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Wilhelm Bartels

(4.5.1900 Mackensen – 13.6.1984)
Schulleiter und Oberstudiendirektor des Realgymnasiums des Johanneums
Missundestraße 48, 3. Stock (Wohnadresse 1950)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Wilhelm Bartels ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  

„Die Beförderung zum Oberstudiendirektor erfolgte nicht aufgrund einer besonderen wissenschaftlichen und pädagogischen Befähigung, sondern ausschließlich aufgrund seiner parteipolitischen Haltung und seines Amtes im NSLB.“
Zur Gruppe der Schulleiter an höheren Schulen, die ihre Berufung dem frühen Eintritt in die NSDAP zum 1.5.1933 verdankten und ihrer Tätigkeit als Funktionäre im NSLB, hier als Kreisamtsleiter, gehörte Wilhelm Bartels. Andererseits hatte er einen langen Bildungsweg absolviert, über das Lehrerseminar, den Volksschullehrerdienst, das Abitur als Externer, ein anschließendes Studium. Als Student gehörte er der Deutschen Burschenschaft an. Zudem zählte er, im Jahre 1900 geboren, auch zum Kreis derer, die bei all ihrer formalen Qualifikation lange um die Sicherung ihrer materiellen Existenz kämpfen mussten. Und als er Karriere machte, am 25.9.1939 Oberstudiendirektor wurde, zog er schon 14 Tage später in den Krieg, in dem er zum Oberleutnant befördert wurde, aus dem er erst nach sechsjähriger Kriegsgefangenschaft 1950 zurückkehrte.
Wilhelm Bartels wurde am 4.5.1900 in Mackensen als Sohn eines Landwirtes geboren. Er besuchte die Volksschule in Mackensen und die Mittelschule in Einbeck, danach in Einbeck auch das Lehrerseminar. Die erste Prüfung legte er 1920 ab. Anschließend bestand er als Externer im Herbst 1923 am Domgymnasium in Schleswig das Abitur. Im Reifezeugnis bescheinigte man ihm in allen Fächern seine Leistungen mit der Note „gut“, lediglich in Deutsch und Geschichte erhielt er ein „genügend“. Erstaunlicherweise waren genau diese beiden Fächer seine Studienfächer an der Universität Göttingen von 1926 bis 1930.[1]
Wilhelm Bartels hatte das Glück, als 1900 Geborener nur für kurze Zeit das Lehrerseminar unterbrechen zu müssen, nämlich vom 21.6. bis zum 23.12.1918, als er zum Kriegsdienst herangezogen wurde. Seine konservative Grundhaltung wurde deutlich durch seine studentische Mitgliedschaft in der Deutschen Burschenschaft.[2]
Vor dem Studium und während des Studiums sicherte sich Wilhelm Bartels seine materielle Existenz als Volksschullehrer und 1926 als Lehrer an der privaten Knabenschule J. Borbis.[3] Zu dieser Zeit war dort auch Albert Henze als Lehrer tätig, der während des Nationalsozialismus eine führende Stellung in der Schulverwaltung einnahm. Das sollte für die spätere Karriere von Wilhelm Bartels noch von Bedeutung sein.
Nach dem Studium absolvierte Bartels seinen Vorbereitungsdienst am Realgymnasium des Johanneums, wo er auch das Assessor-Examen ablegte. Danach fand er ein Jahr lang keine Anstellung, erst ab dem 6.4.1933 wurde er an der privaten Wichernschule beschäftigt. Zum 11.10.1937 bekam er eine Stelle an einer öffentlichen Oberrealschule, in Altona, wo sich Oberschulrat Hermann Saß und Schulrat Paul Dittmer, zwei fanatische Nationalsozialisten, für ihn einsetzten.[4]
Schon ein halbes Jahr später wurde Bartels an die Matthias-Claudius-Schule versetzt, um dann, am 25.9.1939 zum Schulleiter und Oberstudiendirektor des Realgymnasiums des Johanneums ernannt zu werden, nach dem der bisherige Schulleiter, Friedrich Dieckow, verstorben war. Tatsächlich wurde Bartels dann der Kirchenpauer-Oberschule als Leiter zugeordnet.[5] Eine Zeit der ständigen Personalrochaden. Dieser Karriereschritt nach nur zwei Jahren Tätigkeit an einer höheren Schule im öffentlichen Dienst wäre sicherlich nicht möglich gewesen, wenn sich Wilhelm Bartels nicht als nationalsozialistischer Aktivist gezeigt hätte, durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP zum 1.5.1933 und seine Arbeit als Kreisamtsleiter im NSLB.[6]
Zu den Kuriositäten der Bildungs- und Berufsbiografie des Wilhelm Bartels gehörte es, dass er schon am 11.10.1939 als Gefreiter in den Kriegsdienst zog. Sein Beförderungssprung dort war ebenfalls bemerkenswert. 1944 war er Oberleutnant.[7] In seinem Entnazifizierungsfragebogen sind alle Stationen seines Kriegsdienstes aufgeführt: 1940/41 Belgien, danach in Russland, seit dem 20.2.1944 bis Ende Oktober 1944 in Griechenland und danach wurde Wilhelm Bartels in Jugoslawien gefangen genommen.[8]
Am 4.11.1947 teilte seine Frau Elisabeth Bartels der Schulbehörde mit, ihr Mann befinde sich in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft.[9]
Am 18.10.1950 kam Wilhelm Bartels aus der Gefangenschaft nach Hamburg zurück und füllte am 30.10.1950 seinen Fragebogen zur Entnazifizierung aus, in dem er unter dem Punkt „Verurteilungen“, der eigentlich für Verurteilungen durch die Nationalsozialisten gedacht war, vermerkte:
„Am 28.10.1949 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft aufgrund gewalttätig erzwungener Geständnisse zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.“[10]
Man kann davon ausgehen, dass die lange Kriegsgefangenschaft von Wilhelm Bartels und die Tatsache, dass die Familie in Hamburg 1943 „ausgebombt“ worden war, sodass seine Frau Elisabeth mit den beiden 1941 und 1943 geborenen Söhnen in Bad Berka wohnte, zu einem milden Entnazifizierungsverfahren führte, weil die Ausschüsse es in der Regel als eine Art „verbüßte Sühne“ werteten, wenn jemand längere Zeit in Kriegsgefangenschaft verbracht hatte. Überraschend ist in diesem Zusammenhang ein Schreiben von Oberschulrat Heinrich Schröder, der schon vor Rückkehr von Wilhelm Bartels an das Wohnungsamt, Abteilung Rückkehr, geschrieben hatte:
„Die Schulbehörde bittet dringend, Frau B. mit ihren Kindern die Rückkehrgenehmigung zu erteilen und ihr den notwendigen Wohnraum zuzuweisen. Die Wohnraumzuteilung liegt ebenfalls im dienstlichen Interesse, da Oberstudiendirektor Bartels nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft seine unterrichtliche Tätigkeit sogleich aufnehmen wird. Frau Bartels war gezwungen, Berka zu verlassen, da ihre wirtschaftliche Existenz nicht mehr gesichert war. Frau Bartels bezieht gemäß Verordnung des Senats der Hansestadt Hamburg vom 16.4.1948 die halben Dienstbezüge ihres Ehemannes und volles Kindergeld für zwei Kinder.“[11]
In Bartels Personalakte liegt ein handschriftliches Blatt, auf dem Elisabeth Bartels vermerkt hatte:
„Mein Mann befindet sich in jugoslawischer Gefangenschaft, wo es ihm sonst gut geht, er jedoch nur selten schreiben darf. Seine Anschrift: Kriegsgefangener Wilhelm Bartels, Gefangenen-Nr. 240049, Lager 227, Zrenjanin/Banat, Jugoslawien.“[12]
Noch in Bad Berka hatte Elisabeth Bartels am 10.10.1948 für die Personalabteilung der Hamburger Schulbehörde ein Formblatt ausgefüllt, mit der sie Vorschüsse auf die Dienstbezüge beantragte und sowohl für ihren Mann als auch für sich Ausführungen machte. Dabei gab sie an, dass Wilhelm Bartels in die NSDAP nach der Machtübernahme 1933 eingetreten war, sie selbst aber schon 1932. Dazu vermerkte sie, dass sie 1937 austreten wollte, der Austritt aber abgelehnt worden war.“[13]
Am 31.10.1950 wurde Oberschulrat Schröder noch einmal beim Bezirkswohnungsamt Altona tätig. Er schrieb:
„Herr Bartels bewohnt mit seiner Familie, bestehend aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern im Alter von acht und zehn Jahren, ein 10 m² großes Zimmer in der Missundestraße 48 III. Es liegt ebenso sehr im dienstlichen wie im persönlichen Interesse, Herrn Bartels eine Dreizimmerwohnung zuzuweisen, damit B. den Anforderungen, die die wissenschaftliche Oberschule an eine Lehrkraft stellt, durch ungestörtes Arbeiten bei den Vorbereitungen für den Unterricht und den laufenden Korrekturarbeiten voll nachkommen kann.“[14]
Wilhelm Bartels, dem offenbar eine Erholungszeit in Kampen auf Sylt gewährt worden war, nutzte die Zeit und schrieb an OSR Heinrich Schröder:
„Ich bitte Sie ergebenst, mir zu gestatten, dass ich Ihnen mit wenigen Zeilen aus meinem Erholungsaufenthalt auf Sylt schriftlich meine politische und schulpolitische Einstellung darstelle, die, als ich Sie das letzte Mal aufsuchte, bei der Besprechung meines Fragebogens mit berührt wurden. Sehr unbefriedigt von dem Ergebnis unserer Besprechung ging ich damals von Ihnen fort. Es gelang mir nicht in der Eile, Ihnen meine Einstellung zu formulieren, es fehlte mir infolge der vielen Wege, Sorgen und neuen Eindrücke, die ein Heimkehrer naturgemäß in der ersten Zeit hat, an Ruhe und Sammlung, so dass ich bei Ihnen einen ungünstigen Eindruck vermutlich hinterließ.“[15]
Sicherlich lag es aber auch daran, dass Heinrich Schröder überrascht war über die tiefe Verstrickung von Wilhelm Bartels in die nationalsozialistischen Organisationen. NSDAP-Mitglieder vom 1.5.1933 und Kreisamtsleiter des NSLB waren 1945 grundsätzlich entlassen worden. Nun waren aber fünf Jahre vergangen, mancher von denen nach einem längeren Entnazifizierungsverfahren wieder im Dienst, zwar nicht als Schulleiter, aber doch als Lehrer. Und Bartels konnte auf fünf Jahre Kriegsgefangenschaft verweisen. Er schrieb weiter:
„Was meine politische Haltung betrifft, wiederhole ich die Ausführungen, die ich in der Gefangenschaft in einer besonderen Vernehmung zu meiner politischen und weltanschaulichen Entwicklung vor dem leitenden Staatsanwalt unserer Prozesse darlegte. Ich wurde in einem streng geführten Bauernhause erzogen, so sind christliche und aufrichtige soziale Gesinnung stets die Grundlagen meiner weltanschaulichen und politischen Anschauung gewesen. Ich studierte Deutsch, Geschichte, Theologie, Philosophie und Pädagogik, um Klarheit zu bekommen über die geisteswissenschaftliche Situation, in der ich mich zu entscheiden hatte, und frei zu werden von dem Zweifel des gequälten Gewissens. Auch nach 1933, als ich Mitglied der NSDAP wurde, hat sich an meiner christlichen und sozialpolitischen Haltung nichts geändert, sie blieb die Grundlage meiner unterrichtlichen Tätigkeit, wie auch der schulpolitischen Arbeit im NSLB, stets kritisch gegen alle Maßlosigkeit auf innen- und außenpolitischem Gebiet, die in die Katastrophe und das namenlose Elend hineinführten.“[16]
Auch das dürfte den Sozialdemokraten Heinrich Schröder, der ebenfalls Geschichte studiert hatte, aber zu ganz anderen Schlussfolgerungen gekommen war, kaum überzeugt haben.
Bartels weiter: „Meine schulpolitische Überzeugung, die ich Ihnen offenbar darlege, ohne die augenblickliche pädagogische Situation vor allem auch des Hamburger Schulwesens zu kennen, ist das Resultat meines Bildungsganges, den ich bereits skizzierte, und meine Erfahrungen, Überlegungen und Besinnung in der Gefangenschaft, wo ich vorwiegend auf theologischem Gebiet in Arbeitsgemeinschaften unter Führung von wissenschaftlich gut durchgebildeten Theologen meine Kenntnisse vertiefen konnte. Christentum, Antike, Deutschtum, daneben das übrige Volkstum des Abendlandes – sie sind die Werte, den künftigen deutschen Menschen zu formen. Christlicher Humanismus, so möchte ich das neue Bildungsziel, das mir vorschwebt, benennen – er vermag der künftigen Erziehung eine feste Grundlage, den geistes- wie naturwissenschaftlichen Fächern die Möglichkeit der Konzentration und zuletzt der Oberschule nach dem mannigfachen Wechsel der Programme wieder ein geistiges Gesicht zu geben. Dieses christlich-humanistische Bildungsziel bedeutet eine Absage an das der Bestimmungen von 1925, das sich fast ausschließlich auf das Gedankengut des deutschen Idealismus aufbaute. Wie groß ist abgesehen von der Antike, die Spannungsmächtigkeit allein der deutschen Seele: Edda, Nibelungenlied, Wolfram, Luther, Friedrich der Große, Kant, Schiller, Goethe, Hegel, Bismarck, Wagner, Nietzsche u. a. – eine zickzackhafte Linie bei allem Reichtum. Wollen wir die Jugend bewahren vor dem Quälenden und Lähmenden einer mit solcher Spannung erfüllten geistigen Welt, so ist es nur möglich durch die Rettung der Bildungseinheit im Religiösen. Und die Begeisterung, durch die der Geschichtsunterricht erziehlich wirkt, wird in Zukunft, nachdem der patriotische Gedanke und alle ,Mythen‘ dahingegangen sind, nur noch aus sehr tiefen Gründen des Pneumatischen kommen können. Eine philosophische Unterrichtsführung der früheren ‚deutschen Bildung‘ hat nur noch relative Bedeutung in Hinsicht auf die durchzuführende Einheit des Bildungswertes, der Idealismus transzendentaler und metaphysischer Prägung kann aber nicht das Letzte sein. Er hat lebenszerstörerische Folgen, wie wir es vor 1933 und auch ganz besonders danach erlebt haben, wenn das Bildungsideal nicht einmündet in eine geschichtstheologische Ausschau nach Sinn und Ziel des Lebens. Nur so wird man allen Mythen, dem Verfallensein an geschichtliche Gestalten und Bilder mit Erfolg entgegenwirken; denn im Wesen des ‚Mythus‘, wie wir wissen, liegt es, dass er den Blick umnebelt, an Vergangenes bindet, den Willen zum Neuen lähmt, die persönliche Freiheit hemmt. Der Mythus ist vielköpfig und trennend, diesem gegenüber bekennt sich der theologisch ausgerichtete Erziehungswille zum Herrn der Geschichte in seinem ‚Wort‘, in dessen Geiste eine Konzentration, eine Sammlung und Einheit des gesamten kulturellen Lebens möglich ist.“[17]
Ich bin mir nicht sicher, ob OSR Schröder danach schlauer war, mit wem er es hier zu tun hatte. Er schrieb jedenfalls am 14.12.1950 an den Leitenden Ausschuss beim Staatskommissar für die Entnazifizierung, dass gegen Wilhelm Bartels ein Entnazifizierungsverfahren einzuleiten sei. Er verwies darauf, dass Bartels erst aus jugoslawischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt sei, „nachdem das Entnazifizierungsverfahren bereits durch das Gesetz vom 10. Mai 1950 zum Abschluss gebracht war“.[18]
Und er verwies darauf, dass Bartels bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war und von 1937 an das Amt eines Kreisamtsleiters im NSLB bekleidete: „Im Jahre 1939 wurde Bartels zum Oberstudiendirektor befördert und zum Leiter der Kirchenpauerschule ernannt. Diese Beförderung erfolgte nicht aufgrund einer besonderen wissenschaftlichen und pädagogischen Befähigung, sondern ausschließlich aufgrund seiner parteipolitischen Haltung und seines Amtes im NSLB.“[19]
Heinrich Schröder war durch die philosophischen Ausführungen von Wilhelm Bartels nicht aus der Spur gebracht worden, dass bestimmte Fakten Grundlage für das Entnazifizierungsverfahren waren. Und dazu zählte:
„Alle Lehrkräfte, die 1933 in die NSDAP eingetreten waren und dann von der nationalsozialistischen Schulbehörde zur Oberstudiendirektoren ernannt worden sind, sind ohne Ausnahme im Wege des Entnazifizierungsverfahrens zu Studienräten herabgestuft worden oder in den Ruhestand versetzt worden, weil es politisch nicht zu verantworten war, diesen Lehrkräften die Leitung einer Schule im demokratischen Staat anzuvertrauen.“[20]
Heinrich Schröder stellte nach Abschluss der Entnazifizierungen noch einmal fest, auf welcher Grundlage diese zumindest in dem Bereich erfolgten, für den er in der Schulbehörde zuständig war:
„Wenn nun Bartels als ausgesprochener Partei-Oberstudiendirektor ohne eine besondere fachliche Qualifikation Oberstudiendirektor bliebe, nur, weil er erst nach der Beendigung des Entnazifizierungsverfahrens zurückgekehrt ist – im bisherigen normalen Entnazifizierungsverfahren wäre er bestimmt zum Studienrat herabgestuft worden –, so würde das eine unberechtigte Bevorzugung gegenüber den übrigen herabgestuften früheren Schulleitern sein und würde von der Lehrerschaft nicht verstanden und als ungerecht empfunden. Dazu kommt, dass das Amt eines Leiters einer Wissenschaftlichen Oberschule, dem die politische Erziehung der Schülerschaft als eine der wichtigsten Aufgaben übertragen ist, von so großer politischer Bedeutung ist, dass eine Besetzung durch einen ehemaligen Funktionär der NSDAP, der seine Beförderung ausschließlich seiner nationalsozialistischen Haltung zu verdanken hatte, schlechterdings nicht tragbar ist. Der Leitende Ausschuss hat noch vor kurzem mehrere Anträge von ehemaligen Oberstudiendirektoren, die 1933 Mitglied der NSDAP wurden, und die von der Schulbehörde in der Nazizeit zu Oberstudiendirektoren befördert worden sind, auf Wiedereinstellung in ihr Amt abgelehnt.“[21]
Damit war eine deutliche Spur gelegt, an der auch das Schreiben von Wilhelm Bartels nach dem persönlichen Besuch bei OSR Schröder, den er als wenig erfolgreich ansah, nichts geändert hatte. Der Leitende Ausschuss kam am 22.12.1950 zusammen und schloss sich der Position, die OSR Schröder ausgeführt hatte, an, mit der Akzeptanz, Bartels als Lehrer wieder einzustellen, nicht aber als Oberstudiendirektor oder Schulleiter.[22]
Wilhelm Bartels wurde sehr kurzfristig, zum 1.1.1951 wieder eingestellt und der Bismarck-Schule zugewiesen. Da die Entnazifizierung abgeschlossen war, musste der Hamburger Senat über die Einleitung eines Entnazifizierungsverfahrens für einen „Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft“ explizit entscheiden. Dies tat er am 20.1.1951 in seiner Senatssitzung, mit dem Ergebnis, ein solches Verfahren durchzuführen.[23]
Es wurde noch einmal ein Fachausschuss zusammengestellt, der am 6.2.1951 tagte und beschloss, Bartels in Kategorie III einzustufen und ihn als Studienrat mit einer abgestuften Besoldung weiterzubeschäftigen.[24]
Dagegen legte Bartels am 27.3.1951 Widerspruch ein. Er verwies darauf, dass andere Oberstudiendirektoren, „die ältere Mitglieder der NSDAP und ausgesprochene Aktivisten waren und schon vor 1933 leitende Posten in der Parteileitung innehatten, in Kategorie IV eingestuft worden waren“.[25]
Damit hatte Wilhelm Bartels Recht, weil nicht in allen Entnazifizierungsverfahren dieselben Maßstäbe angelegt wurden. Und jetzt begann auch Bartels, seine politischen Tätigkeiten herunterzuspielen:
„Als ich dann am 1.5.1933 Mitglied der NSDAP wurde, vorwiegend auf Grund eines besonderen Hinweises meines damaligen Direktors im Interesse seiner Privatschule, und ich nach der Machtübernahme als Beamter gezwungen war, mich irgendwo politisch zu betätigen, übernahm ich das Amt eines Blockwalters in dem neu gegründeten Lehrerbund, der dann später der Parteiorganisation als angeschlossener Verband eingefügt wurde. Zur Bestätigung dessen, dass ich auch damals nicht in erster Linie parteipolitisches Interesse hatte, weise ich noch darauf hin, dass ich trotz wiederholter Aufforderung, die an mich erging, weder in einen militärischen Verband der Partei, der SA und SS, noch in die Parteiorganisation als politischer Leiter eingetreten bin. Wenn ich dann 1937 Kreisamtsleiter im Lehrerbund wurde, so war diese Ernennung erfolgt aufgrund allgemeinen menschlichen Vertrauens, das man mir schenkte, und nicht die Folge von propagandistischer Einstellung und Betätigung oder Sympathisierung mit maßlosen und extremen Anschauungen.“[26]
Bartels bestritt nicht, „dass auch meine Ernennung zum Oberstudiendirektor auf dem damals für höhere Dienststellen üblichen Wege, auf Vorschlag der Partei erfolgt ist. Aber man dürfte mir doch nur in dem Falle den Vorwurf der Nutznießerschaft machen, wenn meine Beförderung unberechtigterweise im Sinne mangelnder Vorbildung und Leistung erfolgt wäre“. Er verwies darauf, vor seinem Studium schon eine seminaristische Ausbildung und Praxis als Volksschullehrer gehabt zu haben.[27]
Der Berufungsausschuss, der am 18.4.1951 tagte, änderte nichts daran, Bartels als Studienrat weiter arbeiten zu lassen, stufte ihn aber in Kategorie IV ein, was eine Gleichstellung mit ähnlichen Fällen bedeutete.[28]
Wilhelm Bartels stellte dann einen „Antrag auf Beseitigung unbilliger Härten“ und wies auf ein Problem hin, was allerdings Resultat der nationalsozialistischen Herrschaft und des von dem NS-Regime angezettelten Krieges gewesen ist:
„Zum Schluss weise ich noch auf meine wirtschaftliche Lage hin, die sich nach meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft besonders schwierig gestaltet. 1943 wurde ich totalbombengeschädigt, meine Familie lebte bis Ende 1949 in der Ostzone und kam vollkommen abgerissen und mittellos hier in Hamburg an. Meinen Hausstand muss ich deswegen von Grund auf neu aufbauen. Darüber hinaus erfordert die Anschaffung von Garderobe und notwendigen wissenschaftlichen Werken in meinem Beruf erhöhte finanzielle Mittel.“[29]
Nachdem OSR Heinrich Schröder gestorben war, nahm Wilhelm Bartels sich Rechtsanwalt Willi Goldberg zur Hilfe, der in mehreren Entnazifizierungsverfahren tätig gewesen war. Es war schon perfide, den ehrbaren Heinrich Schröder nunmehr diskreditieren zu wollen:
„Oberschulrat Schröder hat seinerzeit in einer Stellungnahme erklärt, dass die schnelle Beförderung des Antragstellers lediglich auf seine Zugehörigkeit zur Partei und Tätigkeit in dieser zurückzuführen sei und dass insbesondere eine fachliche Eignung nicht vorgelegen habe. Wie Oberschulrat Schröder, der inzwischen verstorben ist, zu diesen Feststellungen gelangt ist, ist aus seiner Stellungnahme nicht ersichtlich. Die Personalakten ergeben ebenfalls keinen Anhaltspunkt.“[30]
Dabei war es eigentlich ganz einfach: Wenn jemand nach zweijähriger Tätigkeit als Studienrat im öffentlichen Dienst zum Oberstudiendirektor befördert wurde, kann es kaum aufgrund seiner pädagogischen Kompetenzen und seiner Leitungserfahrungen gewesen sein. Das relativiert überhaupt nicht, dass Wilhelm Bartels durch seine lange Ausbildung in zwei Schulformen möglicherweise über eine gute Lehrerkompetenz verfügte.
Das Ansinnen von Rechtsanwalt Goldberg war nicht erfolgreich. Bartels wurde zwar in Kategorie V eingestuft gemäß § 6 des Gesetzes zum Abschluss der Entnazifizierung vom 10.5.1950, aber das änderte am Status von Wilhelm Bartels erst einmal nichts.
Am 7.10.1952 suchte Bartels den für den gymnasialen Bereich nun verantwortlichen Oberschulrat Hans Reimers auf, der ein Ergebnisprotokoll von dem Gespräch anfertigte, in dem es hieß:
„Die Stellungnahme der Schulbehörde wird zum Ausdruck bringen, dass die Voraussetzungen nach den Laufbahnbestimmungen für die Beauftragung mit einer Schulleitung vor dem Kriege erfüllt gewesen sind, dass aber die Verbindung mit der NSDAP bei seiner Ernennung eine wesentliche Rolle gespielt habe.“[31]
Wilhelm Bartels hatte beantragt, als Oberstudiendirektor an der Kirchenpauer-Schule eingesetzt zu werden. Reimers vermerkte dazu, dass dafür eine andere Personalentscheidung getroffen worden sei. Das Personalamt teilte Bartels am 6.11.1952 mit, dass er nicht wieder als Oberstudiendirektor eingesetzt werden würde.[32]
Wilhelm Bartels arbeitete die ganze Zeit an der Bismarck-Schule. Er führte nun seit dem 2.10.1952 einen Rechtsstreit „um Wiederherstellung alter Beamtenrechte und um das Oberstudiendirektorengehalt“. In der Schulbehörde wurde jetzt überprüft, was ehemalige Oberschulräte aus der NS-Zeit zu der Angelegenheit zu sagen hatten. Hans Reimers befragte den ehemaligen Oberschulrat Dr. Wilhelm Oberdörffer, der „zur Zeit der Beförderung von Wilhelm Bartels Personalreferent der Schulbehörde“ für diesen Bereich gewesen war: „Soweit festgestellt werden konnte, liegen keine Parallelfälle vor, in denen bereits nach kurzer Dienstzeit als Studienrat im staatlichen Schuldienst Beförderungen zum Oberstudiendirektor ausgesprochen worden sind. Alle zwischen 1933 und 1945 ausgesprochenen Beförderungen zum Oberstudiendirektor betrafen Lehrkräfte, die wesentlich länger im staatlichen Schuldienst tätig gewesen waren. – Die Tatsache, dass eine Beförderung im Alter von 39 Jahren zum Oberstudiendirektor ausgesprochen wurde, ist an sich allerdings nicht ungewöhnlich.“[33]
In dem Verfahren wurde dann deutlich, wer eigentlich der Initiator für die Ernennung von Wilhelm Bartels für die Oberstudiendirektoren-Position gewesen war. Es war offenbar Albert Henze, der im Hamburger Schulwesen während der NS-Zeit eine sehr fragwürdige Rolle gespielt hatte. Vor dem Verwaltungsgericht hatte er sich geäußert:
„Studienrat Henze erklärte als Zeuge, dass er zu der damaligen Zeit Leiter der Gauführerschule in Hamburg gewesen sei. Diese sei der Schulbehörde angegliedert gewesen. Ihm sei der Kläger aus der Zeit von 1928, in der beide an einer Privatschule unterrichtet hätten, als ein aufrechter und ordentlicher Lehrer bekannt. Deshalb habe er auch, als die Stelle eines Oberstudiendirektors am Kirchenpauer-Gymnasium zu besetzen war, an den Kläger gedacht. Er habe dem Reichsstatthalter eine Liste für die Besetzung dieser Stelle eingereicht. Auf dieser Liste habe auch Bartels gestanden. Während die anderen Bewerber zum großen Teil alte Kämpfer gewesen seien, sei der Kläger nur Mitglied der Partei seit Mai 1933 gewesen. Ihm sei auch bekannt, dass der Kläger es stets abgelehnt hat, den Wünschen der Partei zu folgen und aus der Kirche auszutreten. Da der Gauleiter diesem Punkt keine Bedeutung beimaß, es aber sein Bestreben war, die Schulleiterstellen mit an Jahren jungen Lehrern zu besetzen, habe er Bartels namhaft gemacht.“[34]
So halfen sich alte Kameraden in den Jahren nach der NS-Zeit. Albert Henze war einer der übelsten Nationalsozialisten im Hamburger Schulwesen gewesen und es gelang ihm niemals, wieder in den Hamburger Öffentlichen Dienst zu kommen. Er hatte in Schleswig- Holstein an der Oberschule zum Dom in Lübeck über Seilschaften eine Studienratsstelle als Angestellter erlangen können und war selbst frustriert darüber, nicht wieder auf die Karriereleiter gelangt zu sein.[35]
Der ehemalige Oberschulrat Wilhelm Oberdörffer[36], der nach 1945 durchaus bereit war, für viele aus meiner Sicht sehr belastete ehemalige Nationalsozialisten Leumundszeugnis auszustellen, blieb im Fall Bartels sehr klar und eindeutig:
„Der Zeuge Dr. Oberdörffer sagte aus, dass die Ernennung des Klägers zum Oberstudiendirektor und Leiter des Kirchenpauer-Gymnasiums nur aus politischen Gründen erfolgt sei. Der Kläger sei wohl ein brauchbarer Lehrer gewesen. Er sei aber niemals weder organisatorisch noch pädagogisch so hervorgetreten, dass man ihm die Leitung dieser bedeutenden höheren Schule hätte anvertrauen können. Dafür seien geeignetere Persönlichkeiten vorhanden gewesen.“[37]
Wilhelm Bartels selbst hatte noch eine ganz andere, beinahe absurde Variante für seinen damaligen Karrieresprung angeboten:
„B. erklärte, dass ihm sein Kreisleiter Brandt seinerzeit gesagt habe, dass er, wenn er Kreisamtsleiter des NSLB bleiben wolle, Oberstudiendirektor sein müsse. Brandt sei deswegen ohne sein Zutun an die Oberschulbehörde herangetreten.“[38]
Die Klage von Wilhelm Bartels wurde vor dem Landesverwaltungsgericht am 15.2.1954 kostenpflichtig abgewiesen.[39]
Bartels legte Berufung ein und verlor auch vor dem Oberverwaltungsgericht am 17.3.1955. Seine Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde am 20.2.1958 abgewiesen.[40]
Einen Erfolg verbuchte Wilhelm Bartels jenseits des Klageweges. Am 19.12.1958 stellte Senator Landahl für die Behörde den Antrag, Wilhelm Bartels zum Oberstudienrat zu befördern. Viele ehemalige Nationalsozialisten waren mittlerweile in der Referendar-Ausbildung tätig und wurden darüber zu Oberstudienräten befördert. In der Begründung hieß es:
„Herr Wilhelm Bartels ist ein in seinen Fächern Deutsch, Geschichte und Religion wissenschaftlich beschlagener, fleißiger und gründlicher Lehrer, der mit viel Erfolg Studienreferendare anzuleiten und in den Abiturklassen Freude an intensiver geistiger Arbeit zu wecken verstand. Als Fachberater für den Deutschunterricht ist er seinen Fachkollegen wertvolle Hilfe und Stütze, allen Kollegen ein feinsinniger Berater für pädagogisch-psychologische Fragen.“[41]
Parallel dazu war übrigens der ehemalige SA-Mann, NSDAP-Mitglied seit 1932, Paul Löden am Bismarck-Gymnasium zum stellvertretenden Schulleiter ernannt worden.[42]
Wilhelm Bartels arbeitete noch ein Jahr über die Pensionsgrenze hinaus. Dann wurde er zum 31.3.1966 in den Ruhestand versetzt.[43]
Er starb am 13.6.1984.[44]
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte Bartels, StA HH, 361-3_3704, Ablieferung 2005/01
2 Entnazifizierungsakte Bartels, StA HH, 221-11_83927 KAT
3 Personalakte a. a. O.
4 Personalakte a. a. O. Sehe auch die Biografien Hermann Saß und Paul Dittmer, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 178 ff. und 268 ff.
5 Personalakte a. a. O.
6 Entnazifizierungsakte a. a. O.
7 Entnazifizierungsakte a. a. O.
8 Entnazifizierungsakte a. a. O.
9 Personalakte a. a. O.
10 Entnazifizierungsakte a. a. O.
11 Personalakte a. a. O.
12 Personalakte a. a. O.
13 Antrag vom 10.10.1948, Personalakte a. a. O.
14 Antrag vom 31.10.1950, Personalakte a. a. O.
15 Schreiben vom 28.11.1950 an OSR Schröder, Personalakte a. a. O.
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Schreiben vom 14.12.1950, Entnazifizierungsakte a. a. O.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Leitender Ausschuss vom 22.12.1950, Entnazifizierungsakte a. a. O.
23 Senatsdrucksache vom 20.1.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
24 Fachausschuss vom 6.2.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
25 Schreiben vom 27.3.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Berufungsausschuss vom 18.4.1951, Entnazifizierungsakte a. a. O.
29 Personalakte a. a. O.
30 Schreiben vom 15.5.1952, Entnazifizierungsakte a. a. O.
31 Vermerk von Hans Reimers vom 7.10.1952, Personalakte a. a. O.
32 Schreiben vom 6.11.1952, Personalakte a. a. O.
33 Vermerk von Hans Reimers vom 1.2.1954, Personalakte a. a. O.
34 Vermerk des Personalamtes vom Verwaltungsrechtsstreit Bartels vom 18.3.1955, Personalakte a. a. O.
35 Siehe die Biografie Albert Henze, in: de Lorent 2016, S. 162 ff.
36 Siehe die Biografie Wilhelm Oberdörffer, in: de Lorent 2016, S. 528 ff.
37 Vermerk des Personalamtes vom 18.3.1955, Personalakte a. a. O.
38 Terminbericht des Personalamtes vom 21.1.1954, Personalakte a. a. O.
39 StA HH, 131-11 Personalamt_4127
40 Ebd. Das Urteil des OVG ist in dieser Akte enthalten.
41 Ernennungsvorschlag vom 19.12.1958, Personalakte a. a. O.
42 Siehe die Biografie Paul Löden, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017, S. 409.
43 Personalakte a. a. O.
44 Personalakte a. a. O.
 

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Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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