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Karl Hahn

(4.1.1882 Gießen – 14.2.1963)
Schulleiter der Oberrealschule auf der Uhlenhorst
Marienterrasse 8a (Wohnadresse 1942)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Karl Hahn ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:

„So war er, so Bedeutendes er auch geleistet hat, politisch gesehen, nur einer der vielen ‚Totengräber‘ des Weimarer Staates.“
Ein gutes Beispiel für die Kontinuität im Bereich der höheren Schulen ist der Schulleiter der Oberrealschule auf der Uhlenhorst, Prof. Karl Hahn, der schon in den Zeiten der Selbstverwaltung 1920 zum Schulleiter gewählt wurde. Er blieb dies die gesamte Zeit der Weimarer Republik und stand 1933 weiterhin auf der Liste der Schulleiter, die der neue Schulsenator Karl Witt vorlegte. Hahn, den ein ehemaliger Schüler als „deutsch-national bis auf die Knochen“ charakterisierte, trat, wie viele andere Schulleiter an den höheren Schulen in Hamburg, am 1.5.1933 in die NSDAP ein. Er war schon im Ersten Weltkrieg Offizier gewesen, wurde am 4.10.1939 wieder zur Wehrmacht einberufen und dort im Laufe des Krieges bis zum Oberstleutnant befördert. Im Entnazifizierungsverfahren bekam er ein entscheidendes Leumundsschreiben von dem neuen Schulsenator Heinrich Landahl, dem gegenüber Karl Hahn sich fair und unterstützend verhalten hatte, als die Nationalsozialisten Landahl 1933 als Schulleiter absetzten und ein Jahr später auch aus dem Dienst als Lehrer entließen, den er an Hahns Schule auf der Uhlenhorst geleistet hatte.
Karl Hahn wurde am 4.1.1882 als Sohn des gleichnamigen Bauunternehmers und seiner Frau Luise in Gießen geboren. Er besuchte dort die Vorschule des Realgymnasiums von 1888 bis 1891, danach das Realgymnasium, das er 1900 mit der Reifeprüfung abschloss. Karl Hahn war bodenständig und zielstrebig. Er studierte an der Universität in Gießen und zwischendurch in München Physik und Mathematik, bestand am 2.3.1904 die pädagogische Prüfung für das höhere Lehramt und wurde am 1.12.1904 zum Dr. phil. promoviert. Danach verbrachte er das Seminarjahr und das Probejahr an der Oberrealschule in Darmstadt und bekam 1907 eine Anstellung als Oberlehrer am Gymnasium in Bensheim.[1]
Zwischenzeitlich hatte Hahn 1905 ein Jahr seine Militärausbildung absolviert, 1910 war er Leutnant der Reserve. In seinen biografischen Notizen, die er in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren formulierte, wies er darauf hin, am gesamten Ersten Weltkrieg teilgenommen zu haben, „als Leutnant, Oberleutnant und Hauptmann, zuletzt Nachrichtenkommandeur in einer Division“.[2]
1912 kam Karl Hahn über den Kontakt zu dem Direktor der Oberrealschule auf der Uhlenhorst, Ernst Grimsehl, der auch Physiklehrer war, an dessen Schule nach Hamburg. Grimsehl war dort 1909 Schulleiter geworden und ein über Hamburg hinaus bekannter Physiklehrer, der zahlreiche Veröffentlichungen auf diesem Gebiet vorlegte, unter anderem ein „Lehrbuch der Physik“, das noch jahrzehntelang in vielen Neuauflagen erschien.[3]
Ernst Grimsehl war aber auch ein „glühender Nationalist und Militarist, und mit diesen Einstellungen als Direktor auf der Uhlenhorst der Schule nicht nur einer unter vielen, sondern auch ein Vorbild“.[4] In der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen der Schule wurde dazu die Erinnerung eines ehemaligen Lehramtskandidaten wiedergegeben, der beschrieb, wie das Zusammentreffen mit Schulleiter Ernst Grimsehl ablief, nachdem der Kandidat gerade für den Militärdienst abgelehnt worden war:
„Zufrieden und fröhlich machte ich mich auf den Heimweg und ging gleich in die Schule. Im Vorzimmer traf ich den Chef. – ‚Na?‘ ‚Befreit, Herr Professor!‘, sagte ich fröhlich. – Totenstille –, ein verächtlicher Blick maß mich von unten bis oben, und als er mir in die Augen sah – und wie –, platzte es explosionsartig aus ihm heraus: ‚Reichskrüppel!‘; kurze Wendung, und er verschwand im Allerheiligsten.“[5]
An der Schule auf der Uhlenhorst spielten die jährlich stattfindenden Sedan- und Kaiser-Geburtstagsfeiern eine große Rolle und brachten die zunehmende Militarisierung des wilhelminischen Kaiserreichs zum Ausdruck. „Bei der Feier zur Erinnerung an die Schlacht von Sedan verglich Direktor Grimsehl in einer Rede 1911 die Sammlung der militärischen Streitkräfte, die den Sieg von Sedan ermöglichten, mit der Sammlung geistiger Kräfte für die Reifeprüfung.“[6]
Und so war es folgerichtig, dass der Erste Weltkrieg „zu einschneidenden Veränderungen im Kollegium führte. Der 53-jährige Direktor Grimsehl sowie sechs Lehrer und zwei Kandidaten meldeten sich sofort freiwillig. Bis 1916 strebten 15 Lehrer und fünf Kandidaten der Schule zum Militärdienst, vier von ihnen starben. Bereits drei Monate nach Kriegsbeginn fiel Direktor Grimsehl bei Langemarck in Belgien. Die Nachricht von seinem Tod löste nicht nur in der Schule Erschütterung aus“.[7]
Karl Hahn gehörte auch zu denen, die freiwillig in den Krieg zogen. Als er am 10.12.1918 zurück an die Schule kam, wurde diese vertretungsweise von einem Oberlehrer der Schule geleitet. Nach der Novemberrevolution war für die Zeit der Weimarer Republik 1920 ein Selbstverwaltungsgesetz verabschiedet worden, nach dem die Schulleiter für jeweils begrenzte Zeit (drei Jahre) vom Lehrerkollegium mit Beteiligung des Elternrates gewählt wurden. Interessant ist, dass an den Hamburger Volksschulen von den 195 Rektoren aus dem Kaiserreich 63 nicht wiedergewählt wurden oder sich nicht wieder zur Wahl stellten. „Etwa 42 % der Volksschulleiter in Arbeiterwohngebieten und mittelständisch durchsetzten Stadtteilen wurden durch neue Schulleiter ersetzt. An den höheren Schulen fielen die Ergebnisse ganz anders aus: drei Schulleiter stellten sich nicht zur Wahl, alle anderen wurden in ihr altes Amt gewählt.“[8] Diese Treuebekundung „war zugleich ein Bekenntnis gegen innere Schulreformen“.[9]
An der Oberrealschule auf der Uhlenhorst wurde Karl Hahn als würdiger Nachfolger von Ernst Grimsehl 1920 zum Schulleiter gewählt. Karl Hahn trat bei bestimmten Feierlichkeiten an der Schule in der Aula „als Hauptmann a. D. auf“.[10]
1921 schrieb er in seiner Schulchronik:
„Die Arbeit in der Schule … wird unbekümmert um die Einwirkungen, die von außen her hemmend auf die Schultätigkeit gerichtet sind, in dem Geiste fortgesetzt, der auf der Oberrealschule auf der Uhlenhorst seit Beginn geherrscht hat“.[11]
Ein ehemaliger Referendar der Schule schilderte in seinen 1970 niedergeschriebenen Erinnerungen, wie Karl Hahn in seinem Amt als Direktor regierte:
„Ich kam auf die Uhlenhorst, die durch den Naturwissenschaftler Grimsehl berühmt gewordene Oberrealschule, an der seit 1920 Prof. Hahn Direktor war. Grimsehl hatte trotz seines Alters zu den Freiwilligen gehört, die bei Langemarck gefallen waren. In diesem Geiste führte Hahn die Schule. Er erzählte uns Referendaren, dass er die Wahl zum Schulleiter nur unter einer Bedingung angenommen hätte: wenn er nämlich das Direktorialprinzip aus der Zeit von 1918 wieder einführen dürfe. Für seine Persönlichkeit spricht, dass das Kollegium und auch die Elternschaft diese Bedingung annahmen, obwohl nach der neuen Hamburger Schulordnung von 1919 nur das Kollegialprinzip gesetzlich zulässig war. Unbegreiflich bleibt aber, dass die Schulbehörde ein solch schweres Vergehen duldete. Auf jeden Fall war Hahn in der Schule König und befand sich wahrscheinlich auch meistens in Übereinstimmung mit den beiden anderen Gremien. Ich vermute, die Behörde war froh, einen so hervorragenden Schulmann an der Spitze einer solchen Schule zu wissen. Denn er war gleich groß als Pädagoge, Wissenschaftler und Verwaltungsfachmann. Natürlich gab es auch Schwierigkeiten: wer ihm nicht lag, musste wieder gehen. So verschwand ein junger Kollege, der im Zeichenunterricht recht moderne Ideen vertrat, nach kurzer Zeit. Im Kriege hatte es Hahn zum Hauptmann gebracht, und beim Schulfest im Uhlenhorster Fährhaus – es war Ende 1932 – trug er stolz das EK I auf seinem schwarzen Anzug. Er war deutschnational bis auf die Knochen. So sagte er beiläufig im Gespräch, als wir Referendare eines Tages bei ihm eingeladen waren: ‚Meine Frau und ich wählen selbstverständlich deutsch-national, natürlich nicht wegen Hugenberg.‘ Etwas anderes gab es für ihn nicht. So war er, so Bedeutendes er auch geleistet hat, politisch gesehen, nur einer der vielen ‚Totengräber‘ des Weimarer Staates.“[12]
Karl Hahn legte gleichermaßen Wert auf seine militärische Karriere wie auf sein naturwissenschaftliches Engagement. Er selbst schrieb:
„Seit 1913 bin ich schriftstellerisch tätig. 1920 Physikbuch für die Oberstufe höherer Lehranstalten; 1923 Unterstufe, 1924 mathematische Physik, dann Schülerübungen, 1927 Methodik des physikalischen Unterrichts. Im ganzen etwa 110 Bücher verschiedene Ausgaben und Auflagen, weitaus die meisten vor 1933 erschienen. Die von mir geschriebenen Bücher wurden an vielen deutschen Oberschulen benutzt. Ich wurde dadurch ganz von selbst seit 1925 etwa führendes Mitglied in dem ,Förderungsverein für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht‘ Deutschlands und später Vorstandsmitglied in der nicht nationalsozialistischen ‚Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte‘, einer wissenschaftlichen Vereinigung.“[13]
Seiner Personalakte ist zu entnehmen, dass er an vielen Tagungen regelmäßig teilnahm und auch Vorträge hielt. Er war Leiter des Schulseminars auf der Uhlenhorst und wurde dadurch auch zum Professor ernannt. Parallel dazu war er sowohl in der Weimarer Zeit als auch nach 1933 am Institut für Lehrerfortbildung tätig.[14]
Am 1.5.1933 wurde Karl Hahn Mitglied der NSDAP. Seinen Eintritt in den NSLB datierte er 1936[15], wobei er im NSLB Reichssachbearbeiter für Physik wurde und auch an verschiedenen Tagungen in Bayreuth teilnahm.[16]
Karl Hahn war gleichermaßen in all den Jahren der NS-Herrschaft, jährlich zu militärischen Übungen unterwegs, zumeist als Hauptmann der Reserve und Nachrichtenkommandeur. Am 18.1.1938 wurde er zum Major der Reserve befördert. Ordnungsgemäß und stolz meldete er seine militärischen Beförderungen auch der Schulverwaltung.[17]
Im ersten Band der „Täterprofile“ habe ich die Personalpolitik der Nationalsozialisten im Schulbereich dargestellt. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden in Hamburg bis 1935 637 Lehrkräfte aus dem Schuldienst entfernt. Nach § 6, der Versetzungen in den Ruhestand „zur Vereinfachung der Verwaltung“ vorsah, gab es 555 Pensionierungen. Das Kollegium der Oberrealschule auf der Uhlenhorst war direkt von keiner dieser Maßnahmen betroffen. Es entsprach in seiner Zusammensetzung den Anforderungen des nationalsozialistischen Staates.[18] Indirekt gab es aber einen prominenten Neuzugang. Heinrich Landahl, bis 1933 Leiter der reformpädagogischen Lichtwarkschule, war von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben und als Lehrer an die Schule von Karl Hahn versetzt worden.[19] Landahl war neben seiner Schulleitertätigkeit langjähriges Bürgerschaftsmitglied für die DDP/Deutsche Staatspartei gewesen und gehörte zu den fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei im Reichstag, die 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatten. Er verblieb an der Oberrealschule auf der Uhlenhorst nur bis zum Sommer 1934. Prof. Karl Hahn begegnete seinem ehemaligen Schulleiter-Kollegen Heinrich Landahl sehr offen und positiv. Landahl selbst, der nach Ende der NS-Herrschaft in Hamburg Schulsenator wurde und insofern wiederum für Karl Hahn eine Bedeutung bekam, schrieb am 4.2.1946 über Hahn:
„Ich kannte Prof. Hahn seit 1926 von den Schulleiterkonferenzen als unpolitischen Menschen, tüchtigen Verwaltungsmann und anerkannten Wissenschaftler (Verfasser eines der besten Physiklehrbücher). In sehr enge Berührung mit ihm kam ich erst im Sommer 1933, als ich zunächst meines Amtes als Schulleiter enthoben und als Studienrat an die Oberrealschule auf der Uhlenhorst versetzt wurde, deren Leiter Prof. Hahn war. Ich war bis zu meiner endgültigen Entlassung aus dem Staatsdienst zu Ostern 1934, also ca. acht Monate an dieser Schule. Obgleich ich als degradierter Gegner des herrschenden Systems kam, behandelte Prof. Hahn mich als besonders ehrenvolles Mitglied des Kollegiums. Er übertrug mir demonstrativ den Deutsch- und Geschichtsunterricht in der Prima und die Ausbildung des einzigen Lehramtskandidaten mit Deutsch- und Geschichtsfakultas im Abschlusssemester. Versteckte Angriffe jüngerer Mitglieder des Lehrkörpers wies er mit großer Schärfe und konzessionslos zurück. Gegen meine Entlassung hat er heftig protestiert und hartnäckig, wenn auch natürlich vergeblich, gekämpft. Das Gleiche taten übrigens die Schüler, was für den Geist der Schule vielleicht aufschlussreich ist.
Prof. Hahn war, ebenso wie sein Kollegium, abgesehen von wenigen Ausnahmen, ganz zweifellos kein Nationalsozialist. Er war der Partei auf dringendes Bitten seines Kollegiums beigetreten, um seine Schule, an deren Spitze er seit 1920 als demokratisch gewählter Leiter stand, gegen drohende Parteieinflüsse zu schützen. Er trat keiner weiteren Formation bei und hat hartnäckig und erfolgreich die Übernahme irgendeines Amtes in der NSDAP abgelehnt. In unseren Unterhaltungen der folgenden Jahre (die Schule behandelte mich nach meiner Entlassung als eine Art Ehrenmitglied und lud mich zu allen Veranstaltungen ein) habe ich festgestellt, dass Prof. Hahn von Anfang an das drohende Unheil sah und vom ersten Kriegstage an die unvermeidliche Niederlage erkannte. Auch hatte er nur das eine Ziel, seine Schule als geistige Insel zu retten. Das ist ihm für lange Zeit und im hohen Maße gelungen. Ich hatte darüber hinaus aus genauer Beobachtung das große Organisationstalent Prof. Hahns kennen gelernt, seine unermüdliche Arbeitskraft, seinen noblen Charakter, seine über jeden Zweifel erhabene Loyalität und Pflichttreue.“[20]
Eine überraschende Erklärung, die Senator Heinrich Landahl am 4.2.1946 abgab. In der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Gymnasiums Uhlenhorst-Barmbek gaben die Autoren ein zusätzliches Detail bekannt:
„Vielleicht aus Loyalität gegenüber seinem ehemaligen Kollegen verschaffte Hahn Landahl Privatstunden, bis dieser eine Anstellung als Lektor eines Verlages fand. Aus dieser Zeit resultierte das gute Verhältnis der beiden, als Landahl nach dem Krieg Hamburger Schulsenator wurde.“[21]
In den beiden Weltkriegen war Karl Hahn stetig befördert worden. Er selbst gab 1946 wiederum eine überraschende Erklärung ab, wonach im Nachhinein manche Offiziere mit der Strategie und dem Verlauf des Krieges nicht einverstanden waren:
„Als 58-jähriger Major und Kommandeur einer Divisionsnachrichtenabteilung bin ich im September 1939 nach dem Westen ausgerückt. Bevor der Kampf im Westen begann, wurde ich abgelöst und Kommandeur der Nachrichtenersatzabteilung in Hamburg. Von Anfang an war ich davon überzeugt, dass der Krieg ein Unglück für Deutschland und dass die endgültige Niederlage unabwendbar sei. Mit der militärischen und politischen Führung nicht einverstanden, beschränkte ich meine Tätigkeit auf die Fürsorge für meine Leute, was mir angesichts meiner besonderen Aufgaben leicht gemacht wurde. Aus meiner die nationalsozialistische Ideenwelt ablehnenden Haltung habe ich keinen Hehl gemacht. In den Ansprachen, die ich als Kommandeur einer großen Abteilung zu halten hatte, beschränkte ich mich mit Hinweisen auf die soldatischen Tugenden der Kameradschaft und der Pflichterfüllung. Parteipolitische Ansprachen habe ich nicht gehalten. Ich wäre vor Scham errötet, wenn ich in der Öffentlichkeit das Gegenteil von dem gesagt hätte, was ich in kleinem Kreis ungescheut aussprach.“[22]
1943, mit 61 Jahren, schied Hahn aus dem aktiven Kriegsdienst aus und überwachte seitdem den Schulunterricht der Luftwaffenhelfer. Die Schüler der Geburtenjahrgänge 1924–1925 waren bereits beim Militär. Das Kriegsgeschehen hatte sich gewendet, Deutschland befand sich im Abwehrkampf und benötigte eine Verstärkung der Flakmiliz. Nun wurden auf Grundlage der „Anordnung über den Kriegshilfeeinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe“ vom 26.1.1943 Schüler der Geburtsjahrgänge 1926 und 1927 nach vorangegangenen Elternabenden zum Dienst als Luftwaffenhelfer herangezogen. Im Laufe des Jahres 1943 kamen Hamburger Luftwaffenhelfer aus 69 Schulen zusammen. Oberstleutnant Karl Hahn war vom Reichserziehungsministerium „zum Sonderbeauftragten für den Einsatz von Luftwaffenhelfern im Luftgaukommando XI mit Sitz in Blankenese“ ernannt worden.[23]
Karl Hahn hatte für die Luftwaffenhelfer und die Schulen, deren Schüler zu Luftwaffenhelfern ausgebildet wurden, eine zentrale Funktion übernommen:
„Jede Schule, deren Schüler als Luftwaffenhelfer eingezogen waren, hatten ihm regelmäßig Meldung zu erstatten über die zum Unterricht für Luftwaffenhelfer eingesetzten Lehrkräfte (vor allem infolge der häufigen Alarme oder Gefechtsbereitschaft), ausgefallene, nachgeholte und zusätzliche Unterrichtsstunden, Gründe für nicht nachgeholten Unterricht (zum Beispiel Stellungswechsel), Schulbesuch, Berücksichtigung der Fächer, Übungsarbeiten, die Einhaltung der ‚Luftwaffenhelferbestimmungen‘ etc.
Die Frage nach der Mitarbeit der Luftwaffenhelfer im Unterricht wurde so beantwortet: Nach vorausgegangenem Nachtalarm sei sie meist nur mäßig.“[24]
In einem Bericht vom 2.8.1944 klagte der Sonderbeauftragte Oberstleutnant Karl Hahn:
„Der Unterricht ist gemessen an der Zahl der erteilten Unterrichtsstunden beträchtlich zurückgegangen. Es bestehen erhebliche Unterschiede in dem Unterrichtsausfall bei den verschiedenen Schulverwaltungen, die nicht allein auf die Unterschiede der militärischen Lage begründet sind. Richtig ist, dass der Ausfall an Unterrichtsstunden in erster Linie auf die angespannte Luftlage mit zunehmendem Tag- und Nachtalarm und auf die vielen Verlegungen der Batterien zurückzuführen ist. Trotzdem hätte der Unterrichtsausfall nicht diesen Umfang angenommen, wenn jede Gelegenheit zum Nachholen ausgefallener Unterrichtsstunden ausgenutzt und bei Erkrankung von Lehrern rechtzeitig für Vertretung gesorgt worden wäre.“[25]
Und aus einem späteren zusammenfassenden Bericht des Luftwaffenhelfer- Sonderbeauftragten Hahn vom 7.4.1945 ging hervor, „dass im ‚Luftgau Hamburg‘, der von der niederländischen Grenze bis nach Mecklenburg reichte, von Januar 1943 bis März 1945 101 jugendliche Luftwaffenhelfer im Einsatz ums Leben kamen, 166 verwundet wurden. Nach dem Abschlussdatum des Hahn-Berichts starben jedoch noch viele weitere Luftwaffenhelfer, deren Zahl nicht erfasst wurde. Das hatte vor allem darin seinen Grund, dass in der Endphase des Kampfes der deutschen Wehrmacht gegen die vorrückenden Alliierten Luftwaffenbatterien zunehmend als Artillerie und zur Panzerbekämpfung eingesetzt wurden.“[26]
Auch in Kenntnis dieser Zahlen und dieser Erfahrungen hatte sich sicherlich die negative Haltung bei Karl Hahn in Bezug auf den Krieg gebildet.
Noch vor Kriegsende wandte sich Karl Hahn an Heinrich Landahl, mit dem er auch während der NS-Zeit Kontakt gehalten hatte. Landahl schrieb darüber:
„Im Januar 1945, als ich noch im H. Goverts-Verlag, Hamburg tätig war, legte mir Professor Hahn Ideen und Pläne zu der Frage vor, wie nach dem offenbar nahe bevorstehenden Kriegsende die Universitäten den gewaltigen Ansturm von Studenten bewältigen sollten, der drohte, weil infolge des Kriegs der größte Teil der Abiturienten von acht Jahrgängen (1937–1945) jetzt zu gleicher Zeit ihr Studium beginnen wollten, wozu noch die völlig unzureichende Vorbildung mindestens der Abiturienten-Jahrgänge von 1943 an kam. Er schätzte für Hamburg die Zahl der Bewerber auf 8–9000; bei einer Friedenskapazität der Hamburger Universität von ca. 2000 Studenten mussten sich insbesondere angesichts der schweren Zerstörungen an den Universitätsgebäuden ernste Schwierigkeiten ergeben, für deren Überwindung Professor Hahn ins einzelne gehende Vorschläge bereits damals ausgearbeitet hatte.“[27]
Als Landahl dann im Juni 1945 Senator sowohl für den Schul- wie auch den Hochschulbereich wurde, schrieb er, dass ihm Prof. Hahn erneut einen Vortrag hielt „über diesen Gegenstand und auf meine Veranlassung dann auch in einer Kommissionssitzung der Universität“.[28]
Heinrich Landahl sah ein Dilemma auf der personellen Ebene:
„Da die Universität auch keinen Mann für die Organisation und Leitung der Zulassungsarbeit präsentieren konnte, vielmehr selbst Professor Hahn als Mann ihres Vertrauens vorschlug, stand ich vor der schwierigen Frage, ob ich einen Mann, der sich mit dem komplizierten Problem eingehend beschäftigte und feste Pläne hatte, beauftragen konnte, obwohl er 1933 in die Partei eingetreten war.“[29]
In demselben Schreiben hatte Heinrich Landahl dargelegt, welche positiven Erfahrungen er mit Karl Hahn schon nach Landahls Suspendierung als Schulleiter gemacht hatte. Nur: Ein wesentliches Kriterium für die Entnazifizierung war bei der Britischen Militärregierung der Grundsatz, dass alle diejenigen Personen in Leitungsfunktionen der Schulen suspendiert werden mussten, die bereits am 1.5.1933 der NSDAP angehörten. Dazu gehörte eben auch Karl Hahn und es wird Heinrich Landahl nicht leichtgefallen sein, Hahn am 3.7.1945 mitzuteilen, dass er im Namen der Britischen Militärregierung zu beurlauben war. Am 23.7.1945 wurde Hahn dann sogar aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Und auch aus der ehrenamtlichen Tätigkeit an der Universität, für die Heinrich Landahl ihn gewonnen hatte, musste Landahl ihn mit Schreiben vom 19.1.1946 entlassen.[30]
Daraufhin hatte Heinrich Landahl das schon mehrfach zitierte Leumundsschreiben für Karl Hahn an die Britische Militärregierung gerichtet.
Hahn, der seit 1909 kinderlos verheiratet war, begab sich jetzt in ein Entnazifizierungsverfahren, das er mit intensiven Schriftsätzen und vielen Leumundszeugen bestritt, an erster Stelle natürlich mit den Aussagen des amtierenden Schulsenators Heinrich Landahl.
In der Anlage zu seinem Fragebogen schrieb er über seine „Stellung zur Partei“:
„Ich habe bis zum Jahre 1933 niemals meine Stimme für die NSDAP abgegeben. Als im März 1933 in Hamburg in revolutionärer Weise die NSDAP die Macht übernahm, wurde von dem nationalsozialistischen Schülerbund eine Fahne auf dem Schulhause der Oberrealschule auf der Uhlenhorst gehisst. Ich habe diese Fahne entfernen lassen und bin daraufhin in der Presse unter Namensnennung heftig angegriffen worden. Da ich politisch nach keiner Seite gebunden war, bin ich auf das Drängen von Berufskameraden Ende April 1933 in die Partei eingetreten in der Hoffnung, dass die Belange des Unterrichts gewahrt werden könnten, wenn die Bewegung in ruhiges Fahrwasser gelangte. Ich habe niemals ein Amt der NSDAP angenommen, habe Versammlungen nur besucht, wenn durch Kontrollmarken der Besuch überwacht wurde, habe auch im NSLB – dem ich erst beitrat als der Hamburger Philologenverein aufgelöst und in den NSLB überführt wurde – kein Amt gehabt und keine Mitarbeit geleistet.“[31]
Auch das gute Verhältnis zu Schulsenator Heinrich Landahl schützte Karl Hahn im Jahre 1946 nicht vor unliebsamen Entscheidungen. So schrieb er am 16.7.1946:
„Ich bin im Oktober 1945 auf meinen Antrag nach 41-jähriger Dienstzeit im Alter von 64 Jahren mit einem Dankschreiben des Bürgermeisters und mit Zustimmung der Militärregierung in den Ruhestand versetzt worden. Mit Zustimmung der Militärregierung habe ich die Leitung des Zulassungsausschusses für die Universität Hamburg freiwillig beibehalten und bin aufgrund einer Anzeige am 18. Januar 1946, die eine entsprechende Verfügung der Schulverwaltung vom 22. Februar 1946 auslöste, entlassen und meiner Pension verlustig erklärt worden.“[32]
Im Weiteren setzte sich Karl Hahn damit auseinander, zehn Jahre lang als führender Offizier in zwei Weltkriegen beteiligt gewesen zu sein: „Ich war Offizier, aber in keiner Weise Militarist. Ich habe den Krieg als letztes Mittel der Politik verabscheut, schon deshalb, weil ich im ersten Weltkrieg das sinnlose Morden von Anfang bis zu Ende als Infanterieoffizier in vorderster Front in seiner ganzen Schwere gründlich kennengelernt habe.“ Hahn betonte „jede politische Propaganda habe ich verhindert oder abgelehnt. Ich habe es insbesondere nicht vermocht, den Forderungen der Erziehung des Soldaten zur Härte und für den totalen Krieg zu entsprechen. Dies hat meinen Abgang aus dem aktiven Dienst hervorgerufen. Er ist sang- und klanglos erfolgt.“[33]
Hahn verwies darauf, dass seine gesamte Familie Nazigegner gewesen war, niemand Mitglied der NSDAP. „Die Schwester meiner Frau war mit einem Mann jüdischer Abstammung verheiratet, der verstorben ist. Ihr einziger Sohn, mein Neffe, hat seiner Abstammung wegen große Bedrückung durch das Hitlerregiment erfahren und ist nur durch meine Hilfe vor dem Schlimmsten bewahrt worden.“[34]
Darüber hinaus habe Karl Hahn durch die Fliegerangriffe im Juli 1943 sein Haus „mit der gesamten Einrichtung und der persönlichen Ausstattung“ verloren, auch sein Haus in Gießen sei zerstört worden, ebenso die Schule auf der Uhlenhorst „ein Raub der Flammen“. Alles, „was ich an eigenen Apparaten, Einrichtungen, wissenschaftlichen Aufzeichnungen und Früchten jahrelanger Arbeit besaß“, ging verloren und damit habe er „eine nicht wieder gutzumachende Einbuße für meine wissenschaftliche Arbeit erlitten“.[35]
Karl Hahn schloss mit den Worten: „Ich habe vielmehr in stillem zähem Kampf auf Posten, auf den mich die Demokratie gestellt hatte, ausgeharrt und mit Erfolg in meinem Bereich Schäden verhütet und Gutes getan. Ich erhebe Anspruch darauf, dafür Anerkennung, aber keine Strafe zu finden.“[36]
Ein starkes Argument konnte Karl Hahn am 15.7.1946 präsentieren:
„Ich habe im Jahre 1933 die Leiter der Lichtwarkschule (den jetzigen Senator Landahl) und der Alstertalschule (Helbig), die als Studienräte an meine Schule versetzt wurden, in einer Weise aufgenommen, die deutlich bekundete, wie ich diese Maßregelung ansah. Ich habe seit 1933 dem abgebauten Direktor der Oberrealschule in Emden, Dr. Blum, der nach Hamburg verzogen war, in großer Not durch Zuweisung von Privatstunden geholfen. Der Studienrat Heine von der Lichtwarkschule, der 1933, weil er Kommunist war, fristlos entlassen wurde und in England kümmerlich lebte, hat durch mich, an den er sich wandte, obwohl ich ihn nicht kannte, eine Lehrerstelle an der Deutschen Schule in Sao Paulo erhalten, die ihn über die Not hinweg hob. Ich konnte dies, denn ich habe seit 1920 für die Deutsche Schule in Sao Paulo im Einvernehmen mit der Oberschulbehörde Lehrer und Lehrerinnen verpflichtet und dabei im besten Sinne völkerverbindend gewirkt, denn die Schule war deutsch, aber nicht nationalsozialistisch.“[37]
Das waren schon gewichtige Argumente, wenn sie belegt wurden, wie im Fall von Heinrich Landahl geschehen. Diese Schreiben gab es allerdings nicht, außer von Personen, die in einem Abhängigkeits- oder Mitarbeiterverhältnis zu Hahn gestanden hatten.
Der Beratende Ausschuss für die höheren Schulen Hamburgs empfahl am 13.8.1946, Hahn die Pension eines Studienrats zuzubilligen, „mit Rücksicht auf seine langjährige, erfolgreiche Tätigkeit und seine Verdienste als Fachmann und Schulmann“. In der Begründung hieß es:
„Hahn ist schon 1933 in die Partei eingetreten. Er hat auch dem Kollegium, besonders den jüngeren Kollegen, nahegelegt, in die Partei einzutreten. Gesinnungsmäßig stand er wohl den Rechtsparteien näher als den Nationalsozialisten. Besonders das Soldatische hat er immer sehr betont, auch in der Art, wie er seine Schule führte. Die Grenzen zwischen dem Soldatischen und dem Militaristischen sind bei ihm nicht immer klar.“[38]
Oberschulrat Heinrich Schröder hatte in den Personalunterlagen ein Schreiben des Schulleiters Karl Hahn vom 23.4.1934 gefunden, in dem er sich für den Studienrat Berthold Ohm verwendete, dessen nationalsozialistische Grundhaltung infrage gestellt worden war in seiner Funktion als stellvertretender Schulleiter der Lichtwarkschule. Hahn schrieb über die von ihm geleitete Schule:
„An einer Schule, deren Schüler sich aus allen sozialen Schichten des Volkes zusammensetzten, muss der Lehrkörper schon immer eine nationalsozialistische Gesinnung vertreten haben, wenn es dieser Schule möglich gewesen ist, in vollem Einklang mit Eltern und Schülern die nationalen Belange der Erziehung und den Gedanken der Wehrhaftigkeit zu vertreten, und wenn sie dabei ihre schwarz-weiß-roten Mützenstreifen trotz aller Einwirkungen von der Gegenseite erhalten und verteidigen konnte. Wie Herr Ohm eingestellt war, lässt sich noch heute leicht aus seiner Tätigkeit als Verwalter der Schülerbücherei nachweisen.“[39]
Karl Hahn listete die Bücher auf, die zwischen 1927 und 1932 von Berthold Ohm für die Schule auf der Uhlenhorst angeschafft worden waren, alle national-konservativ bis nationalsozialistisch. Am 27.9.1932 hatte Ohm Hitlers „Mein Kampf“ gekauft. Und Karl Hahn schloss sein Schreiben mit den Worten: „Ich kann weiterhin bezeugen, dass ich aus Gesprächen mit ihm weiß, dass er in den Wahlen vor 1933 seine Stimme dem Führer gegeben hat.“ Nicht glücklich und vorhersehbar für Karl Hahn, dass Berthold Ohm zu diesem Zeitpunkt, 1946, als Kriegsverbrecher in Süddeutschland verhaftet worden war.[40]
Der Entnazifizierungsausschuss unter Leitung von Clara Klabunde beschloss am 3.1.1947 Hahns Pensionierung als Studienrat sowie die Eingruppierung in Kategorie IV und begründete das folgendermaßen:
„Hahn ist sicherlich nie ein Demokrat gewesen und würde auch nie einer werden, sodass eine Betätigung als Lehrer nicht tragbar wäre. Andererseits hat er sich aber um das Schulwesen große Verdienste erworben und hat auch in aufrechter Weise Maßnahmen des Nationalsozialismus, die er ablehnte, nicht durchgeführt. So hat er zum Beispiel den jetzigen Senator Landahl, der damals als Schulleiter abgesetzt und an die von Hahn geleitete Schule strafversetzt wurde, entgegen den Anordnungen besonders bevorzugt behandelt. Er hat auch sonst die Schule offenbar nicht im nationalsozialistischen, allerdings in seiner politisch reaktionären Gesinnung geleitet.“[41]
Gegen diese Entscheidung, die vom Fachausschuss am 27.1.1948 geteilt wurde, legte Karl Hahn Berufung ein und zog Rechtsanwalt Robert Neuhäuser zu seiner Verteidigung hinzu, der beantragte, Hahn in Kategorie V zu überführen und dabei insbesondere Bezug nahm auf das Leumundsschreiben von Heinrich Landahl.
Am 24.1.1949 setzte sich auch Johann Helbig für Karl Hahn ein. Helbig war der zweite prominente Hamburger Oberstudiendirektor, der von den Nationalsozialisten als Schulleiter abgesetzt worden war, weil er sich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten und der an der Schule von Karl Hahn weiter als Studienrat unterrichten konnte. Helbig wies als Vorsitzender vieler Verfahren des Beratenden Ausschusses im Bereich der höheren Schulen, aus meiner Sicht zu Recht, darauf hin, dass einige ehemalige Mitglieder des Kollegiums der Oberrealschule auf der Uhlenhorst, die deutlich nationalsozialistisch belastet waren, inzwischen wieder eingestellt worden seien. „Seine ehemaligen und gleichaltrigen Kollegen, die Direktoren Wetzel[42], Studt und Fähler sind seinerzeit gar nicht erst entlassen worden, sondern wurden 1945 schon als Direktoren pensioniert. Ich bin der Meinung, dass bei der heutigen Situation und in Anbetracht seiner Verdienste um die Physik man auch dem Herrn Prof. Hahn jetzt wieder die Pension eines Oberstudiendirektors gewähren sollte.“[43]
Damit hatte Karl Hahn einen zweiten gewichtigen Fürsprecher, den er offenbar in der für Helbig schwierigen Zeit 1933 anständig und fair behandelt hatte. Nun beschäftigte sich der Berufungsausschuss 3 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten mit dem Fall unter Vorsitz des für milde Urteile bekannten Vorsitzenden Dr. Wilhelm Kiesselbach. Und dieser Ausschuss entschied, der Berufung stattzugeben, Karl Hahn mit Wirkung vom 1.1.1949 in die Kategorie V einzustufen. Der Berufungsausschuss urteilte, „dass Prof. Hahn innerlich niemals auf dem Boden des Nationalsozialismus gestanden hat. Hinzu kommt, dass Prof. Hahn durch seine Entlassung aus dem Schuldienst hinreichend gesühnt hat“.[44]
Zwischenzeitlich wies der Vorsitzende des Fachausschusses, Friedrich Wilhelm Licht, am 15.11.1949 noch einmal auf das bedenkliche Zeugnis hin, das Professor Hahn am 23.4.1934 für den Studienrat Ohm freiwillig ausgestellt hatte.[45]
Am Ende war es der Berufungsausschuss 17 unter Vorsitz des Rechtsanwalts Soll, der ebenfalls milde Urteile fällte, der die Entscheidung traf, Karl Hahn die Pension eines Oberstudiendirektors mit Wirkung vom 1.1.1950 zuzuerkennen, wenngleich orientiert an dem Gehalt eines Oberstudiendirektors der Besoldungsgruppe, die nach 1945 gültig war und nicht der durch die Nationalsozialisten angehobenen Besoldung.[46]
Karl Hahn erhob dagegen am 21.6.1951 Einspruch und es wurde ihm mit Entscheidung vom 16.10.1952 die höhere Punktion eines Oberstudiendirektors gewährt.[47]
Karl Hahn, der am 15.3.1950 in seine Heimatstadt Gießen umgezogen war und dort im „Haus Uhlenhorst“ (sic!) wohnte, teilte am 23.12.1952 seine Hochzeit mit Elisa Hoch, geboren in Sao Paulo, mit und schrieb der Schulbehörde von seinen Reisen 1958/59 nach Brasilien, Mexiko und in die USA.
Karl Hahn blieb aktiv und erhielt anlässlich seines 80. Geburtstages von der Universität Gießen die Ehrenwürde eines Doktors der Naturwissenschaften. In diesem Zusammenhang wurde hervorgehoben, dass er noch zahlreiche Bücher in den Jahren nach 1945 geschrieben hatte.[48]
Karl Hahn starb am 14.2.1963.[49]
Text: Hans-Peter de Lorent


Nachwort zum Thema Kontinuität
Ein Leumundsschreiben, einen „Persilschein“, bekam Karl Hahn auch von Dr. Rolf Erichson, der am 25.6.1946 als „zurzeit kommissarischer Leiter der Oberschule Uhlenhorst-Barmbek“ bezeugte:
„Herr Oberstudiendirektor Professor Dr. Karl Hahn ist als Leiter der Oberschule auf der Uhlenhorst in Hamburg von 1920 bis 1945 mein unmittelbarer Vorgesetzter gewesen. Ich erkläre hier deutlich, dass ebenso wenig, wie der Vorwurf erhoben werden kann, Herr Professor Hahn sei national-sozialistisch eingestellt gewesen – er hat den Nationalsozialismus vielmehr zu jeder Zeit ingrimmig bekämpft, wo er nur konnte! – auch davon gesprochen werden kann, er sei Militarist gewesen.
Wenn im Nürnberger Prozess der englische Kläger den Feldmarschall Keitel an den erzieherischen Wert echten Soldatentums aus der großen preußischen Tradition hat erinnern müssen, so bedeutet das: Soldatentum ist etwas anderes als Militarismus. Die Lebensform des gebildeten Soldaten und Offiziers, die bei allen Kulturnationen einen wesentlichen Anteil an der Haltung des Volkes gehabt hat und bei den Vereinten Nationen auch noch hat und als solche geehrt und gepflegt wird, wird also auch vom Sieger nicht als Militarismus bezeichnet, womit vielmehr ein entseeltes Landsknechtstum, das jede Persönlichkeit entrechtet, gemeint ist.
Herr Professor Hahn war im ersten Weltkriege Offizier. Sein Sinn für Ordnung, äußere wie innere Sauberkeit und pünktlich treue Pflichterfüllung haben ihn die Leitung seiner Schule in einer Weise führen lassen, die insofern soldatisch genannt werden könnte, als sich in ihr Methoden und Erfahrungen eines Soldaten aus der Schule der guten deutschen Tradition in die Praxis umsetzten. Da Herr Professor Hahn mit diesen erzieherischen Absichten stets unbedingte Rechtlichkeit der Gesinnung – Fairness, wie der Engländer es nennen würde – verband, wäre es ein großes Unrecht, einen redlichen deutschen Mann, der Gut und Leben für sein Vaterland einsetzte und stets das Beste für seine Untergebenen wollte, einen Militaristen zu nennen.“[50]
Das sollte offenbar Eindruck auf die Entnazifizierungsausschüsse machen.
In der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Gymnasiums Uhlenhorst-Barmbek fand ich eine andere Äußerung von Dr. Rolf Erichson, die auf mich Eindruck gemacht hat. Er hatte am 1.5.1933, dem „Tag der deutschen Arbeit“ vor der versammelten Lehrer- und Schülerschaft der Oberrealschule auf der Uhlenhorst in der Aula eine Rede gehalten, bevor sich die gesamte Schule die Übertragung der ersten nationalsozialistischen Maifeier aus Berlin anhörte. Damals erinnerte Erichson an den Ersten Weltkrieg und an das Jahr 1918:
„Und jene Stunde hatte über Deutschland geschlagen, da alles zerbrach, was groß und schön gewesen war, – jene Stunde, da irgendwo in einem Lazarett ein halbblinder Gefreiter sich auf sein Bett warf und weinte über die verlorene deutsche Ehre … Doch zwölf Lenze müssen noch ins deutsche Land gehen, deren Sonne weder leuchtet noch wärmt. Da bricht es herein, mitten im dunkelsten Winter, – am 30. Januar 1933! Wer kann vergessen, wie in jener Nacht die elektrischen Wellen über alle Lande die Kunde verbreiteten, die Kunde die getragen wurde von den Klängen des alten Deutschlandliedes und von den Klängen, die jubelnd dem Banner des neuen Deutschland vorausjauchzten, das das uralte heilige Sonnenzeichen der Väter trug! Frühling! Frühling wird es über Deutschland! Wer konnte es fassen?
Leuchtend durchbrach am 21. März die Sonne das Regengewölk, als vor dem Grabe des größten Preußenkönigs der Feldmarschall von Hindenburg und der Kanzler Adolf Hitler sich die Hand reichten.
Ihr Jungen! Deutsche Jugend! Nun ist der Mai dieses Jahres da, dieses einzigen Frühlings, des Hitler-Frühlings! Und Ihr dürft erleben, was wir Älteren ersehnten, all die Jahre hindurch mit blutendem, brennendem Herzen! Als wir 1914 den 1. Mai feierten, da standen wir Studenten allein. Die Volksgenossen am Flug, in der Werkstatt feierten auch – allein! Nicht mehr war es die alte deutsche Frühlingsfeier aller! Und liebten doch alle ihr deutsches Vaterland! Arbeiter und Studenten zogen hinaus gegen den Erbfeind. Und was sie da erlebten in viereinhalb Jahren, das ließ jene Verse entstehen, die im Jammer des Bruderkampfes geboren wurden, in denen schon die große Sehnsucht wach ist: Es muss einmal doch kommen, das herrlich, einige, deutsche Reich! In tausend Herzen war sie wach, die große Sehnsucht. Unverzagt blieb sie sich selbst treu die dunklen 14 Jahre hindurch. Dass sie da war, dass sie lebte in den Seelen unzähliger deutscher Frauen und Männer, das erst gab überhaupt die Möglichkeit, dass es doch noch einmal anders wurde, dass ein Frühling 1933 ins deutsche Land zog!
Jener unbekannte Gefreite war es, der diesen Frühling werden ließ, nun Deutschlands Führer: Adolf Hitler! –
Die Glocken von Potsdam sind verklungen. Aber alltäglich mahnt es im Deutschlandsender von der Garnisonskirche herab auf den geheimnisvollen Wellen des Äthers jeden Deutschen: ‚Übt immer Treu und Redlichkeit!‘ Auch der Jubel dieses Maitages ist bald vorüber. Aber bleiben wird dies: Die große, heilige Gemeinschaft des Volkes, die keinen ausschließt und der keiner sich ausschließt, – diese Gemeinschaft, die wir so lange ersehnten, für die 2 Millionen Deutsche ihr Leben ließen! Die Gemeinschaft des Arbeiters der Stirn und des Arbeiters der Faust, – sie wird heute in diesem Frühling, der Deutschland die Ehre wiedergab, gefunden!“[51]
Sah so der „ingrimmige Kampf gegen den Nationalsozialismus“ aus, den ­Erichson dem Vorgänger Karl Hahn bescheinigte? Kontinuität – Rolf Erichson war der Nachfolger von Karl Hahn als Schulleiter von 1945 bis 1958.[52] Laut seiner Entnazifizierungsakte war Erichson allerdings niemals Mitglied der NSDAP geworden, in den NSLB erst am 1.1.1935 eingetreten und ohne Funktion in irgendeiner NS-Organisation.[53]
Es war offenbar nicht so leicht, ehemalige Nationalsozialisten zu identifizieren.

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte, StA HH, 361-3_A 1032
2 Entnazifizierungsakte Hahn, StA HH, 221-11_Ed 4551
3 Siehe: Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Gymnasiums Uhlenhorst-Barmbek, Hamburg 1982, S. 76 ff.
4 Festschrift 1982, S. 78.
5 Ebd.
6 Festschrift 1982, S. 80.
7 Ebd.
8 Hildegard Milberg: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890–1935, Hamburg 1970, S. 227 f.
9 Milberg 1970, S. 229. Zur Geschichte der Selbstverwaltung der Schulen siehe auch: Hans-Peter de Lorent: Schule ohne Vorgesetzte. Geschichte der Selbstverwaltung der Hamburger Schulen von 1870 bis 1986, Hamburg 1992.
10 Festschrift 1982, S. 84.
11 Festschrift 1982, S. 84 f.
12 Festschrift 1982, S. 87.
13 Schreiben vom 23.1.1946, Entnazifizierungsakte Hahn, a. a. O.
14 Personalakte a. a. O.
15 Entnazifizierungsakte a. a. O.
16 Personalakte a. a. O.
17 Personalakte a. a. O.
18 Hans-Peter de Lorent: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz, Bd. 1, Hamburg 2016, S. 28 ff.
19 Siehe zu der Ablösung von Heinrich Landahl als Schulleiter der Lichtwarkschule auch die Biografie seines Nachfolgers, Erwin Zindler, in: de Lorent 2016, S. 538 ff.
20 Heinrich Landahl in einem Schreiben vom 4.2.1946 an die Britische Militärregierung, Entnazifizierungsakte Hahn, a. a. O.
21 Festschrift 1982, S. 87.
22 Schreiben vom 23.1.1946, Entnazifizierungsakte Hahn, a. a. O.
23 Siehe zu diesem Komplex: Hans-Dietrich Nicolaisen: Hamburger Schüler als Luftwaffenhelfer, in: Reiner Lehberger und Hans-Peter de Lorent (Hg.): „Die Fahne hoch“. Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz, Hamburg 1986, S. 382 ff.
24 Uwe Schmidt: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“. Hamburg 2010, S. 553.
25 Nicolaisen 1986, S. 391.
26 Schmidt 2010, S. 544 f.
27 Heinrich Landahl in dem Schreiben vom 4.2.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Alle Schreiben in der Personalakte a. a. O.
31 Anlage zum Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte a. a. O.
32 Schreiben von Karl Hahn vom 16.7.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Schreiben vom 15.7.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
38 Beratender Ausschuss für die höheren Schulen vom 13.8.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
39 Schreiben vom 23.4.1934 Entnazifizierungsakte a. a. O.
40 Ebd. Siehe dazu auch die Biografie Berthold Ohm, in: de Lorent 2016, S. 575 ff.
41 Entscheidung vom 3.1.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
42 Siehe die Biografie Paul Wetzel in diesem Band.
43 Schreiben von Oberstudiendirektor Johann Helbig vom 24.1.1949,
44 Entscheidung des Berufungsausschusses 3 vom 23.2.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
45 Schreiben des Fachausschusses vom 15.11.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
46 Berufungsausschuss 17 vom 28.1.1950, Entnazifizierungsakte a. a. O.
47 Personalakte a. a. O.
48 Mitteilung der Universität Gießen vom 4.1.1962, Personalakte a. a. O.
49 Personalakte a. a. O.
50 Schreiben vom 25.6.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
51 Festschrift 1982, S. 86 f.
52 Festschrift 1982, S. 188.
53 Entnazifizierungsakte Rolf Erichson, StA HH, 221-11_Ed 11474
 

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Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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