Dokumente

Drucken

Ihre Suche

Rudolf Ibel

(16.11.1900 Ebelsbach/Unterfranken – 11.7.1965)
Lehrer am Wilhelm-Gymnasium, später an der Emilie-Wüstenfeld-Schule, später an der Oberschule für Mädchen in Blankenese, Dozent am Institut für Lehrerfortbildung, danach Dozent an der Volkshochschule, Leiter der Fachgruppe Deutsch im Hamburg NSLB
Kösterbergstraße 24 (Wohandresse 1955)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Rudolf Ibel ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text: 

„Für uns, die wir eine deutsche Oberschule schaffen wollen, ist oberste Forderung: diese Schule hat von der Geisteshaltung der deutschen, nationalsozialistischen Revolution bestimmt zu sein.“

Zu den interessantesten Personen im Hamburger Bildungswesen während der NS-Zeit gehörte der Germanist Rudolf Ibel. Er profilierte sich 1933 mit zwei viel beachteten Aufsätzen, mit denen er die nationalsozialistische Ausrichtung des „deutschen Unterrichts“ und der politischen Erziehung begründete. Er tat dies als Leiter der Fachgruppe Deutsch im Hamburger NSLB und erwies sich inhaltlich als einer der weltanschaulichen Propagandisten. Auffällig ist aber auch, dass Ibel keine berufliche Karriere in der NS-Zeit machte. Als Gründe führte er nach 1945 an, er habe schon bald Zweifel an der nationalsozialistischen Entwicklung gehabt und sei mit seinen späteren Veröffentlichungen in der Partei misstrauisch betrachtet worden.
Trotzdem hatte Rudolf Ibel aufgrund der von ihm vorgelegten Veröffentlichungen große Schwierigkeiten, nach 1945 wieder in den Schuldienst zu gelangen. Man hatte nicht vergessen, welch Wegbereiter er in Schrift und Auftreten 1933 gewesen war.

Rudolf Ibel wurde am 16.11.1900 als Sohn des Reichsbahnoberinspektors Georg Ibel und seiner Ehefrau Gretchen in Ebelsbach bei Haßfurt in Unterfranken geboren. Nach vier Jahren Volksschulzeit besuchte er das Alte Gymnasium in Würzburg, an dem er am 14.7.1919 die Reifeprüfung bestand. Zwischenzeitlich war er ab Juni 1918 zur militärischen Ausbildung eingezogen worden und absolvierte mit einem Grenzschutzbataillon ein halbes Jahr Kriegsdienst bis zum 25.11.1918. Sein einziger Bruder überlebte den Krieg als Leutnant nach einer schweren Verwundung nicht.[1]
Nach dem Ersten Weltkrieg studierte Rudolf Ibel in Würzburg und München deutsche und englische Philologie, Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte. Am 12.7.1922 promovierte er als noch 21-Jähriger an der Universität Würzburg mit einer Arbeit zum Thema „Die Lyrik Philipp von Zesens. Ein Beitrag zur Erkenntnis des lyrischen Stils im 17. Jahrhundert“.[2]
1923 absolvierte Ibel die erste Lehrerprüfung für das höhere Lehramt in Deutsch, Geschichte und Englisch. Sein praktisches Seminarjahr verbrachte er an der Kreisoberrealschule in Würzburg, wo er 1924 auch die zweite Lehrerprüfung bestand. Parallel dazu hatte er im Juli 1924 die Sportlehrerprüfung abgelegt. Ab September 1924 fand Rudolf Ibel eine Anstellung in der Privatrealschule Adam und erteilte gleichzeitig Unterricht an der Heeresfachschule für Verwaltung und Wirtschaft. Schon in dieser Zeit fand der insbesondere auch literarisch interessierte Rudolf Ibel mehrere Orte, an denen er tätig wurde. So bot er literaturhistorische Vorlesungen und Vorträgen an der Volkshochschule an und engagierte sich in der Würzburger Gesellschaft für Literatur und Bühnenkunst, deren zweiter Vorsitzender er war.[3]
Am 1.4.1927 wechselte Rudolf Ibel nach Hamburg, wo er am Wilhelm-Gymnasium eingesetzt wurde. Er brachte die besten Zeugnisse mit. So bescheinigte ihm 1926 der Würzburger Oberbürgermeister Löffler, dass Ibel „das geistige Leben der Stadt durch Anregung und Mitarbeit wesentlich gefördert“ habe. „Seine zahlreichen, inhaltlich wie formell gleich ausgezeichneten, immer erfolgreichen Vorträge und die Befruchtung und Führung einer Schar Jugend, die es mit dem Zusammenhang zwischen Leben und Literatur ernst nimmt, seien besonders hervorgehoben.“[4]
Und auch Realschulleiter Adam erklärte damals, dass Ibel ein „vorzüglicher Lehrer war. Sein Unterricht war durch Frische und Lebendigkeit und durch geistige Beherrschung der Schüler ausgezeichnet. Seine besonderen Erfolge im Deutschunterricht gründen sich auf seine feine Art, literarische Dinge zu behandeln und seine Fähigkeit, das stilistische Interesse der Schüler zu erregen.“[5]
Rudolf Ibel war offenbar ein anregender Lehrer, seine Leidenschaft gehörte der Literatur und der wissenschaftlichen Arbeit in diesem Bereich. Hier zeigte sich Ibel als äußerst produktiv. Im Winter 1926/27 war Rudolf Ibel 104 Tage von seiner unterrichtlichen Tätigkeit befreit gewesen und bemühte sich später darum, dass diese Zeit vollständig auf sein Vergütungsdienstalter angerechnet wurde. In dem Zusammenhang beschrieb er 1927, womit er in den Wintermonaten 1926/27 wissenschaftlich beschäftigt gewesen war:
„1. Umfassende Studien über die deutsche Barocklyrik, 230 Seiten. Die Arbeit wird wohl in nächster Zeit mithilfe der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft im Druck erscheinen.
2. Eine Studie über Stefan George und Fritz von Unruh (bereits im Druck erschienen).
3. Eine Studie über die Lyrik Klopstocks (ein Beitrag zur Morphologie des lyrischen Wortes); da es sich hier um ein Bruchstück einer großen Arbeit handelt, ist sie noch nicht erschienen.
4. Eine weitere Studie über das Drama Fritz von Unruhs. Diese Arbeit ist dann mit einem Vorwort des Herrn Minister Becker im Druck erschienen.“[6]
Hier zeigte sich jemand, der sich möglicherweise eine wissenschaftliche Karriere erhoffte, zumindest aber Leidenschaften hatte, über literarische Fragen zu publizieren. Dies war sicherlich ein Grund dafür, warum Rudolf Ibel keine Karriere in einer Leitungsfunktion im schulischen Bereich machte, obwohl er seit 1933 durch seine Mitgliedschaften in der NSDAP und im NSLB und seine Funktionstätigkeit im NSLB dafür die politischen Voraussetzungen mitbrachte.
Ibel wurde zuerst einmal am 1.2.1929 außerplanmäßiger Beamter, am 1.6.1930 zum Studienrat ernannt.[7] Bis 1934 arbeitete er am Wilhelm-Gymnasium, wechselte danach an die Emilie-Wüstenfeld-Schule und war seit 1939 der Oberschule für Mädchen in Blankenese zugeordnet.[8] Parallel dazu gab er in Nebentätigkeit Stunden als Dozent am Institut für Lehrerfortbildung (1933), danach immer wieder an der Volkshochschule.[9]
Mit seiner Frau Anna Maria hatte Rudolf Ibel vier Kinder (geboren 1930, 1932, 1934 und 1937).[10]
Bevor ich auf Rudolf Ibels Aktivitäten und Veröffentlichungen in der NS-Zeit genauer eingehe, noch zu einem einschneidenden Ereignis, das seine Gesundheit stark beeinträchtigte. Nach einer militärischen Übung ab dem 26.8.1939 wurde Ibel zur Wehrmacht in den Kriegsdienst gezogen. Ob er sich dafür freiwillig gemeldet hatte, ist nicht dokumentiert. Nach einem Lungenschuss kam Rudolf Ibel am 8.3.1940 ins Lazarett und musste dort wegen einer Tbc-Erkrankung behandelt werden. Am 29.8.1940 konnte er aus der Wehrmacht entlassen und wieder in den Schuldienst übernommen werden. Von dem Zeitpunkt an wurde seine Stundenzahl auf die Hälfte reduziert. Sicherlich, bei angegriffener Gesundheit, eine Möglichkeit für Rudolf Ibel, auch literarisch zu arbeiten.[11]
Nun zu Rudolf Ibel während der NS-Zeit. In dem von Ibel ausgefüllten Entnazifizierungs-Fragebogen vom 26.5.1945 gab er an, seit Mai 1934 Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Der NSV gehörte er seit 1935 an, dem NSLB seit dem 1.5.1933. Dort fungierte er als Leiter der Fachgruppe Deutsch, im Fragebogen nannte er das „Fachberater für Deutsch“.[12] Der Schulverwaltung hatte er mitgeteilt, 1934 als Delegierter des Reichsparteitages der NSDAP bestellt worden zu sein, vom 7.5. bis 2.6.1934 am 7. Lehrgang der Gauführerschule teilgenommen zu haben. Am 16.12.1941 fand Rudolf Ibel es wichtig, der Schulverwaltung seinen Austritt aus der katholischen Kirche mitzuteilen „und mich Gott gläubig bekennen“.[13]
Das waren für das spätere Entnazifizierungsverfahren 1945 vergleichsweise geringe Aktivitäten, insbesondere weil Ibel keine hervorgehobenen und besonderen Funktionen in den NS-Organisationen übernahm. Gravierend war allerdings, was Rudolf Ibel 1933 veröffentlicht hatte. Zwei seiner Aufsätze lagen den Entnazifizierungsausschüssen vor. Zum einen ein Bericht über die Kundgebung für die deutsche Oberschule in Braunschweig am 23. und 24.9.1933, überschrieben: „Von den neuen Grundlagen des deutschen Unterrichts“. Dies war gleichzeitig der Abdruck eines Vortrages, den Rudolf Ibel am 18.10.1933 vor der Fachschaft II, den Lehrern an höheren Schulen, gehalten hatte. Ibel fungierte zu diesem Zeitpunkt als deren Vorsitzender.[14]
Aus diesem in der HLZ 48/1933 auf fünf Seiten abgedruckten Aufsatz sollen einige Auszüge zitiert werden, die deutlich machen, dass Rudolf Ibel sich hier als nationalsozialistischer, ideologischer Propagandist in deutlicher Weise präsentiert hatte. Ibel berichtete von einer Tagung des Verbandes Deutscher Oberschulen und Aufbauschulen und der Gesellschaft für deutsche Bildung und stellte fest: „Daß die neue nationalsozialistische Schule wenigstens in ihren geistigen und wesenhaften Umrissen sichtbar gemacht wurde, d. h. wir erwarten von der Schule der deutschen Revolution etwas zu verspüren, jener Revolution, die Grundtatsachen von Jahrhunderten über den Haufen warf und, das walte Gott, Grundtatsachen für Jahrhunderte geschaffen hat und noch schaffen wird.“[15]
Hier glaubte offenbar jemand an das Tausendjährige Reich und schrieb das der Lehrerschaft ins Stammbuch.
Ibel berichtete einerseits über Vorträge, die auf der Tagung gehalten wurden und vermischte dies mit eigenen Positionen. Er machte sie sich zu eigen, bzw. schob eigene Resümees ein:
„Daß heute so viele geistige Erben des 19. Jahrhunderts den Nationalsozialismus und die Revolution nicht verstehen können und wollen, ist das beste Zeichen, daß die Revolution diesen Geist, der uns in allen Lebensformen an den Abgrund brachte, entthront hat. Daß diese Geistigen (wir nennen sie gerne Intellektuelle) uns bekämpfen und uns nur ungern folgen, ist der beste Beweis dafür, daß der Geist in unserem Volke wieder dem Leben dienen will, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Der Intellektuelle sieht nie Sinnbilder, er sieht nur Äußerlichkeiten und nennt deshalb alle Sinnbilder so. Die Sitten und Gebräuche eines Volkes, die religiös-kultischen Erscheinungen sind für ihn Äußerlichkeiten und somit auch die Formen des Nationalsozialismus. Das Ergebnis solchen Denkens haben wir alle miterlebt: die Auflösung der Lebensformen, zivilisatorische Anarchie, Untergang der Kultur, die Vernichtung der Nation.“[16]
Und Ibel resümierte: „Die Neuorientierung des Geistes ist eine deutsche Revolution des Geistes, und sie wird erfolgreich sein; denn die entscheidenden Handlungen unseres Führers beweisen, daß er der symbolischen Weltschau verhaftet ist, wie die Bewegung, die er verkörpert, wie das Reich, das aus dieser Bewegung wird.“[17]
Zum Thema „Germanenkunde und heroische Haltung“ schrieb Rudolf Ibel:
„Wenn wir Germanenkunde betreiben, dann hat es nur Sinn, wenn sie aus heroischer Haltung heraus betrieben wird. Es muß eine gemeinsame Strömung lebendig sein zwischen dem heroischen Mythos der Germanen, dem Heroismus Goethes, Nietzsches und des Frontsoldaten.“[18]
Im Kontext eines Referates „Vom biologischen Denken“ stellte Ibel fest:
„Die Politik der Utopie, die utilitaristische Idee vom ewigen Frieden, wie sie Kant uns in seiner Schrift verkündigt hat, der Mensch des Humanismus, der immer nur durch die Abstraktion der Menschheit dachte: das alles wäre längst ins Geist-Museum gewandert, wo es hingehört. Hat uns der Mangel an symbolischem Denken den Intellektualismus, den verschwommenen Idealismus, die bildlose Begrifflichkeit beschert, so der Mangel an biologischem Denken: den öden mechanischen Materialismus, die Illusion der sogenannten exakten Analyse, die sich als Wirklichkeitserkenntnis ausgibt, die aber nicht mehr die Kraft zum lebendigen Ganzen aufbrachte. Politisch gesehen entstand daraus das System von Versailles mit seinem Gefolge von Ismen, angefangen vom Parlamentarismus, Liberalismus, Marxismus bis zum imperial-internationalen Kapitalismus.
Für uns, die wir eine deutsche Oberschule schaffen wollen, ist oberste Forderung: diese Schule hat von der Geisteshaltung der deutschen, nationalsozialistischen Revolution bestimmt zu sein. Das fordert von uns das symbolische Denken, das biologische Denken und die heroische Haltung. Darin äußert sich, was man den Geist des Dritten Reiches zu nennen pflegt.“[19]
Rudolf Ibel schwärmte von dem Referat des Ministerialrats Dr. Haupt aus Berlin, das er als Höhepunkt der Tagung bezeichnete. Er zitierte:
„Wir Lehrer müssten uns endlich befreien von dem Wahn der bisherigen humanistischen Kulturschule, von dem Leben am Formalismus. Wir sollten nicht mehr unseren Maßstab an die Jugend herantragen, denn in dieser Jugend wachse ein Lebensstil, der dem unsern überlegen sei. Es ist eben der Stil des neuen Nationalismus. Neue Erziehung werde unmittelbarer, griechischer sein, als jede bisher humanistische.“[20]
Ibel ergänzte dies durch seine Schlussfolgerungen:
„Die Arbeit der Führer bekommt nur Sinn, wenn wir erfüllen, was sie von uns erwarten: Daß wir die Revolution, die sie im Politischen vorgetragen haben, nun auch bis in die letzten geistigen und seelischen Zellen unseres Volkes vortragen. Aus meinen Ausführungen werden Sie immerhin andeutungsweise ersehen haben, wie ich als Leiter der Fachgruppe Deutsch diese Aufgabe zu erfüllen gedenke. Ich sprach bereits vom Geist des Dritten Reiches, der die Arbeit des Deutschlehrers bestimmen muß, der eine Revolution des Denkens in sich schließt. Wir werden zu zeigen haben, wie sich dieser Geist in der praktischen Arbeit auswirkt. Aber erst, wenn jeder einzelne von uns sich ernstlich um die neue Geisteshaltung bemüht, dann können die Unterrichtswege, die wir aufweisen wollen, Sinn bekommen. Wir müssen uns immer von neuem erinnern, wie wir der Revolution gerecht werden können. Wir müssen wissen: wir dürfen nicht mehr im alten Stil weiter arbeiten, nur verborgen hinter einer nationalsozialistischen Fassade.“[21]
Hier wurde nun Rudolf Ibel endgültig zum Propagandisten der nationalsozialistischen Oberschule. Aussagen, die nicht 1000 Jahre hielten, aber zwölf Jahre später bei seiner Entnazifizierung aufmerksam beachtet wurden. Dieser Aufsatz 1933 in der „Hamburger Lehrerzeitung“, die noch kurz zuvor das Organ der „Gesellschaft der Freunde“ gewesen war, einer Organisation von mehrheitlich Volksschullehrern, die großteils reformpädagogische Ziele verfolgte, markierte eine deutliche ideologische Kehrtwendung. Insbesondere weil sie weder von einem führenden Mitglied der NS-Schulverwaltung, noch von einem Führer des NSLB geschrieben worden war. Rudolf Ibel war bis 1933 Mitglied des Hamburger Philologenvereins gewesen und schwor die Lehrerschaft der höheren Schulen auf den Nationalsozialismus ein:
„Wir müssen heute zum politischen Deutschen erziehen, d. h. zum Deutschen, welcher der Wirklichkeit der Nation leibhaft verbunden ist und aus dieser Verbundenheit für die Nation kämpferisch tätig ist. Der tätige, der tathafte Deutsche muß notwendigerweise der politische Deutsche sein, und der politische Deutsche ist für absehbare Zeit immer auch der kämpferische: er kämpft gegen das System von Versailles. Wir waren längst in seelischer und geistiger Sklaverei, bevor der Sklavendienst für Versailles im Diktat äußerlich und politisch sichtbar wurde. Diese Wahrheiten sind heute schwer in einigen Sätzen zu sagen; sie werden von unseren deutschen Gebildeten auf Anhieb nicht verstanden, da eben Versailles immer noch mitten durch die Deutschen und Deutschland geht. Der Kampf gegen das System von Versailles ist die höchste Aufgabe des politischen Deutschen; damit erfüllt er sich zugleich als Deutscher. Solange dieser Kampf nicht entschieden ist (innerlich entschieden ist) – und es kann Generationen dauern – so lange stehen die Deutschen unter Kriegsgesetz. Deshalb wollen wir nicht mehr den ‚deutschen‘ Privatmenschen, der unverpflichtende Gefühle für Deutschland hat, der eine unverbindliche Innerlichkeit kultiviert, die nie Welt gestalten kann, da sie den schlichten und harten Gesetzen der Wirklichkeit nicht gewachsen ist.“[22]
Rudolf Ibels Gedanken kulminierten zu diesem Zeitpunkt in der Aussage:
„Es gibt für uns deshalb nur ein Ideal, das alle andern in sich faßt: Deutschland; und auch ihm dienen wir nicht als einer höchsten Idee, die zu leicht im Begrifflichen verflacht, sondern in jener leibhaften Vertretung im Jahre 1933: Deshalb rufen wir nicht ‚Heil Deutschland‘ sondern ‚Heil Hitler!‘“[23]
Und auch an den folgenden Ausführungen wurde Rudolf Ibel nach 1945 gemessen und zwar unabhängig davon, dass er innerhalb des Schulwesens und der NSDAP in den weiteren Jahren keine führende Rolle spielte. Seine Äußerungen erwiesen ihn als Ideologen und Wegbereiter:
„An der Front wurde der deutsche Nationalismus des 20. Jahrhunderts geboren; er wurde geboren aus Erde und Blut, aus den Elementen, die allein gebärfähig sind. Hier wurde der neue Mythos von Blut und Boden ein Erlebnis von solcher Furchtbarkeit, daß es sich zugleich den neuen Menschenschlag formte, den Träger des deutschen Seelentums im 20. Jahrhundert und im Dritten Reich. In ihm sind wohl alle Mächte und Träume des Deutschen von der Edda bis zu Hölderlin und Nietzsche da, aber in völlig anderer Erscheinung und Zusammensetzung, als es sich der patriotisch begeisterte Bürger je träumen ließ. Der neue, elementare Nationalismus schwelgt nicht in ‚geistigen‘ Erhebungen und in gefühlsseliger Bierfestlichkeit; er ist vielmehr nüchtern und verhalten, zugleich aber von einer abgründigen Glut; er ist sachlich und leidenschaftlich; er ist bewußt, aber doch mit allen Fasern dem schöpferischen Grund des bewußtlos bildenden Lebens verwurzelt; er ist klug und geistig, aber immer nur, solange Klugheit und Geist dem lebendigen Volke zu dienen vermögen; er ist betont diesseitig, elementar und irdisch, da er weiß, daß alles Jenseitige, Seelenhafte, Himmlische nur im Diesseits zu reifen vermag; er hat Haltung und Zucht, da er weiß, daß das Unendliche in ihm eine Welt zersprengen könnte.“[24]
Was wird Rudolf Ibel gedacht haben, als er diesen prophetischen Text zwölf Jahre später noch einmal gelesen hatte? Aber er ging ja noch weiter:
„Dieser Nationalismus allein ist die Gewähr für eine natürliche Ordnung der Welt, da er zugleich den wirklichen (nicht ideellen!) und biologischen Ordnungselementen der Welt entspricht. Er allein vermag das System von Versailles aufzulösen und abzulösen. Dieser Nationalismus allein entspricht dem Deutschen. Ihn hat schon Herder gemeint, ihn hat der Deutsche stets getätigt, wenn er die Eigenart der Völker achtete, wenn er den Sinn der Welt und des Lebens nicht im gleichmachenden, alles beherrschenden und vergewaltigenden System (siehe westliche Demokratie, englische Zivilisation, jüdischer Marxismus, Internationales Geistes-Reich der Intellektuellen) erfüllt sah, sondern in der Mannigfaltigkeit und Stufung des Lebendigen. Dieser Nationalismus ist zum ersten Mal in der deutschen Geschichte im Nationalsozialismus politisch aktiv geworden; er ist die Idee (d. h. Bild der in ihm wesenhaft angelegten Wirklichkeit), die das deutsche Volk als Volk der Mitte der Menschheit zu gehen hat. Indem es damit die Welt ‚erobert‘, bringt es Segen und Erlösung, schafft es eine neue Völkerordnung, die dem Sinn und der Mannigfaltigkeit des Lebens als einer wachstümlichen Macht gerecht wird.“[25]
Bitter nicht nur für Rudolf Ibel, dass Eroberung, Segen und Erlösung schon ein paar Jahre später ganz anders aussahen.

Nicht weniger irritierend war das, was Rudolf Ibel ebenfalls 1933 für die „Zeitschrift für Deutsche Bildung“ schrieb unter der Überschrift: „Politische Erziehung und deutscher Unterricht“.[26] Darin ritt er eine Philippika gegen das „System Versailles“: „Alle Erziehungsarbeit im gegenwärtigen Deutschland hat dem politischen Deutschen zu dienen. Die Partei-‚Politik‘ im Nachkriegsdeutschland vernichtete die Würde dieses Grundsatzes. Die Republik von 1918 konnte den politischen Deutschen nicht fordern, da sie dem Feinde diente, nicht nur durch Taten, mehr noch durch ihre seelische Artung. Es ist nur ein schwacher Ansatz deutscher Politik, gegen Bestimmungen des Versailler Diktats zu protestieren oder auch zu handeln. Versailles ist ein weltbeherrschendes System und das Diktat nur sein äußeres Zeichen. Für den Deutschen ist dieses System der Feind, um so mehr, da es ihn bereits in seinem Inneren ergriffen und zerfetzt hat. (…) Jeder geistige Deutsche ist untauglich zur Befreiungsschlacht, solange er noch in den Begriffen und Formen des Feindes Leben und Wirklichkeit erfasst. Solche Staatsbürger tun gut, sich noch einmal ernstlich um das Verständnis des Feindes, der hinter den Begriffen wirklich ist, zu bemühen. Sollte das erfolglos bleiben, so mögen sie ihre Erziehertätigkeit einstellen und ins Privatdasein zurückkehren oder, da dies in Deutschland künftig schwer möglich sein dürfte, am besten gleich nach Paris auswandern.“[27]
Ibel bot eine simple Lösung an:
„Die revolutionäre Bewegung des Nationalsozialismus erst hat für Deutschland wiederum eine politische Grundlage geschaffen. Sie konnte das, da sie die deutsche Gegenmacht des Versailler Systems ist. Der Nationalsozialismus stellt gegen das System des Westens eine Welthaltung, die vom deutsch-germanischen Wesen bestimmt wird. Erst die nationalsozialistische Revolution schafft eine politische Ordnung und ermöglicht dadurch deutsche Erziehungsarbeit. Da sich diese Ordnung gegen den Feind, gegen Versailles entwickelt, ist sie für nicht absehbare Zeit eine politische Ordnung; sie zwingt den entarteten Geist unter die natürlichen Gesetze des Lebens und in die Grenzen der Verantwortlichkeit zurück. Der deutsche Unterricht im besonderen erfährt nun seine Sinngebung. Jetzt erst ist die Möglichkeit gegeben, die Bildungswelt des idealistischen Humanismus zu verlassen und den tätigen, d. h. den politischen Deutschen zu schaffen.“[28]
Rudolf Ibel erwies sich auch hier wieder als Ideologe der nationalsozialistischen Erziehungsphilosophie:
„Die politische Wandlung in Deutschland bringt allerdings mit sich die Entthronung des allmächtigen Pädagogen. Der Schulmeister wird wieder in die Grenze verwiesen, die ihm innerhalb der nationalen Ordnung zusteht. Die Verschulung Deutschlands hat ein Ende. Der Schulunterricht ist nur eine bescheidene Macht in dem großen Erziehungswerke der Nation. Gerade deshalb wird seine Wirkung größer sein; denn man erzieht nicht mehr aus der Vereinzelung in den leeren, ideologischen Raum, man erzieht in eine politische Wirklichkeit hinein. Sie wird zur größten Hilfe der Schule. Das öffentliche, staatliche Leben erzieht mit. Die Symbole, Feiern, Staatsakte, Kampf- und Jugendbünde, das ganze Volksleben als Ausdruck der neuen Ordnung erfassen den jungen Deutschen und gestalten ihn. Damit erfährt der deutsche Unterricht zugleich die notwendige Entlastung von dem Ballast, den ihm eine allzu beflissene Schulreform aufbürdete. Unsere Erziehung wird (ohne humanistisches Gymnasium) im wahren Sinne griechischer werden; sie ereignet sich mehr an den politischen Wirklichkeiten als durch die Theorie der Schulstube.“[29]
Und schon 1933 schrieb Rudolf Ibel:
„Aus der Kriegsliteratur wird die Geburt des deutschen Nationalismus im Fronterlebnis vermittelt: Der nüchterne Heroismus des Soldaten in der Materialschlacht, die sinngebende Leidenskraft des Überwindendens, der Zusammenbruch der bürgerlichen und gesellschaftlichen Werte der Vorkriegszeit, der Durchbruch eines elementaren Lebensgefühls und eines neuen Wirklichkeitserfassens; die Kameradschaft der Krieger als Grundlage der neuen Volksgemeinschaft, das Erwachen der politischen Mächte Führertum und Gefolgschaft. Die Geschehnisse und Gestalten der Befreiungskämpfe innerhalb des Weimarer Systems haben in der Literatur bereits brauchbare Darstellungen erfahren. Berichte, durchglüht von kämpferischem Feuer, liegen vor. Soll in der Schule die Gegenwart denn immer nur aus historischer Perspektive gesehen werden? Der Tod der 300 Spartaner bei den Thermopylen ist groß; aber der Kampf eines MG-Restes bis zum letzten Mann ist nicht minder groß. Die Zeltgenossenschaften der Spartiaten und die germanischen Gefolgschaften sind hervorragende Beispiele für die politische Bedeutung des Männerbundes; der Kampf der SA jedoch wird dem Schüler lebendiger. Wir lieben die Mythen aus der Vergangenheit unseres Volkes; doch haben wir auch die Gnade wieder in einer Zeit zu leben, in der Mythen wachsen. So geschieht es um Hindenburg, Schlageter, Hitler.“[30]
Rudolf Ibel bediente die Klischees des Anti-Intellektualismus der Nationalsozialisten gegen die Kultur der Weimarer Republik: „In Hanns Johsts ‚Schlageter‘ fällt ein sehr politisches Wort: ‚Wenn ich Kultur höre …, entsichere ich meine Browning!‘“[31]
Ein anderer Satz von Rudolf Ibel in diesem Aufsatz wird zitiert in einer Arbeit über die Instrumentalisierung von Johann Gottfried Herder für die Erziehung in der NS-Zeit.[32] Ibel hatte geschrieben: „Ein gewisser Mut zur Barbarei ist eine politische Notwendigkeit gegenüber der übermäßig differenzierten Erscheinungswelt, die sich hinter dem Begriff Kultur zusammendrängt.“[33]
Birgit Nübel fasste in ihrem Aufsatz wichtige Elemente der NS-Erziehungsphilosophie zusammen und benannte, was die Nationalsozialisten bekämpften:
„Die neuhumanistischen Bildungsideale sind damit außer Kraft gesetzt, ‚allseitige Entwicklung der Persönlichkeit‘ wird zum zu verändernden Schlagwort eines als verweichlicht-bürgerlich bekämpften Subjektivismus. Statt seiner profilieren sich erzieherische Zielbegriffe wie körperliche Wehrtüchtigkeit und geistige Wehrbereitschaft.“[34]
Nübel zitierte, was Hitler selbst als seine Ziele formuliert hatte:
„Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. (…) Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. (…) So kann ich das Neue schaffen. Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.“[35]
Humanismus und Pazifismus galten als „volkszersetzend“, so Nübel. „Individualismus wird zum Gegenbild wahren völkischen Miteinanders, Intellektualität ist auch mit Blick auf das höhere Schulwesen als unbedingt zu verhindern eingestuft. Darum arbeiten völkische und politische Erziehung weniger mit Verstandesübungen als mit Symbolen. Im Hakenkreuz und Hitlergruß, im Glauben an Blut und Boden und an das Dritte Reich stecken bindende Kräfte“, schrieb Nübel.[36]
Adolf Hitler: „Der völkische Staat muß dabei von der Voraussetzung ausgehen, daß ein wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festen Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling.“[37]
Rudolf Ibel hatte das offenbar verinnerlicht. Möglicherweise stellte er für sich in den nächsten Jahren immer mehr fest, dass er eigentlich einer der Intellektuellen war, gegen die er polemisiert hatte. Und es muss ihm mit der Zeit bewusst geworden sein, dass er mit den von mir ausführlich zitierten Schriften nach Ende des Nationalsozialismus eine schwere Hypothek mit sich herumtrug.
Erst einmal verblieb er als Studienrat im Schuldienst und wurde am 14.11.1945 an die Oberschule für Jungen in Altona versetzt.[38] Offenbar hatte Rudolf Ibel seine Aktivitäten erst einmal unbekümmert fortgeführt. Am 13.7.1945 musste er von Oberschulrätin Emmy Beckmann sehr deutlich ermahnt werden:
„In der augenblicklichen Zeitlage erachtet es die Schulverwaltung als unerwünscht, dass Sie Ihre Vorträge vor größeren Hörerkreisen fortsetzen. Sie werden daher ersucht, die Veranstaltung abzubrechen, auch wenn sie im Privathause stattfindet, und zunächst von der Veranstaltung solcher Vorträge abzusehen.“[39]
Rudolf Ibel hatte am 26.5.1945 den Fragebogen zur Entnazifizierung ausgefüllt. Als Zeuge unterschrieb Karl Züge, selbst schwer belastet als Nationalsozialist und Oberschulrat während der NS-Zeit für das höhere Schulwesen. Karl Züge war letzter Vorsitzender des Hamburger Philologenvereins bis 1933 gewesen, dem auch Rudolf Ibel angehört hatte.[40] Im Kontext des ausgefüllten Fragebogens forderte die Schulverwaltung von Rudolf Ibel seine Aufsätze und Veröffentlichungen aus den Jahren 1933/34 zur Prüfung an, die Ibel am 12.7.1945 einreichte, zusammen mit einer zweiseitigen Erklärung.
Die Aussagen, die Ibel darin machte, sind möglicherweise Erkenntnisse, die er im Laufe der zwölf Jahre der NS-Herrschaft gewonnen hatte, sie ergeben sich aber nicht aus den eingereichten Schriften. So begründete Ibel einige Grundpositionen, die für die Entnazifizierung notwendig waren:
„1. An keiner Stelle trete ich für Militarismus, militärische Erziehung, Wehrertüchtigung oder gar für Kriegsbegeisterung ein.
2. Ich spreche nirgends für Imperialismus oder gar nationalen Chauvinismus.
3. Ich äußere mich nicht gegen die Demokratie an sich, sondern nur gegen die westliche Form. Weder fordere, noch erwähne ich eine Erziehung zum Autoritätsglauben oder gar zu unbedingtem Gehorsam.
4. Ich trete weder in Aufsätzen noch sonstwo jemals für die nationalsozialistische Rassenpolitik ein.
5. Die beiden eingereichten Aufsätze und Lesehefte gehen aus von dem politischen Grundgedanken: Kampf für die Erneuerung Deutschlands gegen das System von Versailles. Sie gehen nicht aus von der Tatsache des Nationalsozialismus an sich. In ihm glaubte ich nur damals die politische Sehnsucht und Hoffnung eines Unpolitischen verwirklicht: Das war der große Irrtum.“[41]
Rudolf Ibel bekannte sich zu seinem „Irrtum“, ohne dass er damit überzeugend die Wirkung seiner frühen Schriften marginalisieren konnte. Schon gar nicht mit der Behauptung: „Sämtliche hier angeführten Schriften und Reden sind nur zum geringen Teil politischer Art. Sie handeln von kulturellen, philosophischen, literarischen und pädagogischen Fragen und nehmen nur teilweise Bezug auf politische Angelegenheiten.“[42] Das konnte man von den beiden von mir ausführlich zitierten Aufsätzen nun wirklich nicht ernsthaft behaupten.
Rudolf Ibel beschrieb aber auch, welche Schwierigkeiten er in den Folgejahren auch aufgrund von Veröffentlichungen hatte, die von der NSDAP und im NSLB nicht geschätzt wurden: „Infolge der Aufsätze in der Zeitschrift ‚Der Kreis‘ wurden mir wegen ‚pazifistischer und defaitistischer‘ Einstellung sowohl innerhalb der Partei als auch des NS-Lehrerbundes immer wieder Schwierigkeiten gemacht. Ich wurde, wie meine Laufbahn in Partei und Beruf klar beweist, stets als verdächtig gewertet und nicht gefördert. Nur meine überdurchschnittliche wissenschaftliche und fachliche Ausbildung machte man sich in den Kreisen des NSLB gelegentlich bei der Bearbeitung fachlicher Aufgaben zu nutze. Die Partei lehnte mich für jede Mitarbeit ab. Das war Ende 1935 bereits entschieden.“ Er sei „Leiter der hamburgischen Gruppe im ‚Arbeitskreis für biozentrische Forschung‘, der Gelehrte aus allen Fakultäten und dem ganzen Reich umfaßte“ und der „durch Erlaß der Preußischen Geheimen Staatspolizei vom 7. Mai 1936 als ‚staatspolizeilich unerwünscht‘ aufgelöst“ worden sei. „Ich unterstand von dieser Zeit an in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit (literarhistorische Arbeiten und Vorträge) der Überwachung durch die Gestapo.“[43]
Dies war von Rudolf Ibel natürlich schwerlich zu belegen, muss aber als durchaus denkbar angesehen werden.

Ein Jahr später erklärte Rudolf Ibel auch noch einmal, warum er Mitglied der NSDAP geworden war:
„Ich kam aus Idealismus zur Partei, d. h. ich trug meine an Herder gebildeten Ideale in die Partei hinein. Von hier aus auch war ich Gegner der Zerfallserscheinungen der Demokratie von 1932 und des Versailler Systems. Daß ich Hitler glaubte, der damals jede Eroberungspolitik verneinte und eine europäische Gemeinschaft der gegenseitigen völkischen Achtung propagierte, war mein trauriger Irrtum. Immerhin schlossen ja auch Polen und England damals mit ihm Verträge, die eine friedliche Entwicklung erhoffen ließen. Daß mein Idealismus am falschen Platz war, merkte ich noch früh genug, und so tat ich, was ich tun konnte: ich half und verhinderte Schlimmes, wo ich es konnte. Es wird niemand gefunden werden können, der durch mich, als Pg., benachteiligt oder geschädigt wurde. Vielmehr finden sich viele, die dankbar bestätigen, daß ich ihnen helfen konnte.“[44]
Rudolf Ibel war sich bewusst, dass seine beiden Aufsätze aus dem Jahre 1933 eine schwere Hypothek für ihn darstellten. Auch hier hätte er seinen fatalen Irrtum, seine ideologische Blindheit im Nachhinein bekunden können und nicht von „zwei geringfügigen politisch ausgerichteten Aufsätzen“ schreiben sollen. Das konnte niemand akzeptieren, der die beiden eingereichten Schriften nach 1945 noch einmal begutachtete. Glaubwürdig ist für mich durchaus die von Ibel angefügte Beschreibung seiner literarischen Aktivitäten insbesondere in der zweiten Hälfte der NS-Herrschaft, die ihn immer mehr in Konflikte mit der Partei und deren kulturpolitischen Führern brachte. So schrieb Rudolf Ibel:
„Den zwei geringfügigen, politisch ausgerichteten Aufsätzen stelle ich meine ausgedehnte literarische und kulturelle Tätigkeit in unpolitischen, ja freisinnigen Verlagen und Zeitschriften entgegen, insbesondere meine jahrelange Mitarbeit an der ‚Literatur‘ (hg. von Süskind) bis zu ihrem Verbot 1943. Vor allem als Lyrik-Rezensent galt ich als Hort einer unabhängigen und zuverlässigen Kritik über die Grenzen Deutschlands hinaus (Zeuge: Süskind). Bis 1944, Schriftleiter (ohne Honorar!) der monatlichen Blätter ‚Das Gedicht‘ (Ellermann-Verlag, Hamburg), in der unter anderem auch Ernst Wiecherts ‚Von den treuen Begleitern‘ erschien. Bezeichnend ist, daß ich kein einziges Heft einem der NS-Gesinnungspoeten (Anacker u. ä.) zur Verfügung stellte, dagegen stets unbekannten und unorganisierten Talenten Raum gab (Zeugen: Hugo Siecker, Hans Leip). Noch im Jahre 1942 wagte ich es, ein Werk Ernst Wiecherts in den Mittelpunkt einer öffentlichen Schulfeier zu stellen und, obwohl ich von meinen Kollegen ausdrücklich gewarnt wurde, es persönlich zu lesen. Ich setzte noch in dem Ende 1944 erscheinenden Buch ‚Schläft ein Lied in allen Dingen‘ (Eugen Diederichs, Jena) ein Wiechert-Zitat an entscheidende Stelle.
Seit 1936 wurde meine gesamte wissenschaftliche und literarische Tätigkeit infolge meiner Einstellung gegen Rosenbergs geistesgeschichtlichen Fälschungen (Germanentum, Antike, Etruskertum und Kirche) von der Gestapo überwacht. Trotz aller Tarnung wurde mein 1939 erschienener Essay-Band auf den Index gesetzt. Mein Buch über Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist (Weltschau der Dichter 1944, Diederichs Jena) entging diesem Schicksal nur, da es nicht mehr zur Prüfung kam. Ich erwähne abschließend noch eine bezeichnende Tatsache: Ich war nie Mitglied der Reichsschrifttumskammer und fristete meine literarische Tätigkeit nur mit Ausnahmescheinen.“[45]
Am 25.4.1947 hatte die Britische Militärregierung angeordnet, Ibel mit 50 Prozent seiner Versorgungsbezüge in den Ruhestand zu schicken. Es folgte ein ungewöhnliches Verfahren. Oberschulrat Schröder beurlaubte Ibel zur Durchführung des Pensionsverfahrens am 10.6.1947. Dann wurde er am 6.10.1947 an die Dienststelle Schülerkontrolle geschickt, aber schon am 8.11.1947 in den Ruhestand versetzt.[46]
Ibel widersprach und legte Berufung ein. Damit beschäftigte sich der Fachausschuss 6 b für die Ausschaltung von Nationalsozialisten. Deren Vorsitzender, Friedrich Wilhelm Licht, stellte am 30.12.1947 fest:
„Dr. R. Ibel hat genügend Gelegenheit gehabt, sich eingehend vor dem Beratenden Ausschuss zu äußern, so daß der Fachausschuß von einer erneuten Vernehmung abgesehen hat. Außerdem war er überzeugt, sich aus dem vorliegenden, zahlreichen Material ein Urteil bilden zu können, ohne daß Dr. I. noch einmal gehört wurde. Abgesehen von seiner formalen Belastung ist für den Fachausschuß, als er die Pensionierung und die Herabsetzung des Ruhegehaltes auf 50 % aussprach, maßgebend gewesen:
1. Das Schrifttum, das Dr. I. zum Verfasser hat und leider nur zu einem geringen Teil vorliegt; aber auch das genügt, um ihn zu einem Aktivisten in den ersten Jahren des nationalsozialistischen Systems zu stempeln.
2. Das Zeugnis eines Mitgliedes des Fachausschusses, der Dr. I. in einem Vortrag während jener Zeit vor der Fachschaft der höheren Schulen des NSLB gehört hat. Er ist über das Auftreten des Redners entsetzt gewesen und bezeichnet ihn heute als einen jener Vertreter der höheren Schule, die insbesondere den Deutschunterricht – darum handelte es sich in jenem Vortrag – in die politische Erziehung eingespannt (vergleiche auch ‚Politische Erziehung und deutscher Unterricht‘) und den imperialistischen Zielen des Nationalsozialismus ausgeliefert hat. In der Geschichte hat er sich (vergleiche ‚Reifeprüfung und politische Schulung‘) nicht weniger ‚bewährt‘.
Die vielen Zeugnisse, die Dr. I. beigebracht hat, bestätigen ihm zwar, daß er sich später zurückhaltender benommen, ja sogar von seiner anfänglichen Einstellung distanziert hat. Der Fachausschuß sieht dieses Verhalten als Folge der Tatsache an, daß sich die Geister, die er persönlich gerufen hatte, letzten Endes gegen ihn selbst wandten. Ein solcher Studienrat gehört heute nicht vor die Jugend, auch wenn er sich noch so demokratisch plakatiert. Außerdem muß er – gerade weil er als Lehrer in seinen Fächern Deutsch und Geschichte ein besonderes Ansehen genoß –, als mitverantwortlich für die ungeheuren Schäden betrachtet werden, die durch die Abkehr von gemüt- und allgemein geistesbildender Pädagogik entstanden sind. Daher wurde auf Pensionierung mit 50 % des Ruhegehaltes erkannt.“[47]
Auch der Berufungsausschuss unter Vorsitz des Rechtsanwaltes Soll verwarf die Berufung, stufte Rudolf Ibel in die Kategorie III ein und hielt die Vermögenssperre aufrecht. Er rekurrierte auf die Veröffentlichungen von Rudolf Ibel in den Jahren 1933/34 und stellte dazu fest:
„Diese Aufsätze, auf deren Inhalt Bezug genommen wird, kennzeichnen Dr. Ibel als einen NS-Aktivisten. Sein Einsatz für die NSDAP ist in dieser Auswirkung weit schwerwiegender gewesen als etwa die gewöhnliche Tätigkeit eines Block- oder Zellenleiters. Die Unduldsamkeit Andersdenkenden gegenüber, die er in seinem Aufsatz ‚Politische Erziehung und deutscher Unterricht‘ an den Tag legt, hat sicher in der damaligen Zeit die Gegner der NSDAP und auch die Erzieher, die sich politisch neutral verhielten, in Furcht und Schrecken versetzt und manchen in die NSDAP getrieben. Er ist daher auch moralisch mitverantwortlich für das Los vieler Lehrer, die ohne Veröffentlichungen dieser Art 1933 und in den Folgejahren der NSDAP ferngeblieben wären.“[48]
Der Berufungsausschuss wertete die beigebrachten Leumundszeugnisse als durchaus glaubwürdig, die beschrieben hatten, dass Ibel sich in späterer Zeit offenbar vom Nationalsozialismus abgewandt hatte. Der Ausschuss stellte aber fest:
„Diese seine persönliche Haltung befreit ihn aber nicht von der Verantwortung, die er 1933/34 durch die Veröffentlichung dieser Aufsätze auf sich geladen hat. Ihm und Autoren ähnlichen Stils haben viele zu verdanken, dass sie entgegen ihrer eigenen, inneren Überzeugung in das Parteigetriebe der NSDAP geraten und dort von Amt zu Amt befördert worden sind, so dass sie heute nicht wieder als Lehrer tätig sein können, zumindest jahrelang aus ihrem Beruf entfernt gewesen sind.“[49]
Erst der Berufungsausschuss 3 unter Vorsitz des milde urteilenden Dr. Kiesselbach entschied am 28.9.1949, den vorgehenden Beschluss aufzuheben und Ibel im Angestelltenverhältnis als Studienrat wieder einzustellen und ihn nicht vor dem 1.6.1950 wieder in das Beamtenverhältnis zu überführen. Ausschlaggebend war für den Ausschuss „die große Zahl überzeugender Entlastungszeugnisse und die Tatsache, dass Rudolf Ibel sich noch in den letzten Jahren der NS-Herrschaft innerlich entschieden vom Nationalsozialismus abgewandt hat“. Außerdem hätte auch die Schulbehörde seine Wiederbeschäftigung befürwortet.[50]
Dem stimmte dann auch der Beratende Ausschuss zu, der begründete:
„Als Deutschlehrer von ungewöhnlicher Qualifikation hat er sich nicht vom Nationalsozialismus ferngehalten, wie aus seinen Aufsätzen aus den Jahren 1933/34 hervorgeht. Charakterlose Handlungen werden von ihm nicht berichtet. Weite Kreise setzen sich für sein Verbleiben im Amt ein und sagen damit aus, daß sie ihn nicht für untragbar halten. Der Ausschuß schlägt vor, ihn in das Angestelltenverhältnis zurückzustufen und seine Tätigkeit die Schulleitung streng überwachen zu lassen.“[51]
So war es dann auch. Rudolf Ibel wurde zum 19.10.1949 als Angestellter an der Klosterschule wieder eingestellt. Am 13.4.1950 wechselte er an das Christianeum und wurde zum 1.6.1950 wieder Beamter.[52]
Rudolf Ibel hatte gewichtige Fürsprecher insbesondere aus dem Kultur- und Verleger-Bereich. Dazu gehörten Christian Wegner und Curt Brauns, die Schriften von Ibel verlegt hatten, beides Sozialdemokraten, die Ibel schon seit der NS-Zeit kannten. Wegner schrieb: „Ich weiß, daß er während der Nazi-Zeit niemals einen NS-Dichter herausgestellt hat. Ich weiß, daß ein Essay-Band von ihm von Rosenberg verboten wurde, und ich kenne seinen aufrechten Willen zur Mitarbeit an den Erziehungsaufgaben unserer heutigen Jugend.“[53]
Und Curt Brauns, sozialdemokratischer Kreistagsabgeordneter aus Wedel und einer der ersten Verleger, der in der britischen Zone zugelassen worden war, beschrieb das erste Zusammentreffen mit Rudolf Ibel:
„Ich lernte Herrn Dr. Ibel im Frühjahr 1942 kennen, und zwar an der Oberschule für Mädchen in Blankenese. Der damalige Direktor hatte mich wegen der Einschulung meiner ältesten Tochter vorgeladen. Die hiesige Ortsgruppe der NSDAP hatte eine Auskunft über mich gegeben, wonach ich bis zum Jahre 1933 in der KPD an führender Stelle gestanden hätte und außerdem im Jahre 1941 in ein Hochverratsverfahren verwickelt gewesen sei. Nun verlangte der Direktor ‚Garantien, dass ich seine nationalsozialistische Erziehungsarbeit nicht gefährden würde‘. Ohne die Anwesenheit von Herrn Dr. Ibel, der mich unauffällig den Brief der Ortsgruppe sehen ließ, hätte es wahrscheinlich neue Komplikationen gegeben. Durch geschickte Zwischenbemerkungen ermöglichte er es mir, mit nichtssagenden Erklärungen davon zu kommen.“[54]
Brauns hatte Ibel in der Folgezeit besser kennengelernt und konstatierte:
„Dr. Ibel gehört meines Erachtens zu den Leuten, die sich ihre Entscheidungen nicht leicht gemacht haben. Er hat ernsthaft mit dem Problem des Nationalsozialismus gerungen, um von dem Augenblick an, wo dessen innere Verlogenheit und verbrecherische Gefährlichkeit ihm klar wurde, energisch von ihm abzurücken. Sein Einfluss ist, da er eine wirkliche geistige Persönlichkeit ist, groß, und wäre ich nicht überzeugt, dass er aus seinen letztlichen Sünden der Vergangenheit überaus harte Lehren gezogen hätte, würde ich mich hüten, junge Menschen solchem Einfluss auszusetzen.“[55]
Auch der Schriftsteller und nach 1945 bekannte Rundfunksprecher, Herbert Blank, der von den Nazis verfolgt worden war und elf Jahre lang im Zuchthaus und KZ gesessen hatte, lernte Rudolf Ibel nach Ende der NS-Zeit, im Sommer 1946, kennen und urteilte über ihn:
„Ich war eigentlich erstaunt, dass man ihn in der Partei in Ruhe gelassen hat, denn mit all seinen Anschauungen war er doch sehr weit ab von der üblichen Denk-Heerstraße der NSDAP. Irrtümer gab er offen zu, und vor allem hatte ich den Eindruck, dass er sie deswegen beging, weil er im Grunde ein ganz unpolitischer Kopf ist. Ich weiß sehr wohl einen getarnten Nazi herauszufinden, aber bei Dr. Ibel habe ich den Eindruck, dass er sich einfach verlaufen hat vor allem schien er mir und scheint er noch mit aller Ehrlichkeit bemüht, Neuland zu finden. Ich selbst habe ihn über vieles aufgeklärt und fand immer einen aufnahme- und lernbereiten Menschen in ihm. Wenn ich daran denke, wie viele dieser getarnten Nazis von der allerschlechtesten Sorte noch in ihren Ämtern sitzen und gar nicht daran denken, die neue Zeit zu begreifen, dann halte ich den Dr. Ibel für einen sehr schwachen Fall.“[56]
Zu den glaubwürdigen Zeugen, die den Berufungsausschuss beeinflussten, gehörte sicherlich auch Dr. Walther Vontin, der 1945 als Schulleiter berufen wurde:
„Ich war mit Dr. Ibel von 1934 bis Kriegsausbruch an der Wüstenfeld-Schule zusammen. Trotz seines ausgesprochenen nationalsozialistischen Standpunktes schätzte ich ihn als Deutschlehrer von einer durchaus ungewöhnlichen Qualifikation. Seine politische Haltung entsprang nach meinem damaligen Eindruck einer echten Begeisterung. Sie entsprach in keiner Weise der dogmatischen Parteidoktrin, an der er sogar sehr häufig scharfe Kritik übte. Menschlich erwies Dr. Ibel sich auch bei aller politischen und weltanschaulichen Gegensätzlichkeit als grundanständig. Ich erinnere mich keines Falles, in dem er Kollegen oder Schülerinnen Schwierigkeiten bereitet hätte.
In der Zwischenzeit habe ich mit Dr. Ibel nicht in Verbindung gestanden, so daß ich die Wandlung, die sich offenbar in seiner geistigen Haltung vollzogen hat, nicht aus eigener Anschauung beurteilen kann. Angesichts des großen Mangels an wirklich brauchbaren Germanisten in den Hamburger Oberschulen würde ich es für sehr bedauerlich halten, wenn diese wertvolle Kraft jetzt für uns ungenutzt bliebe.“[57]
Und so wurde die Kraft des Deutschlehrers Rudolf Ibel seit 1949 wieder genutzt. Ibel setzte auch seine literarischen Ambitionen fort. So hielt er immer wieder Vorträge, etwa beim norddeutschen Verleger- und Buchhändlerverband vom 1. bis zum 7.9.1952 mit einer Vortragsfolge „Dichter des 20. Jahrhunderts deuten den Sinn des Lebens“.[58] Es gelang Ibel, als Schwerbeschädigter eine 50-prozentige Ermäßigung seiner Stundenzahl an der Schule zu erreichen, wodurch seine Spielräume für schriftstellerische Tätigkeiten sich deutlich erweiterten. Immer wieder beantragte er Nebentätigkeiten, etwa für monatliche Vorträge am Institut für Lehrerfortbildung in Hamburg und für Tagungen, auf denen er als Referent auftrat.[59]
Aber auch in der Schule, am Christianeum, wurde seine Arbeit geschätzt. Schulleiter Gustav Lange betrieb Ibels Beförderung zum Oberstudienrat. In einem kurzen Befähigungsbericht schrieb er am 19.9.1957 über Rudolf Ibel:
„Einer der geistvollsten Deutschlehrer, die ich kenne. Erzieherpersönlichkeit von größter Wirkung. Glückliche Verbindung von wissenschaftlicher und pädagogischer Begabung. Amt des Fachberaters für Deutsch. Pädagogischer Anleiter und wertvoller Mitarbeiter in der Referendarausbildung. Als überragende Persönlichkeit allgemein anerkannt und geachtet.“ Dazu vermerkte er die umfangreichen Veröffentlichungen Ibels in den letzten zehn Jahren.[60]
Am 4.6.1958 legte Schulsenator Landahl einen Ernennungsvorschlag vor, der am 8.7.1958 vollzogen wurde.[61]
Rudolf Ibel blieb umtriebig. Das „Hamburger Abendblatt“ vermerkte:
„Zum ersten Fortbildungskursus, den das Münchener Institut durchführt, kamen 30 Deutschlehrer aus Brasilien, Kolumbien, Uruguay, Spanien, Frankreich, Italien, Finnland, Norwegen, der Türkei und den USA nach Hamburg. Im UNESCO-Institut hören die Pädagogen Vorträge über deutsche Phonetik, über die deutsche Sprache und den deutschen Roman der Gegenwart, moderne Unterrichtsmittel, die Bedeutung der bildenden Kunst für den Deutschunterricht im Ausland usw. Oberstudienrat Dr. Rudolf Ibel vom Christianeum spricht zu ihnen über Carossa, Weinheber.“[62]
Als Ibel 60 Jahre alt wurde, war dies eine Meldung im „Hamburger Abendblatt“ wert.
„Dr. Rudolf Ibel, der in Blankenese lebende Schriftsteller und Oberstudienrat am Christianeum, wird morgen 60 Jahre alt. Er ist durch mehrere literaturgeschichtliche Werke hervorgetreten. Er schrieb unter anderem ein Buch über den jungen Goethe und Abhandlungen über Dichter der Romantik, die unter dem Titel ‚Weltschau deutscher Dichter‘ erschienen.“[63]
Die Gesundheit von Ibel war allerdings eingeschränkt. Am 26.10.1962 beantragte Ibel die Versetzung in den Ruhestand. In einem Vermerk für Landesschulrat Ernst Matthewes schrieb OSR Wulle:
„Oberstudienrat Dr. R. Ibel tritt mit dem 1.12.1962 vorzeitig in den Ruhestand. Als Grund für seinen Antrag hat er erhebliche gesundheitliche Störungen angegeben. Laut einem vorliegenden ärztlichen Attest ist er zur Zeit dienstunfähig. Nun lese ich zu meinem Erstaunen, dass er im IfL einen Kurs ‚Lyriker des 20. Jahrhunderts‘ leitet, der am Dienstag, den 6.11.1962 beginnt. Ob er nur ‚leitet‘ oder selbst über Hofmannsthal und Stefan George spricht, ist aus der Mitteilung nicht zu entnehmen. Meines Erachtens ist weder das eine noch das andere zulässig, da es sich um eine staatliche Einrichtung handelt. Was ist zu veranlassen und wer ist gegebenenfalls Bearbeiter?“[64]
Landesschulrat Ernst Matthewes antwortete darauf:
„Wir sind der Meinung, daß keine Bedenken bestehen, denn Dr. Ibel tritt mit der Vollendung des 62. Lebensjahres in den Ruhestand, brauchte also für seine Versetzung keine Begründung anzugeben. Aber selbst wenn man von seiner Begründung ausgehen wollte, so wäre es durchaus denkbar, daß ein Lehrer sich nicht mehr in der Lage fühlt, die volle Pflichtstundenzahl zu erteilen, aber einmal wöchentlich eine Arbeitsgemeinschaft zu leiten. Hinzu kommt, daß Dr. Ibel den Kollegen Wesentliches zu bieten hat, so daß seine Tätigkeit im Institut für Lehrerfortbildung einen Gewinn für die Schule bedeutet.“[65]
Rudolf Ibel war im Nachkriegsdeutschland angekommen und genoss die Wertschätzung der Behördenleitung. Er veröffentlichte jetzt wöchentlich „Sprachglossen“ in der „Welt am Sonntag“. Auch der für die höheren Schulen zuständige Oberschulrat Hans Wegner schrieb ihm, nachdem Ibel in den Ruhestand versetzt war:
„Ich habe mir heute einmal etwas Luft gegönnt während der Abiturzeit, freilich nicht um den Tag zu genießen, sondern um Privatpost und Behördenpost endlich einmal zu erledigen. In den Weihnachtstagen habe ich mich in Ihrem ‚Spiegel der Sprache‘ festgelesen und möchte Ihnen verraten, daß ich viel Freude daran gehabt habe, obwohl ich ein fleißiger Leser Ihrer Sprachglossen in der ‚Welt‘ immer gewesen bin. Möge das neue Jahr und der Ruhestand weitere Kraft und Freude geben, damit Sie erfolgreich an Ihren literarischen Vorhaben arbeiten können.“[66]
Die Freude und Kraft währte nicht sehr lange. Am 11.7.1965 starb Rudolf Ibel.[67]
Die „Welt am Sonntag“ würdigte ihn und sein literarisches Werk:
„‚Seine funkelnden Sprachglossen wurden bei uns jeden Sonntagmorgen als erstes gesucht und im Familienkreis vorgelesen. Wir Leser sind ärmer geworden.‘ – So heißt es in einem der vielen Briefe, die uns zum Tode Dr. Rudolf Ibels erreichten. Die Briefe zeigen, daß Ibel mit seinen Glossen weit mehr als Interesse erweckt hat, nämlich Liebe zu seiner Sache, zu unserer Sprache, die er als bewahrende, doch stets sich wandelnde, als geheimnisreiche, aber auch entlarvende Kraft verstand. Ibel, der als Oberstudienrat am berühmten Hamburger Christianeum wirkte, war ein berufener Hüter der Sprache, doch nie ein Purist. Mit Witz und Ironie lachte er Modewörter wie ‚rasant‘ oder ‚genau‘ gewissermaßen aus. Doch zugleich plädierte er temperamentvoll, aller Deutschtümelei fremd, für manches sogenannte Fremdwort, das sich sein Hausrecht inzwischen redlich erworben hatte. Die letzte seiner mehr als 200 Glossen, die in Welt am Sonntag erschienen sind, galt der vielverlästerten Sprache unserer Jugend, in der er den ‚sagenhaften und unermüdlichen Volksmund‘ wirken sah.
Rudolf Ibel, der nicht nur die Wörter, sondern auch das Wort der Dichtung und insbesondere der Lyrik zu deuten wußte, beherrschte die Kunst, Sprache staunend zu machen, Wissen mit Anmut auszuteilen. Diese Kunst ist selten geworden. Wir sind ärmer geworden.“[68]
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte Rudolf Ibels, StA HH, 361-3_A 2274
2 Ebd. Insbesondere aus dem am 10.11.1926 geschriebenen Lebenslauf, mit dem sich Ibel für den hamburgischen Schuldienst bewarb.
3 Ebd.
4 Schreiben vom 16.9.1926, Personalakte a. a. O.
5 Zeugnis vom 1.10.1926, Personalakte a. a. O.
6 Schreiben vom 26.11.1927, Personalakte a. a. O.
7 Personalakte a. a. O.
8 Personalakte a. a. O.
9 Personalakte a. a. O.
10 Personalakte a. a. O.
11 Alle Angaben laut Personalakte a. a. O.
12 Entnazifizierungsakte von Rudolf Ibel, StA HH, 221-11_Ed 5138
13 Alle Angaben von Rudolf Ibel laut seiner Personalakte, a. a. O.
14 Rudolf Ibel: Von den neuen Grundlagen des deutschen Unterrichts, HLZ 48/1933, S. 648 ff.
15 Ibel, HLZ 1933, S. 648.
16 Ibel, HLZ 1933, S. 649.
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Ibel, HLZ 1933, S. 650.
20 Ibel, HLZ 1933, S. 651.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd.
24 Ibel, HLZ 1933, S. 652.
25 Ebd.
26 Rudolf Ibel: Politische Erziehung und deutscher Unterricht, in: „Zeitschrift für Deutsche Bildung“, Heft 9/1933, S. 432 ff.
27 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 432 f.
28 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 433 f.
29 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 434.
30 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 437.
31 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 435.
32 Birgit Nübel, zusammen mit Beate Tröger: Herder in der Erziehung der NS-Zeit (19.1.2004). In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/herder/nuebel_ns-zeit.pdf
33 Rudolf Ibel, Politische Erziehung, S. 435.
34 Nübel 2004, S. 3.
35 Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler. Bilder und Dokumente zur Zeitgeschichte 1933–1945, München 1961, S.100 f.
36 Nübel 2004, S. 3 f.
37 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1941, S. 452.
38 Personalakte a. a. O.
39 Schreiben vom 13.7.1945, Personalakte a. a. O.
40 Siehe die Biografie Züge, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 385 ff. Rudolf Ibel hatte am 5.6.1928 gegenüber der Schulverwaltung angegeben, „die Fahrtleitung des Philologenvereins in den Sommerferien für einen deutsch-nordischen Schüleraustausch zwischen Hamburg und Norwegen übernommen zu haben“; Personalakte a. a. O.
41 Schreiben vom 12.7.1945, Entnazifizierungsakte Ibel, a. a. O.
42 Ebd.
43 Ebd.
44 Schreiben von Rudolf Ibel an den Beratenden Ausschuss vom 17.12.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
45 Feststellungen von Rudolf Ibel 2.2.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O. Zu Ernst Wiechert sehr unter anderem: Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2007, S. 597.
46 Personalakte a. a. O.
47 Stellungnahme des Fachausschusses 6 b vom 30.12.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
48 Entscheidung des Berufungsausschuss 17 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vom 5.5.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
49 Ebd.
50 Entscheidung des Berufungsausschusses 3 vom 28.9.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
51 Beratender Ausschuss vom 1.9.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
52 Personalakte a. a. O.
53 Schreiben von Christian Wegner vom 19.3.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
54 Schreiben von Curt Brauns vom Alster Verlag vom 11.2.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
55 Ebd.
56 Schreiben von Herbert Blank vom 30.1.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
57 Schreiben von Walther Vontin vom 12.12.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
58 Personalakte a. a. O.
59 Personalakte a. a. O.
60 Gutachten vom 19.9.1957, Personalakte a. a. O.
61 Personalakte a. a. O.
62 „Hamburger Abendblatt“ vom 4.9.1958.
63 „Hamburger Abendblatt“ vom 15.11.1960.
64 Vermerk vom 11.10.1962, Personalakte a. a. O.
65 Antwort Matthewes vom 30.10.1962, Personalakte a. a. O.
66 Schreiben vom 30.1.1963, Personalakte a. a. O.
67 Personalakte a. a. O.
68 „Welt am Sonntag“ vom 18.7.1965.
 

Namen

Personensuche

  • (am besten nur Vor- ODER Nachname. Sie können aber auch nach Gebäuden, Firmen, Behörden, Lagern, NS-Orgnaisationen suchen.)

Je nach Suchfeld, können Sie entweder freie Suchbegriffe eingeben oder aus einer Liste auswählen.
Bitte beachten Sie, dass über das Suchfeld "Freier Suchbegriff" nach Übereinstimmungen im Namen, Kurztext und Langtext sowie zugeordneten Schlagwörtern gesucht wird.
 

Geografische Spuren

Meine Straße

Geografisch

 

Schlagwörter und freie Suche

Schlagwörter und Kategorien

Einträge in dieser Datenbank sind verschiedenen Schlagwörtern zugeordnet. Diese sind als Vorschläge zu verstehen. Mehrfachzuordnunegn sind dabei möglich.
Nutzen Sie auch gern die freie Suche. Dabei werden Übereinstimmungen im Namen, Kurztext und Langtext sowie in der Verschlagwortung gesucht.
Die Auswahl eines Schlagwortes überprüft dagegen nur Verknüfungen mit dem Schlagwortregister.

Thematische Suche

  • (z.B. Berufe, Gebäude, spezielle Orte)

Leichte Sprache
Gebärden­sprache
Ich wünsche eine Übersetzung in:

Datenbank online Die Dabeigewesenen

Leichte Sprache
Gebärden­sprache
Ich wünsche eine Übersetzung in:

Von Hamburger NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Zuschauer/innen ... Eine Hamburg Topografie.

NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

rechte spalte

Themenübersicht auf hamburg.de