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Wilhelm Kiesselbach

(13.9.1867 Bremen – 26.12.1960 Hamburg)
Jurist, Reichskommissar und deutscher Richter der Deutsch-Amerikanischen Schadens-Kommission, Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, Leiter des von der Militärregierung für die britische Zone geschaffenen Zentral-Justizamtes, Vorsitzender eines Entnazifizierungsausschusses
Bismarckallee 4 Aumühle (Wohnadresse 1933)
Kiesselbachweg , benannt 1975 im Stadtteil Hummelsbüttel
Fuhlsbüttler Straße 756, Ohlsdorfer Friedhof, Grablage: Z 9, 85-96

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Wilhelm Kiesselbach ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  

Ein einflussreicher Jurist in Hamburg war Wilhelm Kiesselbach, der am Ende der Entnazifizierungsverfahren als Vorsitzender zahlreicher Berufungsausschüsse aus meiner Sicht keine rühmliche Rolle spielte, weil er, ebenso wie der Rechtsanwalt Harry Soll in den parallelen Verfahren, äußerst milde urteilte.
Wilhelm Kiesselbach wurde am 13.9.1867 als Sohn einer Patrizier-Familie in Bremen geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war der hanseatische Reichshandelsminister und Bremer Bürgermeister Arnold Duckwitz. Sein Vater, Theodor Kiesselbach, wurde 1879 als Richter an das Hanseatische Oberlandesgericht berufen. Bis dahin war Wilhelm Kiesselbach in Bremen aufgewachsen, in Hamburg besuchte er die Gelehrtenschule des Johanneums, wo er 1887 die Reifeprüfung bestand. Anschließend studierte er in Bonn, Leipzig und Berlin Rechtswissenschaften und ließ sich 1895 in Hamburg als Anwalt nieder. Kiesselbach war auf vielen Feldern äußerst aktiv, hatte sich auch im englischen und amerikanischen Recht durch entsprechende Auslandsaufenthalte kundig gemacht und war ehrenamtlich in der Anwaltskammer tätig sowie in der Juristenausbildung. Seine vorgesehene Wahl zum Senator der Hansestadt Hamburg scheiterte 1918 durch die politischen Veränderungen im Zuge der Novemberrevolution.
Im Oktober 1922 bestellte die Reichsregierung Kiesselbach zum Reichskommissar und deutschen Richter der Deutsch-Amerikanischen Schadens-Kommission, in der neben Kiesselbach noch zwei amerikanische Juristen tätig waren. Sie hatten die Aufgabe, die amerikanischen Ansprüche gegen das Deutsche Reich festzustellen. Es handelte sich um Ansprüche von mehreren 100 Millionen Dollar. Die Kommission mit Sitz in Washington kam bei ihren Verhandlungen zu dem Ergebnis, dass nur etwa 11 Prozent der von Amerika geltend gemachten Ansprüche anerkannt wurden. Nach Einführung des Dawes-Plans 1924 leitete Wilhelm Kiesselbach die Verhandlungen über die Freigabe des deutschen Eigentums ein, dass von den Vereinigten Staaten beschlagnahmt worden war. Die Verhandlungen dauerten mehrere Jahre und endeten im Frühjahr 1928 erfolgreich mit der Freigabe deutschen Eigentums.
Diese Tätigkeit brachte Wilhelm Kiesselbach die Anerkennung breiter politischer Kreise ein und die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg. Im Sommer 1928 beriefen die Senate der drei Freien Hansestädte Kiesselbach zum Präsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts.[1]
Kiesselbach, der weder in der Weimarer Republik noch nach 1933 einer NS-Organisationen angehörte, war nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 13.7.1933 mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt worden.[2]
Seine Verhandlungsergebnisse zur Abwehr mehrerer Millionen Entschädigungszahlungen an die USA wurden in Deutschland nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch von den Nationalsozialisten freudig anerkannt. Trotzdem wird in der Geschichtsschreibung kolportiert, dass Kiesselbach 1933 „seines Amtes enthoben“[3] und seine „Berufung zum Präsidenten des Reichsgerichts verhindert“ worden sei, mit der Begründung, Kieselbach habe „aus seiner Einstellung gegenüber den Nationalsozialisten keinen Hehl gemacht“.[4]
In Kenntnis des persönlichen Schreibens, das der nach Machtantritt des NS-geführten Senates in Hamburg für die Justizverwaltung verantwortliche NS-Senator Curt Rothenberger Wilhelm Kiesselbach am 15.7.1933 schickte, ist durchaus eine andere Sicht darauf möglich. Kiesselbach war zu diesem Zeitpunkt fast 66 Jahre alt und wurde in den Ruhestand geschickt. Rothenberger würdigte Kiesselbachs Leistungen, er habe das Vertrauen, das man in ihn bei seiner Berufung zum Oberlandesgerichts-Präsidenten gesteckt habe, „auf das hervorragendste gerechtfertigt“. Und: „In der hanseatischen Anwaltschaft haben Sie sich schon früh durch die Fülle Ihres Wissens, die Schärfe Ihres Denkens und die Güte Ihres Wesens eine besondere Stellung zu erobern gewusst.“ Curt Rothenberger erklärte auch, dass für Deutschland für die Arbeit in der Deutsch-Amerikanischen Schadenskommission kein „Besserer hätte gefunden werden können“. Das Schreiben Rothenbergers zeugte durchweg von großer Wertschätzung und Hochachtung und stellte fest, „dass das Gesetz über die richterliche Altersgrenze auch Sie zum Scheiden von Ihrem hohen Posten nötigt“, was „die Landesjustizverwaltung mit schmerzlichem Bedauern erfüllt“.[5]
Bei aller Vorsicht, was die Person Rothenberger[6] betrifft, der im Laufe der NS-Zeit weiter Karriere machte bis zum Staatssekretär im Reichsjustizministerium – die in dem Schreiben zu Kiesselbachs Pensionierung ausgedruckte Wertschätzung klang durchaus ernsthaft. Rothenberger kannte Kiesselbach aus dem Hamburger Justizleben, als er selbst noch aufstrebend und kein Nationalsozialist war. Und Kiesselbach war in den folgenden Jahren auch noch als Unparteiischer in Schiedsgerichten tätig, bei denen es darum ging, „im Winter 1935/36 die Ansprüche der deutschen Industrie gegen die Sowjetunion festzusetzen“. Zu diesem Zweck leitete er über sechs Monate eine Kommission in Berlin, was ohne die Zustimmung der Reichsregierung nicht möglich gewesen wäre.[7]
Am 2.8.1945 wurde Wilhelm Kiesselbach von Bürgermeister Rudolf Petersen wieder zum OLG-Präsidenten ernannt, ab dem 1.10.1946 war er als Justiz-Präsident Leiter des von der Militärregierung für die britische Zone geschaffenen Zentral-Justizamtes, das die Aufgaben des früheren Reichsministers der Justiz erhielt.
In dieser Funktion agierte Kiesselbach bis zu seiner Pensionierung am 31.1.1950, nunmehr im 83. Lebensjahr.[8]
Danach übernahm Wilhelm Kiesselbach die Aufgabe des Vorsitzenden eines Entnazifizierungsausschusses, der am Ende über die Berufungen der zu entnazifizierenden Personen im öffentlichen Dienst entscheiden musste. Wie zahlreiche Biografien in diesem Buch, aber auch in den beiden Vorgänger-Bänden, belegen, hatte Kiesselbach seine Entscheidungen mit großer und angesichts der Belastungen der jeweiligen Personen mit schwer verständlicher Milde gefällt. Dafür sollen am Ende kurz noch einmal der Prozess der Entnazifizierung und die Positionen von Wilhelm Kiesselbach aufgezeigt werden.
Joachim Szodrzynski schreibt, dass am 3.5.1945 „in Hamburg 21.896 Beamte beschäftigt“ waren, „von denen maximal 10 Prozent nicht der NSDAP oder ihren Gliederungen angehörten“.[99
Dem Einmarsch der kämpfenden britischen Truppen in Hamburg am 3.5.1945 folgten Einheiten, die für die Verwaltung der Aufgaben der Militärregierung vor Ort zuständig waren.
„Im Dezember 1945 waren in diesem Verwaltungsbezirk der britischen Zone insgesamt alleine 340 britische Offiziere (ohne die anderen britischen Bediensteten) beschäftigt. Hinzu kam eine wachsende Zahl deutschen Personals; im Juni 1946 ca. 3.775 Personen.“[10]
Festzuhalten ist, dass die britische Besatzungspolitik pragmatischen Überlegungen wie dem Funktionieren der Verwaltung, der Ankurbelung der Wirtschaft sowie der Instandsetzung der Verkehrswege, der Trümmerbeseitigung und Wohnraumbeschaffung den Vorrang einräumte. Die Entnazifizierung wurde diesen Zielsetzungen untergeordnet.
Einziges Kriterium für die Entfernung eines Beamten aus seinem Amt war in der ersten Phase, der britischen Phase der Entnazifizierung, die Mitgliedschaft in der NSDAP, sofern der Beitritt vor dem 1.4.1933 erfolgt war. Eine Woche später wurden diese Bestimmungen erweitert um die Mitgliedschaft in der SS oder SA.
„Der Kreis der auszuschaltenden Nazis wurde dann auf die Parteibuchbeamten, die Amtsträger in der Partei oder deren Organisationen und auf Denunzianten und Spitzel ausgedehnt, unabhängig vom Eintrittsdatum. Die Beamten, die nach dem maßgeblichen Stichtag, der jetzt auf den 1. Mai 1937 (Reichsbeamtengesetz) festgelegt worden war, der Partei beigetreten waren und sich nicht aktiv am Nationalsozialismus beteiligt hatten, durften vorläufig im öffentlichen Dienst verbleiben, wobei nicht genau definiert wurde, wer den ,Tatbestand der Aktivität‘ erfüllt hatte“.[11]
Die Unsicherheit der britischen Offiziere bei der Bewertung der Frage, wie gravierend Mitgliedschaften und bestimmte Funktionen in NS-Organisationen zu gewichten seien, nutzte Bürgermeister Rudolf Petersen, um durch ein Gutachten Hilfestellung anzubieten.
Ausgerechnet Oscar Toepffer, seit März 1938 Leiter des Rechtsamtes und später Mitglied des NS-Senates, der nach Ende der Nazizeit von Bürgermeister Rudolf Petersen vorerst im Amt belassen wurde, und Wilhelm Kiesselbach, Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, wurden mit dieser Aufgabe betraut. Toepffer wurde später, am 14.11.1945 wegen seiner NS-Vergangenheit auf Veranlassung der Militärregierung entlassen, Kiesselbach verfasste im Juni 1945 ein Memorandum zur Wiedereinstellung von Richtern und Staatsanwälten, das seitens der Briten scharf kritisiert wurde. Kiesselbach hatte geschrieben, dass schon 1933 „viele angesehene Männer den Eintritt in die Partei warm befürwortet und für die Partei gewirkt“ hatten bzw. „zahlreiche einwandfreie Männer 1937 in die Partei eingetreten“ waren. Er bescheinigte der NSDAP, „sie richtete sich gegen die Republik und das parlamentarische System, aber sie bekämpfte nicht … den demokratischen Gedanken.“ Und an anderer Stelle behauptete Kiesselbach: „Kein objektiver Historiker wird jemals bestreiten können, daß Hitler damals unerhörte, dem Frieden dienende Chancen gehabt hätte, wenn er ein Staatsmann gewesen wäre.“ Wulff D. Hund und Christian Seegert wiesen darauf hin, dass diese Chancen, die Kiesselbach ausführlich durch die Aufzählung der wirtschafts-, sozial- und außenpolitischen Erfolge des Faschismus bis 1937 bzw. 1939 zu dokumentieren versuchte, auch genutzt worden seien und erst „verspielt wurden durch die skrupel- und ruchlose Ausübung der Regierungsgewalt durch Hitler und seine vielleicht zum Teil auch minderwertigen Gesellen, wie sie namentlich während des Krieges erfolgte und besonders in seinen letzten Phasen und jetzt nachträglich bekannt geworden ist. Selbst die meisten Mitglieder der Partei lebten so infolge einer ‚eisernen Censur‘ in Unkenntnis der Verbrechen ihrer Führer, weshalb nachträglich bloße Parteizugehörigkeit auch für die Entnazifizierung kein Kriterium sein könne und nicht zur Entlassung führen dürfe“.[12]
Toepffer und Kiesselbach hatten am 3.9.1945 ein entsprechendes umfangreiches Papier vorgelegt. Ihr Gutachten liest sich wie ein von Amts wegen erstellter „Persilschein“. Die NS-Funktionsträger wurden darin als vom Hitlerregime Verfolgte und Erpresste dargestellt und auf diese Weise von jeglicher geschichtlichen Verantwortung entbunden. Trotz der Disqualifizierung der beiden Gutachter hatte diese Positionierung eine durchschlagende Wirkung. Der Tenor des Gutachtens tauchte in späteren Anweisungen an die Entnazifizierungsausschüsse immer wieder auf. Außerdem wurde diese Schrift an die Beratenden Ausschüsse, die seit August 1945 zur Unterstützung der Denazifizierungsoffiziere eingesetzt worden waren, verteilt, „damit diese bei den Verhandlungen mit den Funktionsoffizieren den Standpunkt des Herrn Bürgermeister kennen“.[13] Je weniger die Militärregierung eine klare Vorstellung von den „wirklich gefährlichen“ Nazis hatte, desto mehr war sie auf die Kenntnisse der Deutschen über die Verhältnisse im Nationalsozialismus angewiesen. Die Einflussmöglichkeiten des Bürgermeisters und der Beratenden Ausschüsse waren entsprechend groß.
Nachdem Oscar Toepffer entlassen worden war, bemühte er sich erfolgreich um Zulassung als Rechtsanwalt. Seine Sozietät war dann eine der wichtigsten Anlaufstellen für ehemalige Nazis, die sich mit Toepffers fachkundiger Hilfe Pensionen und Wiedereinstellungen erstritten.[14]
Die Ratlosigkeit der Militärregierung und deren Unkenntnis der personellen und organisatorischen Verhältnisse im Nationalsozialismus nahm Rudolf Petersen zum Anlass, dem britischen Kommandeur die Bereitschaft der Zivilverwaltung anzubieten, die Säuberung der Beamtenschaft selbst und unter deutscher Verantwortung durchzuführen.
Solange in den Entnazifizierungsausschüssen Personen vertreten waren, die über einen guten Überblick über die Verhältnisse und Akteure in den jeweiligen Bereichen verfügten, war dies sicherlich hilfreich. Dass allerdings Wilhelm Kiesselbach am Ende der Entnazifizierung den Vorsitz in zahlreichen Berufungsausschüssen innehatte und dabei nach den Grundsätzen des von ihm und Oscar Toepffer vorgelegten Gutachtens entschied, entwertete die vorausgegangenen langjährigen Verfahren.
Wobei die Position von Wilhelm Kieselbach und Oscar Toepffer durchaus dem entsprach, was die deutsche Bevölkerung 1945 dachte oder denken wollte. Der Historiker Hannes Heer beschrieb in seinem Buch „Hitler war’s“, wie sich die Deutschen von ihrer Vergangenheit befreiten. Noch während des Krieges, Mitte Oktober 1944, „während Einheiten der ersten US-Armee die erste deutsche Großstadt, Aachen, eingeschlossen hatten, begann ein amerikanischer Offizier in den schon befreiten Ortschaften der Umgebung, Deutsche zu interviewen“.[15]
Saul K. Padover, der „als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren und mit ihnen schon 1920 in die USA ausgewandert“ war, „gehörte zur Abteilung für psychologische Kriegsführung und hatte den Auftrag, die Einstellung und Erwartungen der Deutschen – ihre ‚Mentalität‘ – zu erkunden“.[16]
Das Ergebnis „war deprimierend“:
„Seit zwei Monaten sind wir zugange. Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, wir haben jede Menge Fragen gestellt, und wir haben keinen einzigen Nazi gefunden. Jeder ist ein Nazigegner. Alle Leute sind gegen Hitler. Sie sind schon immer gegen Hitler gewesen. Was heißt das? Es heißt, dass Hitler die Sache ganz allein, ohne Hilfe und Unterstützung irgendeines Deutschen durchgezogen hat. Er hat den Krieg angefangen, er hat ganz Europa erobert, den größten Teil Russlands überrannt, fünf Millionen Juden ermordet, sechs bis acht Millionen Polen und Russen in den Hungertod getrieben, 400 Konzentrationslager errichtet, die größte Armee in Deutschland aufgebaut und dafür gesorgt, dass die Züge pünktlich fahren. Wer das ganz alleine schaffen will, muss schon ziemlich gut sein. Ich kenne nur zwei Menschen in der ganzen Welt die so etwas können. Der andere ist Supermann.“[17]
Padover zog das Fazit:
„Hitler war für alles verantwortlich gewesen, für die Verfolgung der Juden ebenso wie für den verlorenen Krieg. Psychologisch gesehen wollen sich die Deutschen Strafe und moralischer Verantwortung entziehen, indem sie der Welt einen Schuldigen präsentieren, den sie noch vor kurzer Zeit als Halbgott angehimmelt haben. (…) In dieser Neigung, sich vom auserwählten Führer abzuwenden (…), entdeckt man nicht den Schimmer eigenen Schuldbewusstsein, kein Bewusstsein, dass Krieg an sich verwerflich ist, dass die Deutschen einen falschen Weg eingeschlagen haben. (…) Hitler wird vorgeworfen, den Krieg verloren, und nicht, ihn begonnen zu haben.“[18]
Der deutsche Historiker Norbert Frei hat intensiv über die Vergangenheitspolitik der Deutschen geforscht und publiziert. Seine Erkenntnis:
„Mitte der fünfziger Jahre, so wird man resümieren müssen, hatte sich ein öffentliches Bewusstsein durchgesetzt, dass die Verantwortung für die Schandtaten des ‚Dritten Reiches‘ allein Hitler und seiner kleinen Clique von ‚Hauptkriegsverbrechern‘ zuschrieb, während es den Deutschen in ihrer Gesamtheit den Status von politisch ‚Verführten‘ zubilligte, die der Krieg und seine Folgen schließlich sogar selber zu ‚Opfern‘ gemacht hatten.“[19]
Wilhelm Kiesselbach starb am 26.12.1960 in Hamburg.[20] Nach ihm wurde im Stadtteil Hummelsbüttel der Kiesselbachweg benannt.
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Zusammenfassung der Daten aus seiner Personalakte, StA HH, 241-2_A 3649, insbesondere den darin enthaltenen Lebenslauf, sowie aus der Festschrift für Wilhelm Kiesselbach zu seinem 80. Geburtstag, herausgegeben von Mitarbeitern im Zentral-Justizamt für die britische Zone, Hamburg 1947.
2 Entnazifizierungsakte Kiesselbach, StA HH, 221-11_L 743
3 Bundesarchiv, „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik“ Online.
4 http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Kiesselbach_(Jurist)
5 StA HH, 241-2_A 3649
6 Siehe: Susanne Schott: Curt Rothenberger. Eine politische Biographie. Dissertation Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2001, auch online zur Verfügung.
7 Lebenslauf, in: StA HH, 241-2_A 3649
8 StA HH, 241-2_A 3649
9 Joachim Szodrzynski: Entnazifizierung – am Beispiel Hamburg, www.hamburg.de/contentblob/4462240/data/aufsatz-szodrzynski.pdf, S. 34.
10 Michael Ahrens: Die Briten in Hamburg. Besatzerleben 1945–1959, München/Hamburg 2011, S. 96 ff.
11 Karin Werum: Die Entnazifizierung der Verwaltungsbeamten in Hamburg (1945–1950), Masterarbeit, Hamburg 1987, S. 24.
12 Zitiert nach: Wulf D. Hund/Christian Seegert: Bürgerliche Hegemonie und konservative Kontinuität der Justiz. Das Beispiel der Wiedereröffnung des Hanseatischen Oberlandesgerichtes in Hamburg 1945, in: Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie, Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie: Restauration im Recht, Veröffentlichung der Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg, Opladen 1988, insbesondere S. 16 ff.
13 Rundschreiben des Personalamtes an alle Verwaltungen und Ämter sowie die dem Bürgermeister unterstehenden Reichsbehörden vom 22.10.1945, in StA  HH, SK II 108.00_5/19. Siehe auch das Kapitel „Die unvollendete Entnazifizierung“ in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 38 ff.
14 Siehe auch die Biographie Oscar Toepffer, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017, S. 51 ff.
15 Hannes Heer: „Hitler war’s“. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2005, S. 1.
16 Ebd.
17 Von Hannes Heer zitiert: Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, München 2001, S. 46.
18 Padover a. a. O., S. 93 f.
19 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997, S. 405.
20 Personalakte a. a. O.
 

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Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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