vielseitig begabt und sehr auf ihre Weiterbildung bedacht. Dadurch fällt es ihr leicht, aus der Fülle der gut vorbereiteten Unterrichtstoffe den Kindern Wertvolles zu bieten. Da sie daneben die tägliche Kleinarbeit nicht vergißt, sind die Leistungen ihrer Klasse gut. Frl. Möller sieht soziale Probleme und versucht sie zu lösen. Die daraus erwachsene Fühlungnahme mit den Elternhäusern erleichtert ihr die Erziehungsarbeit sehr. Frl. Möller hat die staatliche Prüfung für Gymnastiklehrerinnen mit gut bestanden. Ich halte Frl. Möller für eine tüchtige Lehrkraft, die nach m. M. besonders befähigt ist, Oberklassen zu führen.“48

Bei der geschilderten Zusammensetzung des Kollegiums überrascht die Blitzkarriere von Ingrid Möller nicht mehr. Von 21 anwesenden Mitgliedern des Kollegiums stimmten 18 für Ingrid Möller als neue Schulleiterin, bei drei Stimmenenthaltungen. Auch der Elternratsvertreter sprach sich für sie aus. Im Kreis des Schulratskollegiums erhoben sich keine Bedenken, vermerkte Schulrat Robert Werdier.49

Und in seinem Vermerk für die Behördenleitung schrieb der Schulrat: „Sehr gewissenhaft, sehr fleißig, pädagogisch hoch befähigt, führte sie Klassen der Mittelstufe und auch einmal vier Jahre einen Zug der technischen Oberschule mit sehr gutem Erfolge und ausgezeichneten Leistungen. Organisatorisch glänzend begabt, war sie seit Jahren die Stütze im Kollegium. In Eltern- und Kollegenkreisen hat sie eine gute Resonanz. Ich halte sie in jeder Beziehung für geeignet, eine Schule zu leiten.“50

Bei ihrer endgültigen Bestellung als Schulleiterin nach zwei Jahren hatte es Ingrid Möller geschafft, daß alle 18 Kollegiumsmitglieder für sie stimmten. Schulrat Werdier stellte fest:

„In den zwei Jahren ihrer Schulleitertätigkeit hat sie die in sie gesetzten Erwartungen vollauf erfüllt. In Verhandlungen mit dem Kollegium, der Elternschaft und auch mit der Schulbehörde entwickelte sie eine große Gewandtheit. Ihre Argumente waren stichhaltig, logisch durchdacht und wurden klar und sachlich vorgebracht. Sie zeigte großes soziales Verständnis und fand in Eltern- und Kollegenkreisen eine gute Resonanz. Sie ist in jeder Weise befähigt, eine Schule zu leiten. Ihre Ernennung zur Rektorin kann ich deshalb nur befürworten.“51

Kurz darauf hatte Frau Möller 1959 im Oktober das 75-jährige Bestehen der Schule mit einem großen Festakt zu feiern. Das handschriftliche Redemanuskript von Ingrid Möller ist erhalten geblieben. Die NS-Zeit bewältigte sie in einem großen Sprung:
„Schon früher vor dem 1. Weltkrieg begann man in den Mädchenklassen mit dem Werkunterricht, Bastarbeiten wurden angefertigt und als einmal die Presse ins Schulhaus kam, um von diesem für die Zeit äußerst fortschrittlichen Unterricht Aufnahmen zu machen, wurde auch der damalige Oberschulrat Götze aufmerksam, und die Schule erhielt große neue Werktische als Anerkennung. Nach 1918 wurden manche Bestrebungen, die fortschrittliche Lehrkräfte angeregt hatten, verwirklicht. Die Schule erhielt einen Physikraum und begann als eine der ersten Hamburger Schulen mit dem Schwimmunterricht, neue Unterrichtsmethoden wurden eingeführt, die Schule sicherte sich ihren Platz in Eimsbüttel. 1926 wurden zu den Mädchen auch Jungen aufgenommen und bis 1934 gemeinsam in gemischten Klassen unterrichtet. Das Gesicht der Schule aber wurde immer bestimmt von den Mädchen und das Kollegium hat sich stets bemüht, die besondere Eigenart der Mädchenschule zu prägen und zu bewahren. Dies kommt auch wohl besonders darin zum Ausdruck, daß 1932 Frau Lange zur Schulleiterin gewählt wurde, nachdem vorher vier Herren als Schulleiter hier gearbeitet hatten. Frau Langes Name ist verbunden mit den schwersten Jahren, die die Schule durchzustehen hatte, mit den Jahren des Zweiten Weltkrieges und den Nachkriegsjahren. Schon vor 1943 hatte die Gegend um die Schule mehrfach unter Angriffen zu leiden, die Kinder mußten oft bei Tagesalarm in die Bunker geführt werden bis schließlich der Schulbetrieb aufhörte und die meisten Schülerinnen in die KLV kamen. Die Schule selbst aber wurde mehr und mehr beschädigt und hätte den Krieg sicher nicht überdauert, wenn nicht Frau Lange unermüdlich Nachtwachen gemacht und geschützt und gerettet hätte, was damals nur irgend möglich war. Als schließlich im Sommer 1946 der Unterricht wieder aufgenommen wurde, war das Haus durch die vorhergegangene Belegung durch italienische Soldaten und Ausgebombte, durch Dienststellen verschiedener Art in seinen oberen Stockwerken vorerst nicht für Schulzwecke zu gebrauchen. Im Erdgeschoß wurden die ersten Klassen notdürftig eingerichtet, mit wenigen Lehrkräften, die alle zwei Klassen mit mehr als 60 Kindern führten, begann der Schulbetrieb wieder. Schnell stieg die Zahl der Kinder, so daß zeitweise auf eine Lehrkraft 65 Schülerinnen entfielen. Neben dem Unterricht galt es, in diesen ersten Nachkriegsjahren vor allem der äußeren Not abzuhelfen. Statt 350–400 Kinder wie in den Vorkriegsjahren besuchten schließlich 1000 Mädchen die Schule, so daß Schichtunterricht geführt werden mußte.“52

Anlässlich ihrer Pensionierung vermerkte die Schulfestschrift:
„Sie hat es während ihrer 25-jährigen Amtszeit stets verstanden, sich erfolgreich für die Belange der Schule einzusetzen und immer ein offenes Ohr für die Probleme von Lehrern, Schülern und Eltern zu haben.“53

Ingrid Möller war nicht nur als Schulleiterin aktiv, sondern engagierte sich in der Gesellschaft der Freunde, später in der GEW Hamburg, insbesondere in der Betriebsgruppe Ruheständler nach ihrer Pensionierung. Besonders widmete sie sich der ehrenamtlichen Arbeit in der Diesterweg-Stiftung, die seit 1971 bis heute ein Seniorenheim in der Nähe von Hagenbecks Tierpark führt. Ingrid Möller war dort Jahre lang Vorstandsvorsitzende der Diesterweg-Stiftung.54

Ich selbst habe Frau Möller in der GEW und bei dieser Arbeit kennengelernt. Innerhalb der GEW zeigte sie eine deutliche Skepsis gegenüber der jungen Pädagogen-Generation, deren politische Grundhaltung ihr sichtbar suspekt war.

Ingrid Möller starb am 23.5.2013.55

Das Buch von Hans-Peter de Lorent: Täterprofile, Band 2, Hamburg 2017 ist in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg erhältlich.

Quelle:
1 Entnazifizierungsakte Ingrid Möller, StA HH, 221-11_Z 7402
2 Laut Personalakte, nach Auskunft der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB).
3 Laut einer eigenen Aufstellung ihrer Beschäftigung von 1938-1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
4 Ebd.
5 Schreiben vom 20.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
6 StA HH, 361-2 VI_1535 (Schule und Hitlerjugend 1941–1944)
7 Laut ihrer eigenen Aufstellung ihrer Beschäftigung von 1938–1946, Entnazifizierungsakte a.a.O.
8 Gisela Miller-Kipp: „Der Führer braucht mich“. Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs Weinheim und München 2007, S. 13f.
9 Miller-Kipp a.a.O., S. 21.
10 Miller-Kipp a.a.O., S. 19f.
11 Siehe zum Beispiel: Sabine Hering: Rüdiger, Jutta, in: Neue Deutsche Biografie, Bd. 22, Berlin 2005, S. 214f. Ausführlich beschrieb sich Jutta Rüdiger selbst in einem Gespräch mit Martin Klaus, abgedruckt in: Jutta Rüdiger: Bund Deutscher Mädel, Lindhorst 1984, S. 64 .
12 Jutta Rüdiger: Die Hitler-Jugend und ihr Selbstverständnis im Spiegel ihrer Aufgabengebiete, Lindorst 1983, S. 50.
13 Rüdiger 1983, S. 51.
14 Rüdiger 1983, S. 103f.
15 Rüdiger 1983, S. 106f.
16 Rüdiger 1983, S. 23f.
17 Rüdiger 1983, S. 24.
18 Rüdiger 1983, S. 25.
19 Ergänzungen zum Entnazifizierungsfragebogen von Ingrid Möller, Entnazifizierungsakte a.a.O.
20 Zitiert nach Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 943.
21 Schreiben von Ingrid Möller vom 24.1.1946, Personalakte a.a.O.
22 Schreiben der britischen Militärregierung vom 29.1.1946, Personalakte a.a.O.
23 Schreiben vom 22.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
24 Ergänzung zum Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte a.a.O.
25 Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte a.a.O.
26 Schreiben vom 9.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
27 Schreiben vom 22.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
28 Schreiben vom 20.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
29 Ebd.
30 Entscheidung vom 22.9.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
31 Hamburgisches Lehrer-Verzeichnis für das Schuljahr 1938-1939, herausgegeben vom NS-Lehrerbund, Gauwaltung Hamburg.
32 Personalakte Elise Kisbye, StA HH, 361-3_A 0882
33 Ebd.
34 Schreiben von Karl Paschen vom 1.8.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
35 Personalakte Karl Paschen, StA HH, 361-3_A 1251 und Entnazifizierungsakte Paschen, StA HH, 221-11_ Ed 4024. Zu Ernst Preuße siehe auch die Biografie in diesem Buch.
36 Entscheidung des Berufungsausschuss vom 22.9.1947, Entnazifizierungsakte a.a.O.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Fragebogen Action Sheet, Entscheidung vom 10.5.1949, Entnazifizierungsakte a.a.O.
40 Siehe Festschrift Schule Altonaer Straße , 100 Jahre von 1884–1984, Hamburg 1984, S. 103.
41 Siehe die Biografie Emma Lange in diesem Band.
42 Laut Entnazifizierungsakte Lübkert, StA HH, 221-11_Ed 3904
43 Laut Entnazifizierungsakte Lorenz, StA HH, 221-11_Ed 5155
44 Laut Entnazifizierungsakte Ohrt, StA HH, 221-11_Ed 4157
45 Laut Entnazifizierungsakte Kollath, StA HH, 221-11_87249 KAT
46 Laut Entnazifizierungsakte Carstens, StA HH, 221-11_Ed 5721
47 Vermerk von Robert Werdier vom 29.6.1950, Personalakte a.a.O.
48 Bericht von Emma Lange vom 17.7.1952, Personalakte a.a.O.
49 Vermerk von Schulrat Werdier vom 13.5.1957, Personalakte a.a.O.
50 Vermerk vom 8.5.1957, Personalakte a.a.O.
51 Vermerk vom 14.4.1959, Personalakte a.a.O.
52 Redemanuskript von Ingrid Möller vom Oktober 1959 zum 75-jährigen Bestehen der Schule, StA HH, 362-3/2 Abl. 2006/1_47
53 Festschrift Schule Altonaer Straße a.a.O., S. 103. Die Schule Schanzenstraße 105 war zum Schuljahr 1962/63 in Schule Altonaer Straße 38 umbenannt worden.
54 Siehe dazu: „Hamburger Abendblatt“ vom 2.11.1996.
55 Laut Auskunft der Altregistratur der Behörde für Schule und Berufsbildung in Hamburg von 30.1.2014.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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