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Wilhelm Gundlach

(2.1.1889 Altona – 10.9.1976)
Schulleiter der Gewerbeschule IX (Kraftwerkzeuge und Flugzeugbau)
Heinrich-Hertz-Straße 21 (Wohnadresse 1955)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Wilhelm Gundlach ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  

„Eine gereifte Persönlichkeit von Selbstbewusstsein, Pflichterfüllung und Zuverlässigkeit, der in jeder Lage seine Person gut einsetzt.“ (Militärbeurteilung)
Eine exponierte Person im NSLB mit einer Karriere als Schulleiter im Gewerbeschulbereich und bei der Wehrmacht, war Wilhelm Gundlach, nicht zu verwechseln mit dem von mir im ersten Band der „Täterprofile“ porträtierten Leiter der Gauführer-Schule mit demselben Namen, ebenfalls mit einer schillernden Karriere in der NS-Zeit.
Wilhelm Gundlach bekleidete im Hamburger NSLB die Funktion des Leiters der Abteilung Presse und Propaganda, für die nur ein besonders aktiver und anerkannter Nationalsozialist infrage kam. Gundlach machte Karriere auf allen Ebenen, als Schulleiter der Gewerbeschule IX und nach Einberufung zur Wehrmacht bis 1944 als Major. Nach Ende der NS-Herrschaft wurde Gundlach der Wiedereintritt in den Schuldienst verweigert, aber ab 1953 erhielt der ehemalige Presse- und Propagandaleiter des NSLB Hamburg die Ruhestandsbezüge eines Berufsschuldirektors überwiesen.
Wilhelm Gundlach wurde am 2.1.1889 in Altona geboren. Er besuchte die Volksschule Moorkamp 3 von 1895 bis 1903, anschließend das Lehrerseminar in der Binderstraße 34, wo er am 2.3.1909 die erste Lehrerprüfung bestand. Er fand Anstellung als Volksschullehrer an der Volksschule Holstenwall zum 1.4.1909, absolvierte dort am 7.5.1912 die zweite Lehrerprüfung und blieb an der Schule bis zum 2.9.1920 als Volksschullehrer.[1]  
Unterbrochen wurde die Arbeit an der Schule durch das Einjährigen-Freiwilligenjahr 1909–1910 und durch den freiwilligen Kriegsdienst vom 2.8.1914 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in dem es Gundlach als Flieger zum Leutnant brachte.[2]
Wieder zurückgekehrt blieb Gundlach kurze Zeit im Volksschulbereich, um dann am 1.2.1921 als Fortbildungslehrer in das Gewerbe- und Fortbildungswesen zu wechseln. Er arbeitete fest angestellt seit dem 1.11.1920 nunmehr an der Gewerbeschule Fuhlentwiete .[3] Einer seiner Kollegen war der spätere Schulsenator Karl Witt.[4]
Wilhelm Gundlach trat am 1.8.1932 in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 1?287?351), gleichzeitig auch in den NSLB, wo er nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten Gauhauptstellenleiter für Presse und Propaganda wurde, also an einer zentralen Stelle politisch tätig war. Gundlach war zumindest vom 5.9. bis zum 10.9.1934 und vom 10.9. bis zum 17.9.1935 auf den NSDAP-Parteitagen in Nürnberg, wofür er Anträge auf Dienstbefreiung stellte, die natürlich genehmigt wurden.[5]
Damit war ein Karriereschritt absehbar. Am 1.1.1936 wurde er Schulleiter der staatlichen Gewerbeschule für Kraftfahrzeuge und Flugzeugbau (G IX). Er war außerdem Mitglied des Disziplinarhofes und Beisitzer in der Dienststrafkammer.[6]
Als problematisch in seiner Personalakte könnten die Nationalsozialisten später eingeschätzt haben, dass er im August 1930 für eine stationäre Behandlung seiner Ehefrau Erna, mit der er seit dem 10.8.1915 verheiratet war, einen Beihilfeantrag stellte zur Behandlung einer „zeitweiligen Geisteskrankheit“. Wegen des „Erbgesundheitswahns“ der Nationalsozialisten hätte das nach 1933 zu Nachfragen führen können, auch weil Wilhelm Gundlach und seine Frau seit dem 25.3.1917 einen gemeinsamen Sohn hatten.[7] Aber es gibt keinen Hinweis in seiner Personalakte, dass dies in der Folgezeit in irgendeiner Form realisiert wurde. Auch in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren hatte Gundlach nicht versucht, mit Hinweis auf die Krankheit seiner Frau sein nationalsozialistisches Engagement als Argument zu nutzen, er hätte seine Frau damit schützen müssen. Wohl aber gab er später an, dass seine Berufung als Presse- und Propagandaleiter im NSLB darauf zurückzuführen sei, dass er schon in den 1920er Jahren journalistisch gearbeitet habe, als Sportreporter, wofür er Nebentätigkeitsanträge stellte, auch noch nach 1933.[8]
Mehr noch als dem Sport gehörte Gundlachs Leidenschaft dem Militär. So nahm er vom 14.6. bis zum 12.7.1939 an einer Pflichtübung des Pionierbataillons Podejuch (Stettin) teil, um kurz darauf, zum 26.8.1939 zur Wehrmacht einberufen zu werden.[9]
Bei der Wehrmacht wurde der Offizier Wilhelm Gundlach geschätzt. Laut seiner Militärakte nahm er „an der Eroberung Hollands teil, an der Durchbruchsschlacht an der Somme und den Verfolgungskämpfen bis über die Loire und die Normandie und Bretagne“, später dann „an der Ostoffensive und der Frühjahrsschlacht bei Charkow“.[10] Wilhelm Gundlach wurde zum Oberleutnant, zum Hauptmann und zum Major befördert. In einer Beurteilung vom 19.6.1941 hieß es über ihn, er sei „eine gereifte Persönlichkeit von Selbstbewusstsein, Pflichterfüllung und Zuverlässigkeit, der in jeder Lage seine Person gut einsetzt. Seine geistige Veranlagung steht weit über Durchschnitt , sein Charakter ist von Adel, fest und aufrichtig. Eine männliche Erscheinung, die jeder Anforderung und Leistung gewachsen ist. Für den Soldatenberuf ist er geeignet, als Kolonnenführer und in seiner jetzigen Dienststellung als Adjutant der Abteilung hat er seine volle Eignung bewiesen. Die im Weltkriege als Offizier und Kompanieführer erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen nutzte er bestens aus. Die Behebung von Schwierigkeiten irgendwelcher Art ist ihm eine Selbstverständlichkeit, bei der ihm eigenen Energie und Ausdauer. Als Vorgesetzter und als Kamerad ist er geschätzt und geachtet. G. steht auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung.“[11]
Am 13.10.1941 beurteilte sein Kommandeur ihn „trotz seines Alters (52 Jahre) als rüstig und den Anforderungen des Felddienstes gewachsen: bei Führung der Abteilung sind ihm seine guten Kenntnisse im Nachschubwesen und seiner als Adjutant gewonnenen Erfahrung eine wertvolle Stütze. Seine persönliche untadelige Haltung, seine Einsatzfreudigkeit und charakterliche Festigkeit bieten die Gewähr, sich in seiner jetzigen Stellung voll durchsetzen zu können. Insbesondere steht zu erwarten, dass er auch gegenüber den ihm unterstellten Offizieren ein von Autorität getragenes Verhältnis gewinnt.“[12]
Und auch 1943 wurde Wilhelm Gundlach als Leiter des Verbindungskommandos eines Flakkorps als „geistig sehr rege, körperlich beweglich, mit ausgereiftem, gefestigten Charakter, der wegen seiner Hilfsbereitschaft und seines liebenswürdigen Wesens im Kameradenkreis sehr geschätzt“ sei, als „einsatz- und entschlussfreudige Persönlichkeit“ bewertet.[13]
Wie viele andere auch erhielt Wilhelm Gundlach in Abwesenheit von der Schule am Ende 1942 ein Schreiben von dem zwischenzeitlich für den Schulbereich zuständigen Senator Friedrich Ofterdinger, der Gundlach mitteilte, dass der Reichsstatthalter ihn mit Wirkung vom 1.8.1942 zum Berufsschuldirektor ernannt habe mit einem ruhegehaltsfähigen und unwiderruflichen Besoldungszuschuss von 600 Reichsmark jährlich. Ofterdinger unterzeichnete:
„Ich beglückwünsche Sie herzlich zu dieser Ernennung und benutze die Gelegenheit, Ihnen für die Zukunft, besonders für die Zeit Ihres Einsatzes als Soldat, alles Gute zu wünschen. Mit diesem Wunsche verbinde ich die Hoffnung, dass Sie nach dem Siege alsbald Ihre Friedenstätigkeit bei der Schulverwaltungsarbeit freudig und in voller Gesundheit wieder aufnehmen können.“[14]
Wilhelm Gundlach antwortete, „im Felde, d. 13.12.1942“: „Am Fuße des Kaukasus erreichte mich die Mitteilung, dass der Reichsstatthalter Hamburg mich zum Berufsschuldirektor ernannt hat. Ich darf voraussetzen, dass diese Ernennung nicht ohne ihre tätige Mithilfe erfolgt ist und spreche Ihnen deshalb meinen ganz besonderen Dank aus mit dem Versprechen, dass ich nach errungenem Siege meine ganze Kraft in dem Hamburger Schuldienst einsetzen werde.“[15]
Am 22.4.1944 schrieb der damalige Leiter der Schulverwaltung in Hamburg, Prof. Ernst Schrewe, an den Kommandeur der Einheit von Wilhelm Gundlach in Breslau und stellte dar, dass die Hamburger Schulverwaltung beabsichtige, einen Uk.-Antrag für Gundlach zu stellen und vorab die Zustimmung des Kommandeurs einholen wolle. Begründung:
„Die Schulverwaltung beabsichtigt, Herrn Gundlach in den Schulaufsichtsdienst des Hamburgischen Berufs- und Fachschulwesens einzusetzen. Von den drei Schulaufsichtsbeamten dieser Schulrichtung wird Oberschulrat Kress seit Stalingrad vermisst. Der Schulrat für die Hamburgischen Handelsschulen muss demnächst für längere Zeit zur Kur, so dass die gesamte Arbeit der Schulaufsicht über das hamburgische Berufs- und Fachschulwesen zur Zeit in den Händen eines einzigen Schulaufsichtsbeamten, des Herrn Oberschulrat Schlorf, liegt.“[16]
Da OSR Richard Schlorf nicht die Gesamtbeaufsichtigung bewältigen könne und man Gundlach für besonders geeignet halte, sei die Schulverwaltung an der Freistellung von Wilhelm Gundlach vom Kriegsdienst interessiert.
Es dauerte etwas, Richard Schlorf schrieb am 19.5.1944 an den „lieben Wilhelm“, ob er „selbst etwas unternehmen könnte für seine Uk.-Stellung.“[17] Man kannte sich. Gundlach und Schlorf waren beide hauptamtlich als Schulleiter zweier Gewerbeschulen tätig und ehrenamtlich im NSLB im Curio-Haus.
Die Uk.-Genehmigung erfolgte dann am 26.9.1944.[18]
Wilhelm Gundlach blieb bei der Schulverwaltung beschäftigt, bis er am 20.6.1945 von Schulsenator Heinrich Landahl mit sofortiger Wirkung das Entlassungsschreiben bekam.
Gundlach gab schon am 24.5.1945 den ausgefüllten Entnazifizierungsfragebogen ab, als Zeuge unterschrieb Richard Schlorf, der „dem lieben Wilhelm“ freundschaftlich verbunden war und selbst anschließend Probleme hatte, entnazifiziert zu werden. Die politische Belastung von Wilhelm Gundlach war beachtlich, aufgrund seiner Mitgliedschaften in der NSDAP und dem NSLB seit 1932 galt er als „alter Kämpfer,“ als Hauptstellenleiter im NSLB für Presse und Propaganda gehörte er dem Korps der Politischen Leiter an. Sämtlich Punkte, die nach den Kriterien der Britische Militärregierung zur sofortigen Entlassung führten.[19]
Mehr noch, Wilhelm Gundlach wurde am 19.12.1945 verhaftet und 15 Monate bis zum 21.3.1947 in das Internierungslager Neuengamme gebracht, wo er auch auf Richard Schlorf traf, der dort 17 Monate interniert war.[20]
Am Ende der Internierung wurde Wilhelm Gundlach provisorisch in Kategorie III eingestuft, als „Minderbelasteter“.[21]
Erst nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager konnte Wilhelm Gundlach Einspruch gegen die Entlassung als Direktor der Gewerbeschule IX einlegen. Dies tat er am 21.6.1947.[22] Er bekannte sich zu seinen Eintrittsdaten in die NSDAP und den NSLB 1932 und führte Argumente an, die ihn aus seiner Sicht entlasteten.
„Als im Jahre 1932 die wirtschaftliche Lage in Deutschland in einen bis dahin noch nicht erreichten Tiefstand geriet und eine Besserung mit den bis dahin angewandten Mitteln nicht möglich schien, sah ich den einzigen aussichtsvollen Weg in der Abkehr von dem bis dahin geübten freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. Insbesondere hielte ich die Arbeitsbeschaffung für das vordringlichste Problem. Da ich selber in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen bin, zog mich schon rein gefühlsmäßig die damals stark betonte soziale Seite des Programms der NSDAP an, so dass ich nunmehr meine Zurückhaltung gegenüber politischen Parteien aufgab und der NSDAP beitrat.“[23]
Gundlach behauptete, in der NSDAP nur „zahlendes Mitglied“ gewesen zu sein und sich kaum „an Veranstaltungen und Aufmärschen und Schulungskursen“ beteiligt zu haben, sodass im Bekanntenkreis und bei Nachbarn seine politische Mitgliedschaft nicht wirklich bekannt gewesen sei. Dafür konnte er einige Bestätigungen beibringen.[24]
Kaum glaubhaft, dass Wilhelm Gundlach an keinen „Schulungskursen“ teilgenommen haben will, wo er doch im NSLB Verantwortlicher für Presse und Propaganda war. Auch diese Tätigkeit verharmloste Gundlach. Er schrieb:
„Im Frühjahr 1934 wurde ich aufgrund meiner früheren Pressetätigkeit mit der Leitung der Abteilung Presse und Propaganda beauftragt. Dieses Amt habe ich nie in dem Sinne aufgefasst, dass ich Propaganda für die Partei zu machen und für die Verbreitung der nationalsozialistischen Gedanken in der Lehrerschaft zu sorgen hätte. Meine Auffassung und Tätigkeit ging vielmehr von dem Gesichtspunkt aus, für die Hamburger Lehrerschaft nach außen hin, insbesondere in der Lehrerschaft oft ungünstig gesonnenen Parteidienststellen gegenüber Ansehen zu gewinnen. Es war stets mein Bestreben, die Hamburger Presse günstig für die Lehrerschaft einzustellen und bei Pressebesprechungen den Kontakt zwischen der Lehrerschaft zu vertiefen, vor allem aber eine einseitige Bevorzugung der Parteizeitung zu verhindern.“[25]
Die Presse war nach 1933 auch in Hamburg gleichgeschaltet und Wilhelm Gundlach hatte seit 1931 nebenberuflich als Sportjournalist gearbeitet, wie er angab. Aber nicht das war das Auswahlkriterium dafür, Hauptstellenleiter für Presse und Propaganda zu werden, sondern sein frühes Bekenntnis zum Nationalsozialismus.
Gundlachs Argumentationsmuster war, die Widersprüche von Parteistellen und insbesondere der Hitlerjugend gegenüber der Lehrerschaft darzustellen und seine Aufgabe, dagegen zu halten. So schrieb er, dass das „Hamburger Tageblatt“ wiederholt „schwere Angriffe gegen die Lehrerschaft führte. Hinter diesen Angriffen standen Kreise aus der Partei und aus der Gebietsführung der HJ, die die gesamte Gauwaltung des NS-Lehrerbundes als verkalkt und nicht nationalsozialistisch bezeichneten.“[26]
Gundlach berichtete, dass die Gauwaltung des NSLB und die Schulverwaltung auch die Bezeichnung „Haus des guten Willens“ gehabt hätten.[27]
Alles keine Argumente, die Wilhelm Gundlach wirklich entlasten konnten.
Zu seiner Ernennung als Schulleiter der Gewerbeschule IX für das Kraft- und Luftfahrtwesen gab Wilhelm Gundlach an:
„Meine Ernennung zum Schulleiter erfolgte, wie mir der damalige Oberschulrat Kress mitteilte, nicht aufgrund der Parteizugehörigkeit, sondern weil ich im ersten Weltkriege Flugzeugführer gewesen war und damals schon Motorenunterricht abgehalten habe.“[28]
SS-Mann Hans Kress konnte dazu nicht mehr gefragt werden, weil er als Offizier in Stalingrad verschollen war. Deswegen sollte Wilhelm Gundlach Ende 1944 nach Wunsch des damaligen Leiters der Schulverwaltung, Ernst Schrewe, als Vertretung in die Schulaufsicht geholt werden, was laut Wilhelm Gundlachs Behauptung nicht realisiert wurde, „weil Mitglieder der Gauleitung mich aufgrund des oben erwähnten Misstrauens nicht für geeignet hielten“.[29]
Grundlachs Argumente konnten den Beratenden Ausschuss für die Fragebogen der Gewerbeoberlehrer nicht überzeugen. Insbesondere stellte der Ausschuss fest, dass der Eintritt in die NSDAP im August 1932 „unter Bruch seines Diensteides“ vollzogen wurde. Der Ausschuss erklärte: „Gundlach war überzeugter Nationalsozialist; dies beweist sein früher Eintritt in die Partei und in den NSLB, der der geistige Stoßtrupp der Lehrerschaft war.“ Der Beratende Ausschuss lehnte eine Befürwortung der Wiedereinstellung oder Pensionierung ab.[30]
Für Wilhelm Gundlach hatte der stellvertretende Direktor der Gewerbeschule IX nach 1945, Heinz Nagel, einen „Persilschein“ geschrieben. Nagel, der offenbar wegen seiner ehemaligen Freimaurer-Zugehörigkeit von einer NSDAP-Mitgliedschaft unbelastet war, trat nicht nur für Gundlach, sondern auch in etlichen anderen Fällen gutachterlich ein, wie es auch andere Personen taten, die formal unbelastet waren und nach 1945 für zum Teil schwer belastete nationalsozialistische Aktivisten Leumundszeugnisse ausstellten. Wie das bei Entnazifizierungsausschüssen bewertet wurde, die in unendlich vielen Fällen Entscheidungen treffen mussten, schrieb dieser Beratende Ausschuss mit Deutlichkeit:
„Der Beratende Ausschuss kann Herrn Nagel nicht verbieten, für ehemalige Parteigenossen Referenzen zu geben, selbst dann nicht, wenn Herr Nagel sie am laufenden Band abgibt. Nur muss sich Herr Nagel darüber klar sein, dass seine Gutachten für den Beratenden Ausschuss keinen Wert haben, sondern dass sie wegen der Leichtfertigkeit, mit der sie unseres Erachtens gegeben werden, völlig bedeutungslos sind und für unglaubwürdig gehalten werden. Mit Phrasen wie ‚ich halte Herrn Gundlach als einen Mitläufer‘ – vom 1.8.1932 – kann man doch nicht aus schwarz weiß machen. Herrn Nagel muss also einmal gesagt werden, dass seine Gutachtenfabrikation geradezu eine Sabotage der Arbeit der Ausschüsse darstellt. Herr Nagel ist ‚verhinderter Pg.‘. Man sollte von ihm erwarten dürfen, dass er aus diesem Grunde in politischen Dingen, und besonders in der Frage der Entnazifizierung, sich äußerster Zurückhaltung auferlegt.“[31]
Der Berufungsausschuss 40 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten fasste am 7.5.1948 eine etwas andere Entscheidung. Er gab der Berufung statt und versetzte Wilhelm Gundlach mit 50 Prozent der Pension eines Gewerbeoberlehrers in den Ruhestand und stufte ihn in die Kategorie IV ein. Maßgeblich dafür waren Äußerungen der Lehrer seiner Schule, die in einer Erklärung bezeugten, „unter seiner Leitung ließ sich trotz der unseligen Nazizeit gut arbeiten“.[32]
Der Berufungsausschuss glaubte Gundlach, dass er bei „Übergriffen der Nazis immer für die Interessen von Lehrern und Schülern gegen Nazityrannei“ aufgetreten sei. „Denunziationen sei er nie nachgegangen, im Gegenteil habe er Denunzierte dagegen geschützt. Die eingereichten zahlreichen Bescheinigungen bestätigen ihm dies und seine durchaus anständige Grundeinstellung, die ihm der Ausschuss ebenso wie die Tatsache zugute hält, dass die lange Internierung, die ihn gesundheitlich schädigte, schon eine gewisse Sühne für sein Tun bildete. Da aber auch er in der Endwirkung mitgeholfen hat, das deutsche Volk ins Unglück zu stürzen, konnte der Ausschuss seiner Bitte um Pensionierung nur zu einem Teil stattgeben. Große Teile des Volkes sind durch den Nationalsozialismus, seinen wahnsinnigen Krieg und seine sinnlose Politik an den Bettelstab gebracht und es kann ihm nicht zugemutet werden, für als Mitläufer Schuldige mehr aufzubringen als zu einem bescheidenen Lebensunterhalt nötig ist.“[33]
Hier wurde deutlich, welche Fragen sich die Mitglieder der Entnazifizierungsausschüsse stellten, mit der Notwendigkeit, abzuwägen und zu differenzieren.
Wilhelm Gundlach versuchte weiter, eine vollständige Pensionierung als Berufsschuldirektor zu erreichen. Dies lehnte auch der Leitende Ausschuss am 11.10.1951 mit Hinweis darauf ab, dass Gundlach ein „alter Kämpfer und Mitglied der NSDAP seit 1932 war, im NSLB verantwortlich für die Abteilung Presse und Propaganda“.[34]
Letztendlich schaffte es Wilhelm Gundlach mit Hilfe eines Rechtsanwaltes, ab dem 1.10.1953 das Ruhegehalt eines Berufsschuldirektors zu bekommen.[35]
Bemerkenswert in dem Verfahren waren noch zwei Punkte.
Die Schulbehörde musste mit internen Stellungnahmen und Vermerken den Entnazifizierungsprozess von Wilhelm Gundlach begleiten. Oberschulrat Walter Gätje schrieb in einer Stellungnahme vom 15.11.1951:
„Da aus der Personalakte nicht ersehen werden kann, ob die Ernennung von Herrn Gundlach zum Schulleiter und später zum Berufsschuldirektor wegen enger Verbindung zum Nationalsozialismus vorgenommen worden ist, konnten sich die Feststellungen in dieser Hinsicht nur auf eingehende Erkundigungen bei mehreren Lehrkräften, zum Teil heutigen Berufsschuldirektoren, die an der von Herrn Gundlach geleiteten Schule G IX tätig oder ihm persönlich bekannt waren, beschränken. Nach dem übereinstimmenden Urteil aller befragten Lehrkräfte muss Gundlach als ein Mann gelten, der es zu jeder Zeit verstanden hat, seinen persönlichen Nutzen und seine Vorteile wahrzunehmen. Aufgrund seines Intellektes und seiner Fähigkeiten hätte er wohl auch unter anderen Verhältnissen Berufsschuldirektor werden können. Leistungsmäßig hat er sicherlich die Voraussetzungen für dieses Amt erfüllt. Sofern man aber berücksichtigt, dass auch andere Lehrkräfte unbedingt die Qualitäten für den Posten eines Schulleiters hatten, gewinnt die enge Verbindung von Herrn Gundlach zum NS-Regime an Bedeutung. Es kann wohl gesagt werden, dass er ganz bewusst seine NS-Zugehörigkeit zu seinem persönlichen Vorteil und seinem beruflichen Aufstieg zu nutzen verstand. Er kann daher unbedingt als Nutznießer des ‚3. Reiches‘ angesehen werden. Unter diesen Gesichtspunkten dürfte seine Ernennung zum Schulleiter unbedingt wegen enger Verbindung zum Nationalsozialismus erfolgt sein.“[35]
Über diesen Vermerk regte sich der Leitende Regierungsdirektor und Jurist in der Schulbehörde, Otto von Zerssen, auf, der sich mit der Frage auseinandersetzte, was aus Personalakten über politisch motivierte Beförderungen zu ersehen sei:
„Ich möchte bei der Gelegenheit aber noch mein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass man bei dem Fragebogen wegen der Anwendung des Paragrafen 7 des 131er-Gesetzes sich auf den Standpunkt gestellt hat, dass aus den Akten nicht zu ersehen sei, dass die Beförderung des Herrn G. zum Schulleiter und später zum Berufsschuldirektor wegen seiner engen Verbindung zum Nationalsozialismus vorgenommen sei. Herr Gundlach war alter Kämpfer als Pg von 1932, außerdem war er Politischer Leiter und Kreisobmann des NSLB. Schließlich weise ich auf Blatt 103 der Personalakte hin, wonach er offenbar – und doch wohl auf Parteigrundlage – in einem sehr freundschaftlichen Duz-Verhältnis zu dem nationalsozialistischen Schulrat des Berufs- und Fachschulwesens stand. Ich wüsste nicht, wann deutlicher in die Erscheinung treten sollte, dass jemand eine Stellung durch die enge Verbindung zum Nationalsozialismus erhalten hat als ein solcher alter Kämpfer wie Herr Gundlach. Sollte etwa in der Personalakte stehen: ,Sie werden hiermit als alter Kämpfer zum Berufsschuldirektor ernannt‘? Das ist doch natürlich nie geschehen, und wenn es geschehen wäre, wäre das entsprechende Schreiben bei der ‚Bereinigung‘ der Personalakten aus ihnen entfernt worden.“[36]
Offenbar gab es Situationen in diesen Massenverfahren, wo selbst Juristen die Contenance verlieren konnten. Erfrischend.
Was Otto von Zerssen nicht wusste, war, dass Oberschulrat Richard Schlorf, bevor er Oberschulrat wurde, Berufsschuldirektor der Gewerbeschule VII gewesen war, also Schulleiterkollege von Gundlach. Und parallel dazu arbeiteten beide ehrenamtlich Tür an Tür im Curio-Haus beim NSLB als Abteilungsleiter, Gundlach für Presse und Propaganda, Schlorf für Verwaltung und Finanzen. Das bestätigte nur die Einschätzung von Otto von Zerssen.[37]
Es gibt aber noch einen anderen Vorgang. In einem Schreiben vom 18.7.1951 gab Wilhelm Gundlach einen Hinweis, der mich nachdenklich stimmt:
„Wenn ich noch erwähne, dass ich bei der Heranziehung von Lehrkräften für meine Schule nie auf die politische Einstellung sondern auf die fachliche und persönliche Eignung achtete, so glaube ich dies dadurch beweisen zu können, dass ausgerechnet aus meinem Kollegium während des Krieges, als ich nicht in Hamburg war, zwei Kollegen, die Herren Mittelbach und Holler, von der Gestapo festgenommen wurden. Während Herr Mittelbach wegen angeblicher kommunistischer Betätigung zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, wurde Herr Holler ins KZ Neuengamme gebracht, wo er nach kurzer Zeit an Herzschlag gestorben sein soll. Von diesen beiden tragischen Ereignissen erfuhr ich erst, als ich von der Wehrmacht 1944 zurückkehrte. Ich führe diese beiden Fälle hier an, nur um zu beweisen, dass es mir bei dem Aufbau meines Kollegiums nicht auf die politische Einstellung der Kollegen, sondern auf ihr Können ankam, was auch aus der Bemerkung mehrerer Kollegen hervorgeht, als mir die beiden Fälle berichtet wurden mit dem Zusatz: ‚Wären Sie nur hier gewesen, dann wäre der Fall Holler überhaupt nicht entstanden, weil Sie ihn nicht an die Behörde gebracht sondern unter Hand bereinigt hätten‘.“[38]
Ich habe diesen Fall ausführlich in der Biografie Richard Schlorf im Bd. 2 der „Täterprofile“ dargestellt.[39]
Eine Denunziation in der Schule wurde in Abwesenheit von Schulleiter Wilhelm Gundlach, der sich im Krieg befand, weitergeleitet an Oberschulrat Schlorf, der glaubte, sich bei dem offenen schulinternen Vorlauf an die Behördenleitung wenden zu müssen. Das Ergebnis der Beratung war, dass der Fall Gustav Holler offiziell verfolgt und die Gestapo eingeschaltet wurde, mit dem Ergebnis, dass Gustav Holler am Ende im KZ Neuengamme am 3.12.1944 „zu Tode kam“. In der Folge sind der Leiter des Schulverwaltung Prof. Ernst Schrewe und der Justiziar Hasso von Wedel 1950 in einem öffentlich sehr aufmerksam verfolgten Landgerichtsprozess angeklagt worden. Nach einem Freispruch vor dem Landgericht wurde Hasso von Wedel im Revisionsprozess 1953 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und Ernst Schrewe disziplinarrechtlich verurteilt.[40] Richard Schlorf war wegen seiner Verantwortung in diesem Fall in das Internierungslager Neuengamme gekommen.
Ich halte es durchaus für denkbar, dass Wilhelm Gundlach bei Anwesenheit in der Schule mit der Denunziation von Gustav Holler, der im Lehrerzimmer „defätistische Gedanken“ geäußert haben soll, unter anderem: „Wer heute noch nicht glaubt, dass wir den Krieg verlieren, muss ein Idiot sein“, anders umgegangen wäre, als dieses an die vorgesetzte Stelle zu melden.
Insofern ist die Belastung durch Funktionen und Ämter im Nationalsozialismus die eine Seite, die zu beurteilen ist – auf der anderen Seite zählt aber auch, wie die Personen sich in ihrer Funktion konkret verhalten haben im Umgang mit denjenigen, für die sie eine Verantwortung hatten.
Wilhelm Gundlach starb am 10.9.1976.[41]
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Personalakte Gundlach, StA HH, 361-3_A 1702
2 Ebd.
3 Hamburgisches Lehrerverzeichnis des Stadt- und Landgebietes für das Schuljahr 1924–1925, S. 115.
4 Siehe die Biografie Karl Witt in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 88 ff.
5 Personalakte a. a. O.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 So am 19.5.1933, Personalakte a. a. O.
9 Personalakte a. a. O.
10 Vermerk vom 25.7.1944, BArch, Pers 6/191201_LP-54265
11 Beurteilung von 19.6.1941, Militärakte Bundesarchiv, a. a. O.
12 Beurteilung vom 13.10.1941, ebd.
13 Beurteilung vom 26.7.1943, ebd.
14 Personalakte a. a. O.
15 Schreiben vom 13.12.1942, Personalakte a. a. O.
16 Schreiben vom 22.4.1944, Personalakte a. a. O. Siehe die Biografie Richard Schlorf in: de Lorent 2016, S. 731 ff.
17 Schreiben vom 19.5.1944, Personalakte a. a. O.
18 Personalakte a. a. O.
19 Entnazifizierungsakte Gundlach, StA HH, 221-11_Ed 3369
20 Siehe die Biografie Schlorf, a. a. O.
21 Entnazifizierungsakte a. a. O.
22 Entnazifizierungsakte a. a. O.
23 Schreiben vom 21.6.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
24 Entnazifizierungsakte a. a. O.
25 Schreiben vom 21.6.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Beratender Ausschuss vom 28.8.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
31 Ebd.
32 Erklärung von Kollegiumsmitgliedern der Gewerbeschule IX vom 9.6.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
33 Berufungsausschuss 40 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vom 7.5.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
34 Leitender Ausschuss vom 11.10.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
35 Personalakte a. a. O.
36 Vermerk von Otto von Zerssen vom 29.10.1952, Entnazifizierungsakte a. a. O.
37 Siehe Hamburgisches Lehrerverzeichnis für das Schuljahr 1935–1936, bearbeitet vom NSLB, Gau Hamburg, S. 132.
38 Schreiben von Wilhelm Gundlach vom 18.7.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
39 de Lorent 2016, S. 735 ff.
40 Siehe die Biografien Ernst Schrewe (S. 82 ff.) und Hasso von Wedel (S. 120 ff.), in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017.
41 Personalakte a. a. O.
 

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muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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