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Alois Hitler

( Alois Hitler, später nach 1945 umbenannt in Hiller )
(13.1.1882 Wien - 20.5.1956 Hamburg)
Kaufmann
Timm-Kröger-Weg 35 (Privtaadresse)

Der Fall von Adolf Hitlers Halbbruder Alois Hitler, der in Hamburg entnazifiziert werden wollte.
Oder:
Über die Schwierigkeiten Hamburger Dienststellen nach dem 8.5.1945, ehemalige NS-Nutznießer zu identifizieren.

Am 1. Oktober 1945 schrieb Alois Hitler, wohnhaft im Timm Krögersweg 35 (Fuhlsbüttel) an das Polizeiamt Hamburg, Drehbahn . Für die Adressaten hatte er einen nachvollziehbaren Wunsch:

„Mit diesem Schreiben bitte ich den Herrn Oberst und Kommandeur der Polizei Hamburg meinen Familiennamen Hitler in Hiller umändern zu wollen." (1)

Zur Begründung erklärte Alois Hitler:

„Ich bin selbständiger Kaufmann und habe von 1919 bis 1928 in Hamburg gelebt. Seit 1928 habe ich in Berlin einen größeren Gaststättenbetrieb unterhalten. Die bestehende Verwandtschaft zum ehemaligen Führer Adolf Hitler – ich bin der Stiefbruder von Adolf Hitler – ist von den englischen Militärbehörden und von den zuständigen Dienststellen der Deutschen Polizei untersucht und während einer vierwöchigen Haft ab Mitte Juni 1945 überprüft worden. Ich habe der NSDAP nicht angehört, ebenso keiner ihrer Gliederungen.

Für die Zukunft erscheint es mir unmöglich, meinen Familiennamen Hitler weiterzuführen, der Name erschwert mir, meinen Beruf weiter auszuüben und stellt eine Belastung im Umgang mit dritten Personen dar."(2)

Alois Hitler legte eine Bescheinigung der englischen Militärbehörden vor, dass nichts Belastendes gegen ihn vorlag. Die britische Militärregierung war zu diesem Zeitpunkt die höchste Autorität. Sie hatte vermutlich überprüft, dass Alois Hitler weder Mitglied in der NSDAP, der SA oder der SS gewesen war. Und dann ging es schnell. Der Sachbearbeiter legte dem Kommandeur der Polizei Hamburg am 24.10.1945 eine Entscheidungsvorlage auf den Tisch: „Antragsteller ist der Stiefbruder des früheren Führers des Deutschen Reiches Adolf Hitler. Wegen der Namensgleichheit mit diesem hat Antragsteller jetzt geschäftlich und seelisch schwer zu leiden, indem ihm jede geschäftliche Tätigkeit unmöglich gemacht und im Umgang mit dritten Personen bei der Vorstellung mit seinem Namen sofort auf die erwähnte Namensgleichheit angespielt wird. Der Antrag erscheint daher begründet." (3)

Wer wollte im Oktober 1945 schon Hitler heißen? In drei Wochen war alles überprüft: „Nachteiliges über den Antragsteller ist hier nicht bekannt geworden; in den Registern des Amtsgerichts – Schuldner-Verzeichnis –, der Kriminalpolizei einschl.

K D IV ist er nicht vermerkt. Von der Britischen Militärregierung ist er als einwandfrei anerkannt worden, von dieser Seite werden Bedenken gegen die Namensänderung nicht erhoben." (4)

Am 26.10.1945 unterschrieb der Oberst und Kommandeur der Polizei Hamburg: „Der in Hamburg wohnende Kaufmann und Gaststätteninhaber Alois Hitler, geboren am 13. Januar 1882 in Wien, und seine Ehefrau Hedwig Frieda Amalie geb. Mickley, geboren am 5. April 1889 in Groß Neuendorf Kreis Lebus, führen fernerhin anstelle des Familiennamens Hitler den Familiennamen Hiller." (5)

50 Reichsmark Gebühr. Am 5.11.1945 wurden alle Register bedient, sogar das Pfarramt St. Othmar in Wien, wo Alois Hitler geboren wurde. (6)

Ein Neffe von Adolf Hitler, genannt Johann Hietler, der im Krieg 1942 Erna Mach geheiratet hatte, jetzt auch Hietler, die noch eine besondere Rolle spielen sollte, beide Hietler wollten die nun diskreditierende Namens-Verwandtschaft ebenfalls loswerden und hatten sich auch in „Hiller“ umbenennen lassen. Adresse auch Timm Krögerweg 35, Fuhlsbüttel, heute direkt am Flughafen Hamburg gelegen.

Die staatliche Pressestelle Hamburg erfuhr von Alois Hitlers Namensänderung und fragte bei der Polizei nach der Adresse des ehemaligen Hitlers. Begründung: Radio Hamburg, ein damaliger Sender, wolle ein Interview mit ihm „veranstalten". Die Antwort des sensiblen Polizeisachbearbeiters: „Ich wies darauf hin, daß der Genannte m. E. schwer krank, mindestens aber seelisch schwer erschüttert sei durch seine Erlebnisse in den letzten Monaten. (Er war von der britischen Besatzungsbehörde einige Zeit in Haft genommen worden). Es wäre zu begrüßen, wenn der Mann von neuen Aufregungen verschont werden würde. Ich stellte anheim, nach Möglichkeit darauf hinzuwirken, daß von dem Interview abgesehen werde, zumal durch eine nochmalige Erörterung dieser Angelegenheit in Rundfunk und Presse weder dem Beteiligten selbst noch der Öffentlichkeit gedient werde." (8)

Die Medien nahmen erst 1948 von Hitlers Stiefbruder Notiz. Dazu später mehr. (9)

Wer war Alois Hitler? Einige biografische Daten.

Alois Hitler, auch Alois Hitler jun. genannt, weil der Vater von ihm und seinem Stiefbruder Adolf, ebenfalls Alois hieß, wurde am 13.1.1882 in Wien geboren. Alois war das uneheliche Kind von Alois Hitler sen. und dessen späteren Ehefrau Franziska Matzelsberger, als Alois Matzelsberger geboren. Durch Heirat seiner Eltern 1883 wurde er legitimiert und zu Alois Hitler. Nach der Geburt seiner Schwester Angela im selben Jahr starb die Mutter Franziska am 10.8.1884 an Tuberkulose. Schon Anfang 1885 heiratete Alois Hitler sen. zum dritten Mal, Klara Pölzl, die Mutter von Adolf Hitler und seiner Schwester Paula Hitler. (10)

Alois Hitler verlebte keine glückliche Kindheit. Die neue Mutter, bei ihrer Heirat 24 Jahre alt, 23 Jahre jünger als der Vater, zog die eigenen Kinder vor. Volker Ullrich schreibt: „Vor allem der älteste Sohn Alois hatte unter dem väterlichen Jähzorn zu leiden (weshalb er auch schon mit 14 Jahren das Elternhaus verließ), aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein." (11)

Mit seinem Bruder Adolf verstand sich Alois nicht, zumal er manche Prügel auch für Adolfs Streiche abbekam. Alois Hitler verließ das Elternhaus, in dem er nicht geliebt war, begann eine Kellnerlehre und wurde straffällig. 1900 wurde er zu einer fünfmonatigen Haftstrafe verurteilt. Danach arbeitete er als Kellner in Linz, wurde abermals wegen Diebstahls verurteilt und wanderte nach Verbüßen der Haft 1905 nach Dublin und Liverpool aus, „jobbt in Kneipen und begeht als Hochstapler Betrügereien. Daraufhin flieht er mit seiner jungen Geliebten Bridget Dowling nach London, heiratet sie und wird 1911 in Liverpool Vater des Sohnes William Patrick Hitler“. (12)

Die Ehe war schwierig, Alois Hitler war ein Trinker, er „verprügelte so regelmäßig wie er trank seine Frau und wohl auch den kleinen William Patrick“. 1915 verließ Alois Hitler Frau und Sohn und ging zurück nach Österreich, später nach Hamburg. (13)

1919 heiratete Alois Hitler in Hamburg „mit gefälschten Papieren" (14) erneut, Hedwig (Hete) Mickley, mit der er 1920 einen Sohn bekam, Heinrich Hitler.

Er betrieb mit geringen Einkünften einen Rasierklingenhandel und eine Hühnerzucht. 1924 wurde er wegen Bigamie angeklagt. Weil seine erste Frau Bridget Dowling sich scheiden ließ und die Klage nicht weiter verfolgte, wurde Alois Hitler auf Bewährung zu sechs Monaten Haft verurteilt.

Adolf Hitler, der sich zu einer Herkunft aus einfachen Verhältnissen bekannte (15), ansonsten aber den Mantel des Schweigens über Einzelheiten seiner Familiengeschichte ausbreitete und alle Familiendokumente verbrennen ließ, als er sich das Leben nahm, Adolf Hitler konnte in den Zeiten seines Aufstiegs zum „Führer des Deutschen Reiches“ kein Interesse daran haben, dass Einzelheiten über seinen Halbbruder Alois und dessen Vorstrafen bekannt wurden.

Alois Hitler ging 1927 nach Berlin und versuchte es erneut, in der Gastronomie als Kellner und mit Gelegenheitsarbeiten unterzukommen. 1933 kaufte er einen kleinen Weinausschank in Charlottenburg, Leonhardstraße 24. 1937 verkaufte dieses Lokal und „übernahm" von einem jüdischen Vorbesitzer am Wittenbergplatz 3 eine größere Gaststätte, ein Restaurant, das er „Alois" nannte, ein beliebter Szenetreff für SA- und SS-Leute. Dieses Restaurant sollte im weiteren Verfahren noch eine besondere Rolle spielen. (16)

Der jetzt Alois Hiller Genannte, der innerhalb von drei Wochen  den seit dem 8. Mai 1945 nicht mehr förderlichen Namen „Hitler" ablegen konnte, wurde im Weiteren überprüft. Er musste, wie jeder andere erwachsene Deutsche, entnazifiziert werden.

In Hamburg füllte Alois Hiller (Hitler) am 3.4.1947 zum ersten Mal den Entnazifizierungsbogen mit 132 Fragen aus. Unter Bemerkungen, am Ende des Fragebogens, wurde deutlich, worum es den Hamburger Hillers geht: „Seit dem Zusammenbruch habe ich mehrere Eingaben sowohl an die deutschen Behörden wie auch an die amerikanische Militärregierung gemacht, mir mein Eigentum zurückzugeben und werde seit nunmehr einem Jahr damit vertröstet, dass die Entscheidung bei der U.S. Militärregierung läge." (17)

Er gab an, weder Mitglied der NSDAP, der SA oder der SS gewesen zu sein. Am 29.9.1947 wurde erneut ein Fragebogen ausgefüllt, dieses Mal von Erna Hiller als Zeugin mit unterschrieben. Erna Hiller, vormals Erna Mach, seit Ende des Krieges mit Johann Hietler verheiratet, beide nunmehr ebenfalls in „Hiller" umbenannt, wohnten wie Alois Hiller und seine Frau im selben Haus in Fuhlsbüttel. Erna Hiller und er waren langjährige NSDAP-Mitglieder, Erna Mack mit dem goldenen Parteiabzeichen, war im Restaurant „Alois" Geschäftsführerin und mit Alois Hitler und seiner Frau auf einem beladenen Lastwagen Ende April 1945 von Berlin nach Hamburg geflohen. Erna Hiller wardie treibende Kraft bei den Aktivitäten, die das Ziel hatten, das beschlagnahmte Restaurant „Alois" zurückzubekommen, um es gut verkaufen zu können.

Das Entnazifizierungsverfahren verlief anfänglich gut für Alois Hiller. Der zuständige Fachausschuss und der Beratende Ausschuss entschieden nach kurzer Anhörung von Alois Hiller (früher Hitler) und seiner Frau am 4.3.1948. Für Irritation sorgte lediglich, dass Alois Hiller seine NSDAP-Mitgliedschaft 1926 und 1927 im Fragebogen verschwiegen hatte. Alois konnte sich das nicht erklären, Er habe das auch vergessen, außerdem habe seine Frau den Fragebogen ausgefüllt wegen seiner Vergesslichkeit. Er habe wohl als Kellner in der Wandsbeker Chaussee „auf Veranlassung junger Leute eine Beitrittserklärung unterschrieben und einen kleinen Beitrag für die Partei geleistet". Seine Frau führte vor dem Ausschuss das Wort und erklärte, „das absolut keine Verbindung irgendwelcher Art zu Adolf Hitler bestanden hat. Das Restaurant in Berlin haben sie aus eigener Kraft aufgebaut. Die Finanzierung erfolgte durch den Architekten, welcher vertraglich fünf Jahre lang mit 50 % am Reingewinn beteiligt war. Das Restaurant befindet sich in Berlin in der amerikanischen Zone, während das Geld auf der Sparkasse im englischen Sektor liegt. Da Hitlers inzwischen ihr Bargeld verbraucht haben, haben Sie die Absicht, ihr Geschäft in Berlin zu verkaufen, um sich in Hamburg eine neue Existenz zu schaffen. Frau H. führt weiterhin aus, dass sie in ihren Bemühungen, sich in Berlin, wo ihr eigentlicher Tätigkeitsbereich liegt, bis an General Clay herangegangen ist. General Clay soll persönlich zu Frau H. gesagt haben, dass er eine Entnazifizierung des Bruders von Hitler in Hamburg wünsche." (18)

Alois Hiller (Hitler) wurde danach in Kategorie V als Entlasteter eingestuft und ein Entlastungsschein wurde für ihn ausgestellt. Damit ist die Sache aber noch nicht erledigt, die Hillers nahmen Dr. Walter Brügmann, Mönckebergstraße , als Rechtsanwalt zu Hilfe. Offenbar auf Betreiben von Erna Hiller, der ehemaligen Geschäftsführerin im „Alois", wurde jetzt gezielt die Presse informiert. Es begann mit einem kleinen Artikel ausgerechnet im „Hamburger Echo" am 13.11.1948. Unter der Überschrift „Er ließ sich umtaufen" wurde gefragt, welche Gedanken man wohl hätte, stünde an der Nachbarstür: „H. Göring“ oder gar „A. Hitler“, um dann zu der Story zu kommen: „Das wäre dann der Gipfel! Alle Beteuerungen Hitlers, nichts mit dem ‚richtigen‘ Hitler zu tun zu haben, werden bei Ihnen abprallen wie Tennisbälle an Banktresoren. Sie sehen nur rot – in diesem Falle die wohlbekannte Physiognomie des braunen Adolfs. Und sind überzeugt: dann ist er also doch nicht tot!

Leider ist dies kein Märchen, obgleich alles sehr unglaubwürdig klingt. Irgendwo in Hamburg gibt es tatsächlich ein Türschild ‚A. Hitler‘. In irgendeinem Wirtschaftsamt steht seit zwei Jahren zwischen 1000 anderen eine Karteikarte ‚A. Hitler‘, und auch im Meldeamt ist ‚A. Hitler‘ kartographisch verankert. Der Mann, der zu dem Namen gehört, ist geächtet – ohne seine Schuld. ‚Gestatten, Hitler‘. Diese Vorstellung muß ähnliche Folgen haben wie die unerwartete Detonation eines Blindgängers. Dazu die frappante Ähnlichkeit. Schließlich kann Alois nichts dafür, daß Adolf sein Halbbruder ist. Da hilft nur etwas: Anträge zu stellen. Es wird der schwierigste amtlich sanktionierte Hürdenlauf gewesen sein, den es überhaupt gibt. Und das will schon etwas heißen. Seit gestern, Freitag, heißt Alois Hitler nun Hans Hiller. Die Hamburger Behörden gaben ihren Segen dazu. Nun wird Alois – Verzeihung Hans wohler sein. Wir können es ihm nachfühlen."(19)

Welche journalistische Meisterleistung! Wenn der Schreiber nur geahnt hätte, wie einfach „der amtlich sanktionierte Hürdenlauf“ gewesen war! Die staatliche Pressestelle stellte richtig und in mehreren Zeitungen gab es dazu kurze Notizen: „Olle Kamellen. Rundfunk und ein Teil der Presse teilten kürzlich mit, daß sich Adolfs Stiefbruder Alois Hitler, der in Hamburg lebt, jetzt in Hans Hiller habe umtaufen lassen. Dazu ist zu sagen, daß Alois Hitler sich schon lange und zwar im Oktober 1945 von seinem Namen getrennt hat und sich mit Einverständnis der Militärregierung seit damals Alois Hiller nennt, also nicht Hans Hiller. Er war übrigens niemals Mitglied der Nazipartei und auch sonst liegt gegen ihn nichts Belastendes vor, deshalb lasse man ihn gefälligst in Ruhe.“ Schrieb die „Hamburger Freie Presse“. (20) Hans Hiller war übrigens der neue Name des umgetauften Johann Hietlers, des Ehemanns von Erna Hiller. Wer wohl Stichwortgeber für die kleine Presseaktion gewesen war? (21)

Am 21.11.1948 erschien in der „Welt am Sonntag“ eine groß aufgemachte Geschichte: „Alois Hitler wird Alois Hiller". Es iwar die Legende, die für das weitere Entnazifizierungsverfahren nötig schien. Eine Version, die Rechtsanwalt Brügmann daraufhin als Dokument für die völlige Unschuld des Alois in seine Schriftsätze zentral einbaute. „Dieser Namenswechsel, diese Flucht in einem tarnenden Buchstabenaustausch, ist das Ende einer Lebensepoche, die für Alois Heller manche Bitternis mit sich gebracht hat. Bereits im Braunauer Elternhaus bestand zwischen den Halbbrüdern durchaus kein herzliches Einvernehmen. Hitlers Vater, er hieß gleichfalls Alois, heiratete dreimal. Aus der zweiten Ehe entstammten die beiden Kinder Alois und Angela. Der 37-jährige Zollbeamte schloss eine dritte Ehe, aus der fünf Kinder hervorgingen. Nur zwei blieben am Leben: Adolf und Paula. Daß die Stiefmutter ihren Sohn Adolf dem Stiefsohn bei jeder Gelegenheit vorzog, schaffte bald die unüberbrückbare Kluft zwischen den Brüdern. Dies bewog Alois, bereits in jungen Jahren das Elternhaus zu verlassen, um sich als Kellner durchzuschlagen." (22)

Als vermeintlichen Beleg für Alois NS-Gegnerschaft wurde notiert: „Seine erste Frau, die er in London kennen lernte, war Engländerin. Sie schenkte ihm einen Sohn, William Patrick Hitler. Seit 1944 ist dieser im aktiven Kriegsdienst der amerikanischen Kriegsmarine." Und dann folgte eine Variante, die die Hitlers und Hillers bisher noch nicht erzählt hatten: „Es galt für ihn, sich in Deutschland eine neue Existenz zu gründen. So erwarb er ein kleines Lokal, das der Berliner als „Quetsche" bezeichnen würde, eine jener kleinen Kneipen, in denen man Berliner Bouletten und Bier anbietet. Inzwischen begann die ‚große Karriere‘ Adolfs. Wenn dieser auch bis dahin von dem Bruder weiter keine Notiz mehr genommen hatte, stand er plötzlich eines Tages fordernd vor Alois: Er habe ‚seiner Partei‘ beizutreten und diese mit Geld zu unterstützen. Diese Forderung schien Adolf ganz selbstverständlich zu sein. Alois jedoch weigerte sich, auch nur einen Pfennig herauszurücken, woraus der Stiefbruder die Konsequenz zog und das familiäre Band endgültig zum Zerreißen brachte. Als sie einander später bei einer Veranstaltung begegneten, nahm Adolf keine Notiz von Alois. Auch zur Zeit der ‚Konjunktur‘ für die Partei verzichtete Alois nach einer Probevisite von einem Jahr auf seine Zugehörigkeit zu der ‚Bewegung‘. Er wandte sich ganz seinem Gastwirtsgewerbe zu und erwarb mit Unterstützung eines Architekten am Berliner Wittenbergplatz eine Gaststätte Alois, die bald stadtbekannt war." (23) Legenden wurden gestrickt, wie es gerade passte.

Es wurde konstatiert, dass die Gaststätte des Alois Hitler viele Neugierige anzog. „Der Wirt hielt sich betont im Hintergrund, ja zuweilen gab er den Unwissenden sogar selbst die Auskunft, der Wirt sei gar nicht anwesend. Das konnte er sich leisten, da zwischen den beiden Brüdern nur eine ganz geringe Ähnlichkeit besteht. Nach dem Zusammenbruch 1945 zog Alois gen Westen. Sein Prokurist und sein Küchenmeister wollten den Versuch machen, das Geschäft weiterzuführen. Sie wurden aber im Verlauf der Einnahme Berlins durch die Russen erschossen. Vielleicht hatte man eine Beziehung zum ‚Reichskanzler‘ vermutet." (24) Noch eine wilde, nicht belegte Legende. Aber wertvoll genug für Rechtsanwalt Brügmann, als Dokument in seinen Schriftsätzen zitiert und vorgelegt zu werden.

Die „Welt am Sonntag“ zeigte Empathie für Alois H.: „Bis jetzt hat das Leben ihm keine Chance für eine neue Existenz geboten. Die Verwandtschaft mit dem Vernichter Deutschlands wog schwerer, als er es ahnen konnte. Zusammen mit seiner zweiten Frau lebt der 66-Jährige in einem Zimmer einer kleinen Wohnung und hält sich vom Verkauf der seinerzeit noch geretteten Habe über Wasser. Nun soll der Spruchkammerbescheid ein letzter Versuch sein, dem Leben Alois Hitlers eine neue Richtung zu geben." (25)

Rechtsanwalt Brügmann und Erna Hiller benötigten diese rührselige Homestory. Denn aus Berlin waren ungünstige Informationen aufgetaucht. Es handelt sich um einen Bericht über Alois Hitler, zusammengestellt „nach Aktenmaterial und Zeugenberichten", schon am 13.7.1946 von Walter Herzog, wohnhaft im Haus des Restaurants „Alois", am Wittenbergplatz 3. Herzog belegte alle seine Aussagen. Er beschrieb, dass der Erwerb der Gaststätte am Wittenbergplatz im Vergleich zu den früheren kleinen Gastwirtschaften von Alois Hitler eine unvergleichlich hohe Investition gewesen ist. „Hier muss er schon von höherer Seite Unterstützung gefunden haben." (26)

Herzog verwies auch darauf, dass dem Vorbesitzer die Aufstellung einer Schankerlaubnis auf der Vorgartenveranda immer untersagt gewesen war. „Alois Hitler wurde eine Erlaubnis anstandslos gewährt." Zur Eröffnung des Restaurants „waren verschiedene Minister und viele hohe SS-Offiziere anwesend". Herzog benannte einen früheren Kriminalbeamten Pistert, der ein anderes Detail bezeugen konnte: „Alois Hitler erklärte anlässlich eines Diebstahls, bei dem ihm unter anderem auch eine hochwertige Kamera gestohlen wurde, dass er auf diese besonderen Wert lege, weil sie ein Geschenk seines Bruders sei."

Herzog belegt auch mit Dokumenten vom NSDAP-Ortsgruppenleiter, dass Alois Hitler stets als Parteigenosse angeschrieben worden sei und er benannte Zeugen, die erklärten, dass Alois Hitler das Parteiabzeichen am Revers getragen hätte. Nutznießer „durch seine Verwandtschaft mit Adolf Hitler" sei er gewesen, durch „unverhältnismäßig hohe Zuwendungen von Delikatessen". Ein Teil dieser Delikatessen ging „auch wieder an hohe Parteimitglieder weiter, mit denen er Freundschaft hielt.". Herzog benannte als Zeugin Frau Looks aus dem Haus, die als „Austrägerin" fungierte.

Erna Mach, „mit goldenem Parteiabzeichen dekoriert“, sei Geschäftsführerin im ‚Alois" gewesen, später auch an dem Betrieb beteiligt. Und: „Während auf der einen Seite in den unteren Räumen ein einfaches, gutbürgerliches Geschäft betrieben wurde, herrschte in den oberen Räumen ein reines Partei- und Wehrmachtsleben, das friedensmäßig aufgezogen war."

Herzog benannte Zeugen und erklärte, dass ein Brief in Händen des amerikanischen Sicherheitsdienstes und ein Gästebuch in Händen des russischen Kommandanten seien.

Weiter schrieb Herzog: „Seine Juden- und Ausländerfeindlichkeit wird durch den Briefwechsel bewiesen, den er mit amtlichen Stellen führte und in dem er diese im Gegensatz zu deutschen SA-Männern, Krankenschwestern usw. stellt. Das geht sogar so weit, dass er eine Französin, einen Tschechen und noch einen Angestellten durch Anzeigen ins Konzentrationslager resp. Gefängnis bringt." Entsprechende Briefe seien in den Händen des amerikanischen Sicherheitsdienstes.

Über die späte Flucht nach Hamburg in den chaotischen Endkriegstagen in Berlin vermerkte Herzog: „Kurz vor dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands wurden Alois und Erna Hitler mittels eines Lastwagens und eines Personalkraftwagens unter Mitnahme von Lebensmitteln und Wertsachen aus Berlin geschafft. Die Autos gehörten der SS. Zu diesem Zeitpunkt war es Niemandem mehr möglich, Berlin zu verlassen. Die Betriebe wurden dadurch herrenlos, und weil jeder die schamlose Flucht aus dem Elend mit ansah, wurden sie als erste geplündert. Die Vorräte, die überdurchschnittlich waren und ein Teil des Mobiliars wurden geplündert.“ Auch dafür benannte Herzog Zeugen aus dem Haus.

Dieses Schreiben muss ein schwerer Schlag für Alois Hitler (Hiller) und seine Geschäftsführerin gewesen sein. Die Hoffnung auf den Wiederbesitz des ertragreichen Restaurants war dahin. Herzog hatte seinen Bericht mit dem Hinweis geschlossen: „Der Bezirksbürgermeister Wendland setzte in die verlassenen Räume, die zwei Familien Existenz bieten, durch Trennung des Restaurants vom Kaffee zwei Fachleute ein und zwar Herrn Josef Fent, für die Gaststätte, weil dieser durch den Widerstand der SS aus dem Geschäft in der Augsburger Straße alles verloren hatte und für das Café Herrn Walter Herzog, dessen Betrieb im Rahmen der Judenaktionen 1938 polizeilich geschlossen wurde. Beide Lokale zeichnen sich jetzt durch anerkannte Solidität aus."

Rechtsanwalt  Brügmann hatte Schwierigkeiten, Entlastendes vorzubringen. Dabei wurde sogar die Parteimitgliedschaft eingeräumt. Irgendjemand aus dem Hause Hitler/Hiller muss doch etwas im Gedächtnis gehabt haben. Die neue Version: „Als er im Jahre 1927 nach Berlin gezogen war, erhielt er eines Tages ein Schreiben der Münchner Parteizentrale, mit welchem die Beiträge für das zurückliegende Jahr von ihm nachgefordert wurden. Bis dahin hatte er praktisch von der Partei nichts gemerkt. Er hatte niemals eine Mitgliedskarte erhalten und an keinen Veranstaltungen teilgenommen, so dass er seiner Beitrittserklärung nicht die Bedeutung des Erwerbs einer vollgültigen Mitgliedschaft beigemessen hatte. Als er jetzt die Aufforderung zur Nachzahlung bekommen hatte, schrieb er, dass er auf die Mitgliedschaft keinen Wert legte und formell seinen Austritt erklärte. So erklärt sich der Eintrag in der Zentralkartei der NSDAP." (27)

Offensichtlich war inzwischen auch die zentrale NSDAP-Kartei ausgewertet worden. Und jetzt räumte Rechtsanwalt Brügmann auch ein, dass Alois Hitlers Bruderschaft zum Vorteil gereicht hätte: „Es mag sein, dass verschiedene Besucher in das Lokal des Herrn Alois Hitler am Wittenbergplatz gekommen sind, als sie gehört hatten, er sei der Halbbruder des ‚Führers‘ und hofften, ihn dort zu sehen. Viele mögen gekommen sein in der Hoffnung, aufgrund der ‚Beziehungen‘ dieses Halbbruders zum Führer irgendein Anliegen durchzusetzen. Solange aber nicht nachgewiesen ist, vielmehr wird das Gegenteil nachgewiesen, dass Herr Alois Hiller eine derartige Entwicklung gewollt und gefördert hat, kann man ihm daraus keinen Vorwurf machen." (28)

Inzwischen ermittelten auch Hamburger Dienststellen. So das Polizeikriminalamt Spec. Dep. II. Polizei-Inspektor Müller hatte festgestellt, dass Adolf Hitlers Neffe Johann, jetzt umgenannt Hiller, mit Alois Hitlers ehemaliger Geschäftsführerin Erna seit dem 12.12.1947 verheiratet war und im selben Haus wie Alois H. wohnte. Über Erna H. bemerkte der Polizeiinspektor, sie sei „am 15.5.1939 vom Landgericht Hildesheim wegen schwerer Amtsunterschlagung in Tateinheit mit Untreue, Betrug und privater Urkundenfälschung zu sieben Monaten und einer Woche Gefängnis verurteilt worden (Bewährungsfrist bis zum 31.8.1943, Straferlass am 26.9.1944)." (29)

Fürwahr eine ehrenwerte Gesellschaft.

Auch wurde bekannt, dass Alois Hiller 90.000 Reichsmark bei der Deutschen Bank in Berlin habe, „zur Zeit von der russischen Besatzungsbehörde blockiert". (30)  Wie viel Geld Alois Heller und seine Geschäftsführerin bar nach Hamburg mitbrachten, blieb ungeklärt. Mal war bei Alois Hiller von 15.000, mal von 20.000 Reichsmark die Rede. Eine Leica soll er für 15.000 Reichsmark zusätzlich verkauft haben.

In Hamburg gab es keine wirklichen Erkenntnisse. Darum sind die Hitlers/Hillers ja hierhergekommen. Der Sekretär des Zentralausschusses für die Entnazifizierung, Rose, wendet sich am 5.5.1948 an den Berliner Landesverband des Hotel- und Gaststättengewerbes und bat um Information. (31) Die eintreffenden Berichte diskreditierten den im Hamburg 1945 innerhalb von drei Wochen durch die Polizei von dem Namen Hitler befreiten Alois nun völlig. So wurde die Übersetzung eines Schreibens von Ottos Strentz bekannt, dem Treuhänder für NSDAP-Vermögen für den Bezirk Schöneberg-Friedenenau, der am 5.3.1947 an das Military Government Berlin District, Finance and Property einen Bericht über die Gaststätte „Alois" verfasst hatte. Otto Strentz schrieb: „Die folgenden Tatsachen zeigen, dass Herr Alois Hiller (früher Hitler), obgleich er behauptet, niemals irgendetwas mit seinem Bruder Adolf Hitler zu tun gehabt zu haben, und er klugerweise seinen Namen geändert hat, nicht nur als Nutznießer der Partei oder des Systems sondern als ein Erz-Geldmacher anzusehen ist." (32)

Otto Strentz berichtete ein neues Detail über den nicht-öffentlichen Kontakt von Alois Hitler zu seinem Halbbruder Adolf: „An jedem Geburtstag des sogenannten Führers veranlasste Alois Hitler seine Kinder, Onkel Adolf anzurufen und ihm auf sehr herzliche Weise zu gratulieren."

Auch Otto Strentz bestätigte, dass Alois Hitler im Gegensatz zum Vorbesitzer sofort einen Frontgarten genehmigt bekam. Weiter: „Am 16. Juli 1941 bittet Herr Hitler die Fachgruppe Tabak (Handelsgruppe Tabak) um eine Erhöhung seines Tabak-Kontingents, da besonders Ausländer, Japaner, Italiener und viele Offiziere und Soldaten der Wehrmacht seine regelmäßigen Gäste sind. Diese Worte beweisen, dass der erste Stock des Restaurants - wie allgemein bekannt – ein richtiges Nazinest war, wo prominente Mitglieder von Partei und Wehrmacht ihre Verabredungen hatten."

Ein anderes Schreiben von Alois Hitler lag Otto Strentz vor: „Am 4. April 1943 schrieb Alois Hitler an die Leitung des Arbeiterlagers für ukrainische Frauen wie folgt: ‚Ich wurde von Frau Conti (der Ehefrau des Staatssekretärs Dr. Conti) davon unterrichtet, daß sie ihr bei der Beschaffung eines fleißigen ukrainischen Mädchens aus ihrem Lager behilflich waren. Frau Conti selbst ermutigte mich, Sie zu bitten, zwei oder drei Mädchen für unser Unternehmen einzustellen."

Auch ein anderes Anliegen von Alois Hitler wurde ungewöhnlich schnell genehmigt: „Am 24. Juni 1939 bittet er die Polizei des Verwaltungsbezirks Schöneberg um Genehmigung für die Erweiterung seines Betriebes und führt als Begründung an, daß sein Geschäft sich beträchtlich entwickelt habe und er nunmehr 36 Personen beschäftige (früher elf Personen). Er fährt fort ‚ da wir uns jetzt Volk ohne Raum nennen können‘. Ferner führte aus: ‚Die von dem Hausbesitzer, dem Juden Hefter, begangenen Unterlassungssünden beeinträchtigen natürlich unsere Lokalitäten.“

Otto Strentz bestätigte, es lägen Schreiben vor, die Alois Hitler als Parteimitglied auswiesen. Auch der Hausverwalter des Grundstücks Wittenbergplatz 3, Werner von Puttkamer, bestätigte, dass Alois Hitler „das frühere Abzeichen der Nazis, das Abzeichen eines Amtsträgers trug". (33) Und die Hauswartfrau, Grete Looke, schrieb am 2.2.1947 folgende Bestätigung: „Seit 1936 bin ich als Hauswartfrau in dem Haus beschäftigt. Meines Wissens war der Bewohner Alois Hitler Inhaber des Parteiabzeichens, während die für ihn tätige Vertrauensperson, Frau Erna Hietler, Inhaberin des goldenen Parteiabzeichens war. Ich musste des öfteren Lebensmittelpakete zum Reichsärzteführer, Dr. Conti, als Geschenksendungen tragen. Zu Weihnachten erhielten ich und alle anderen Angestellten ein Bild des Führers als Geschenk. Am Geburtstag des Führers dekorierte Hitler die Schaufenster mit Edelweiß und Bildern und ich weiß, daß auf Veranlassung der Erna Hietler ein Kellner und ein französisches Mädchen in ein Konzentrationslager gebracht worden sind. Aus diesen und vielen anderen Gründen kann ich bestätigen, dass Alois Hitler ein Erz-Nazi gewesen ist." (34)

Damit hatte sich das Blatt endgültig gewendet. Und es wurde vollends deutlich, warum die Hitlers/Hillers lieber mit den unwissenden Hamburger Behörden und Ausschüssen zu tun haben wollten und Berlin im letzten Moment fluchtartig verlassen hatten, trotz der bis dahin sprudelnden Geldquelle.

Als völlig diskreditierend erwies sich ein Schreiben an die Kreisleitung 4  der Deutschen Arbeitsfront vom 15.12.1938. Auch dieses taucht als Original nun in Hamburg auf. Darin wurde um zusätzliche Räume für das Personal (zum Umkleiden) und für die Lagerung von Lebensmitteln nachgesucht. In dem Schreiben hieß es: „Der Hauswirt hier ist der Jude Philipp Hefter – Wittenbergplatz 3. Im Vorder-Seitenhaus und Quergebäude sind z. Zt. noch 13 Wohnungen von Juden bewohnt. Es ist damit zu rechnen, dass diese Juden in der nächsten Zeit ihre Wohnungen räumen müssen. Unser Wunsch geht dahin, die Parterrewohnungen des Quergebäudes für unseren Betrieb zu übernehmen, damit zunächst ein Umkleideraum, ein Büro, sowie ein Aufenthaltsraum geschaffen werden kann. Die Küche müsste etwas vergrößert werden, denn elf Menschen können unmöglich auf die Dauer in der kleinen Küche ihre Arbeit verrichteten. Es ist uns schon so ergangen, dass wirklich gutes Personal sich von uns getrennt hat, weil ihnen einfach nicht möglich war, in den mehr als primitiven Arbeitsräumen zu arbeiten. Da die eine Parterrewohnung früher vom Betrieb als gewerblicher Raum benutzt worden ist und nur durch eine einfache Tür getrennt ist, sind kaum große bauliche Veränderungen erforderlich. Sämtliche Bewohner der Parterrewohnungen sind bereit, ihre Wohnung zu wechseln, wenn ihnen im gleichen Haus eine ähnliche Wohnung zur Verfügung gestellt wird. Es handelt sich zunächst um die Portierwohnung von Herrn Looks, dessen 2 Zimmer-Wohnung an unsere Kaffeeküche grenzt. An die Portierswohnung grenzt eine 1 Zimmer-Wohnung, die noch von dem Juden B i e n e r bewohnt wird. Die Parterrewohnung links wird von einer Krankenschwester Mücke bewohnt, die ihre Wohnung kaum benutzt, da sie oft wochenlang außerhalb pflegt. Die Schwester Mücke hat sich bereit erklärt, sofort auszuziehen wenn ihr eine andere Wohnung zugewiesen wird. An diese Wohnung der Schwester Mücke grenzt die Wohnung des SA-Mannes Zeitel, der ebenfalls bereit ist, seine Wohnung zu räumen, wenn ihm eine andere Wohnung zugeteilt wird. Die Polizei hat uns eine Frist von sechs Wochen gestellt, unsere Fleischwaren usw. in einen anderen Keller wie bisher unterzubringen. Uns fehlt bis heute jede Möglichkeit. Der Hauswirt, der Jude Hefter, besitzt nach unserer Kenntnis 3 große geräumige Keller, die zum Teil sogar Tageslicht haben. Die Keller werden von dem Juden nicht benützt, sondern enthalten nur Kellergerümpel. Es liegt also offenbar böser Wille vor, uns für unseren Betrieb einen weiteren Keller zur Verfügung zu stellen. Das Haus hier ist sehr schwer verschuldet und mit Hypotheken belastet, so dass anzunehmen ist, dass der Besitzer bald wechseln wird. Aus dem vorstehend Geschilderten wollen Sie entnehmen, wie unglücklich hier die Raumverhältnisse meines Betriebes gelagert sind. Ich halte es für meine Pflicht, alle zuständigen Stellen anzurufen, hier endlich Wandel zu schaffen, damit ich meinen Angestellten neben ihrer schweren Arbeit die Möglichkeit schaffe, in anständigen Räumen zu arbeiten. Die Zeit der jüdischen Machthaber im Hausbesitz dürfte nach den letzten Gesetzen ihr Ende gefunden haben und so bitte ich die Deutsche Arbeitsfront nochmals mir ihre Hilfe nicht versagen zu wollen." (35)

Unterschrieben war dies mit „gez. Alois Hitler“. „Alois Hitler" handschriftlich eindeutig von der Hand Erna Machs, wie ein Schriftvergleich mit ihrer späteren Unterschrift als „Erna Hiller“ beweist.

Die Rechtsanwälte gerieten in Argumentationsschwierigkeiten. Durch Berliner Dokumente aufgeschreckt und munitioniert, hatte der Zentralausschuss für die Entnazifizierung am 17.3.1949 Alois Hiller nunmehr in Kategorie III eingruppiert. Nun vertrat neben Rechtsanwalt  Brügmann auch noch der Wirtschaftsberater Gustav Sternberg die Hiller-Interessen. Am 10.6.1949 beantragt Sternberg, den Geisteszustand Alois Hillers überprüfen zu lassen. Er schrieb: „Der Berufungsführer leidet an erheblichem Gedächtnisschwund, wie sich aus dem täglichen Erleben innerhalb seines Angehörigenkreises ergibt. Da nun der Ausgang des Berufungsverfahren für Herrn Hiller von außergewöhnlicher Bedeutung ist, hinsichtlich seiner Vermögenswerte in Berlin, besteht die Absicht ihn amtsärztlich untersuchen zu lassen, um den einwandfreien und unumstößlichen Beweis für den Gedächtnisschwund zu haben. Da aber eine amtsärztliche Untersuchung nur vorgenommen wird, wenn eine Anordnung von behördlicher Seite vorliegt, wird hiermit darum ersucht, die Untersuchung anzuordnen, damit Herr Hiller in eine Klinik eingewiesen wird. Die Kosten dieser amtsärztlichen Untersuchung werden selbstverständlich von der Familie Hiller getragen." (36)

Vor der Sitzung des Berufungsausschusses am 9.11.1949 wurde auch Rechtsanwalt Brügmann noch einmal tätig. Er schrieb: „Es ist schließlich, was das schwerwiegendste ist, unmittelbar vor der letzten Verhandlung am 17. März 1949 neues Belastungsmaterial aus Berlin beschafft worden, mit welchem Herr Hiller in der Verhandlung überfallen worden ist, ohne sich irgendwie vorbereiten zu können. Dieses musste selbstverständlich, besonders angesichts des gesundheitlichen Zustandes des Herrn Hiller und seines bereits erörterten nervlichen und geistigen Zustandes, dazu führen, dass Herr Heller derartigen Beschuldigungen völlig wehrlos gegenüberstand." (37) Besonders wohl deswegen, weil es nicht möglich war, eine Verteidigungsstrategie von seinem Rechtsanwalt zu entwickeln und einzuüben.

Der Zentralausschuss hatte Hiller am 17.3.1949 als „Fragebogenfälscher" bezeichnet. Seine NSDAP-Mitgliedschaft vom 3.8.1926 bis zum 30.9.1927 (Mitgliedsnummer 42754) habe er verschwiegen. Ebenso seine gerichtlichen Vorstrafen (Frage Nummer 24 im Entnazifizierungsfragebogen). Der Zentralausschuss stellte dann fest: „In diesen gerichtlichen Strafen des Alois Heller dürfte aber wohl (von anderen Dingen abgesehen) auch die Erklärung dafür zu erblicken sein, dass sein Bruder Adolf ihn sichtbar nicht besonders gefördert hat. Die Strafen seines Halbbruders Alois Hiller werden Adolf Hitler sicher bekannt gewesen sein. Er musste deshalb größten Wert darauf legen, dass dieser mit ihm blutsverwandte Mann möglichst wenig in Erscheinung trat und sich auf die Ausübung seines Berufes beschränkte. Das hat alles Hiller getan und (unter Betonung seiner nationalsozialistischen Gesinnung) im übrigen versucht, aus der Tatsache seiner Verwandtschaft mit Adolf Hitler möglichst Vorteile zu ziehen und in den ihm gezogenen Grenzen gut zu verdienen." (38) Und weiter argumentierte diese Instanz: „Der Ausschuss ist davon überzeugt, dass Alois Heller sich in jedem Augenblick darüber klargewesen ist, dass seine Gesuche, Anzeigen und Vorstellungen bei den Behörden ein besonderes Gewicht gehabt haben, weil er in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Adolf Hitler stand." Und letztlich: „Wenn er sich im übrigen politisch passiv verhielt, so bedeutet das keineswegs, dass er dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber stand. Das erhellt eindeutig aus der Tatsache, dass er seinen Sohn auf die Nationalpolitische Bildungsanstalt Ballenstedt/Harz, schickte. Er würde das nicht getan haben, wenn er wirklich irgendwie im Gegensatz zur NSDAP gestanden und nicht an die Zukunft der NSDAP geglaubt haben würde. Wesentliche Entlastungsmomente vermochte der Betroffene nicht vorzubringen."

Trotz des Versuches des Hiller-Vertreters Sternberg, die Gedächtnisfähigkeit von Alois Heller untersuchen zu lassen, erschien Alois Heller mit Rechtsanwalt Bügmann am 9.11.1949 vor dem Berufungsausschuss. Wieder erklärte er, nach dem Umzug nach Berlin vergessen zu haben, einen Parteieintritt unterschrieben zu haben. Es schimmerte durch, dass ihm das ausreichend erschien: „Die meisten haben gedacht ich wäre in der Partei." (39) Er habe nie ein Parteiabzeichen getragen, es wäre wohl das Abzeichen des Reichsluftschutzbundes (RLB) gewesen, „eine kleine Nadel mit dem Hakenkreuz“. Und er sagte noch einmal: „Wie ich schon erwähnte, nahmen die Leute an, daß ich Pg. sei. Das hatte man damals hundertprozentig so angenommen. Ich habe nichts dagegen unternommen, daß man mich allgemein als Mitglied der Partei ansah. Ich habe die Leute in dem Glauben gelassen. Es lag mir nichts daran, sie darüber aufzuklären."

Die belastenden Schreiben  seien von seiner Geschäftsführerin geschrieben worden, insbesondere das an die deutsche Arbeitsfront. Und zur Napola-Beschulung seines Sohnes erklärte er: „Es ist richtig, daß ich meinen Sohn, als er 14 Jahre alt war, genau weiß ich es nicht, auf die Napola-Bildungsanstalt in Ballenstedt geschickt habe. Das war sein Wunsch. Ich konnte mich um nichts kümmern. Für mich war die Hauptsache, dass ich ihn aus der Gastwirtsatmosphäre herausbrachte." (40)

Alois Heller konnte sich trotz Gedächtnisschwundes gut an die Strategie seines Rechtsanwaltes halten, die dieser vorher in seinen langen Schriftsätzen formuliert hatte.

Die Verhandlung wurde unterbrochen und am 30.11.1949 fortgesetzt. Hier erklärt Hiller noch einmal, dass er das Schreiben an die deutsche Arbeitsfront gar nicht gekannt habe: „Meine Direktrice – Frau Mach - hat sämtliche Korrespondenz unterschrieben. Sie ist schon ziemlich früh bei mir angefangen. Es war bald danach, wie ich das Geschäft am Wittenbergplatz übernommen habe.“ (41)

Die letzte Entscheidung des Berufungsausschusses erscheint überraschend, passte sich aber der gängigen Praxis der Entnazifizierungsentscheidungen in Hamburg 1949/1950 an. In der Begründung hieß es: „Der Berufungsausschuß geht davon aus, daß er Fühlung mit seinem Halbbruder Adolf Hitler nicht gehabt hat. Daraus ergibt sich aber nicht, daß er in der Folgezeit im Gegensatz zur Partei gestanden hat. Sein enges Zusammenarbeiten mit Frau Mach, deren Akte dem Berufungsausschuss vorliegt und die politisch stark hervorgetreten ist, spricht dagegen, ebenso wie der Umstand, daß er seinen Sohn auf die Napola Bildungsanstalt in Ballenstedt gesandt hat. Im gewissen Umfange ist er auch Nutznießer der Partei gewesen, indem er die allgemeine Auffassung unterstützt hat, daß er Mitglied der Partei sei. Die Eingaben, die von ihm an die Parteidienststellen gerichtet sind, sind so gefaßt, wie sie damals von aktiven Nationalsozialisten angewandt zu werden pflegten. Insbesondere hat er mit diesen Schreiben versucht, eine Erweiterung des Geschäftslokals dadurch zu erreichen, daß er gegen seinen jüdischen Hauswirt und die jüdischen Bewohner sich äußerte und in seinen Eingaben zum Ausdruck brachte, daß die Zeit der jüdischen Machthaber im Hausbesitz ihr Ende gefunden habe. Es mag dahingestellt bleiben, ob er selbst die Briefe unterschrieben hat. Selbst wenn Frau Mach sie unterschrieben hat, so geht der Berufungsausschuß davon aus, daß dies in Übereinstimmung mit dem Berufungskläger geschehen ist.

Die Angabe, die der Berufungskläger darüber macht, daß er von all dem keine Ahnung gehabt hat, konnte nicht als beweiskräftig angesehen werden, da die Aussagen des Berufungsklägers in mancher Beziehung unzuverlässig sind, ebenso wie auch seine Angabe darüber, daß er früher Mitglied der Partei gewesen ist. Daß er dieses vergessen hätte, während er die Einzelheiten seines Ein- und Austritts noch weiß, erscheint dem Berufungsausschuss ausgeschlossen.

Immerhin ist zu Gunsten des Berufungsklägers berücksichtigt worden, daß keine Beweise dafür vorliegen, daß er politisch sich sehr stark betätigt hat. Es erscheint deshalb angemessen, ihn als Mitläufer zu erklären und mit Rücksicht auf sein Alter und den Zeitablauf ihn vom 1.4.1950 ab in Kategorie V einzustufen." (42)

Als Entlasteter konnte Alois Hiller nun ohne Beschränkung in der freien Wirtschaft wieder tätig werden. Unbekannt ist, wie die Wiederinbesitznahme des „Alois“ in Berlin verlief. Ich vermute, dass die Hitler/Heller da nicht erfolgreich waren. Berlin war nicht Hamburg. In Berlin gab es genügend hartnäckige Zeugen und Dokumente. In Hamburg brauchte man ja nur drei Wochen, um den Namen „Hitler" loszuwerden. Und nur ein Gespräch in der ersten Instanz für die Entnazifizierung. Wer mochte nach dem 8.5.1945 schon gerne Hitler heißen.

Alois Hitler starb am 20.5.1956 in Hamburg.

Nachtrag

Alois Hitlers Sohn Heinrich Hitler, genannt Heinz, geb. am 14.3.1920, besuchte die Nationalpolitische Bildungsanstalt (Napola) Ballenstedt im Harz, machte dort Abitur, war ein überzeugter Nationalsozialist, meldete sich 1939 freiwillig zum Kriegsdienst, wollte Offizier werde. Als Unteroffizier wurde er in der Sowjetunion gefangen genommen und starb im Gefangenenlager Butyrka am 21.2.1942.

Alois Hitlers älterer Sohn, William Patrick Hitler, geb. am 12.3.1911 in Liverpool, war Buchbinder, lebte in England und Deutschland, bekam auf Grund seiner verwandtschaftlichen Beziehung eine Anstellung in der Deutschen Reichsbank, hatte mit seiner deutschen Frau vier Söhne, wanderte in die USA aus, ging mit großer Publizität 1944 in die US-Army und zog in den Krieg gegen Nazi-Deutschland. Zeitlebens versuchte er aus seiner „bizarren“ Verwandtschaft Aufmerksamkeit herzustellen und daraus Kapital zu schlagen. So durch eine Vortragstournee in den USA über Adolf Hitler und seine Familie. Er schrieb auch am 21.4.1949 einen Brief an das Sekretariat des Entnazifizierungskommissars in Hamburg, in dem er sich für seinen Vater Alois einsetzte, behauptete, dass dieser niemals Kontakt zu Adolf Hitler gehabt habe und forderte insbesondere, dass Alois Hitler „sein ehrlich verdientes Hab und Gut“ zurückgegeben werde. (43) Er starb am 14.7.1987 in New York.

Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1. StA HH, 332-4_IV B 7 116/45 . Im Weiteren zitiert als: Umbenennungsakte
2. Ebd.
3. Umbenennungsakte, a.a.O.
4. Ebd.
5. Umbenennungsakte, a.a.O.
6. Umbenennungsakte, a.a.O.
7. Umbenennungsakte, a.a.O.
8. Schreiben vom 22.10.1945, Bl. 14, ebd.
9. Offenbar von den Hillers selbst inszenierte Berichte.
10. Die fundierteste Beschreibung der Familienverhältnisse Hitlers gibt es bei: Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, S. Fischer Verlag, 2013. Insbesondere das Namenswirrwar wird aufgelöst im 1. Kapitel, S. 23 ff.
11. Ullrich, a.a.O., S.29.
12. Alle Angaben nach: Alois‘ Restaurant. Hitlers Halbbruder bewirtet die SA und SS, in: Paul Kohl:111mal Berlin, Hermann-Josef Emons Verlag 2013 und: Alois Hitler Junior, in: de.wikipedia.org.Alois-Hitler-junior
13. Laut Wikipedia, a.a.O.
14. Alois‘ Restaurant, a.a.O.
15. Wobei Volker Ullrich darauf hinweist, dass Adolf Hitlers Vater Alois als „Zollamts- Offizial“ das Gehalt eines Schuldirektors bezog.
16. Bisherige Angaben laut Gesprächsprotokoll mit Alois Hiller (Hitler) in seiner Umbenennungsakte, a.a.O.
17. Diese und weitere Unterlagen laut ausgefülltem Entnazifizierungsfragebogen in: Umbenennungsakte, a.a.O.
18. Protokoll der Sitzung des Fachausschusses vom 4.3.1948, Umbenennungsakte, a.a.O.
19. „Hamburger Echo“ vom 13.11.1948
20. So in der „Hamburger Freien Presse“ vom 18.11.1948
21. Zu den Namensänderungen bei Adolf Hitler und Alois Hitler siehe: Ullrich, a.a.O., S. 21 ff.
22. Alles zitiert aus: „Welt am Sonntag“ vom 21.11.1948
23. Ebd.
24. Ebd.
25. Ebd.
26. Im Weiteren alles zitiert aus dem Bericht von Walter Herzog, Abschrift in der Umbenennungsakte, a.a.O.
27. Schreiben vom 30.12.1948 an den Zentralausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten, Umbenennungsakte, a.a.O.
28. Ebd.
29. Ermittlungsbericht vom 17.6.1947, Umbenennungsakte, a.a.O.
30. Schreiben vom Polizei- Kriminalamt Spec.Dep VI vom 18.6.1947, Umbenennungsakte, a.a.O.
31. Schreiben ebd.
32. Übersetzung der Schreibens von Otto Strentz vom 5.3.1047, Umbenennungsakte, a.a.O. Aus diesem Schreiben wird im Weiteren zitiert.
33. Schreiben vom 7.1.1947, Umbenennungsakte, a.a.O.
34. Umbenennungsakte, a.a.O.
35. Umbenennungsakte, a.a.O.
36. Umbenennungsakte, a.a.O.
37. Alle Zitate aus dem Schreiben Brügmanns vom 20.9.1949, Umbenennungsakte, a.a.O.
38. Diese Zitate und auch die weiteren vom Zentralausschuss vom 17.3.1949, Umbenennungsakte, a.a.O.
39. 133. Sitzung des Berufungsausschusses vom 9.11.1949, Umbenennungsakte, a.a.O.
40. Ebd.
41. 136. Sitzung des Berufungsausschusses vom 30.11.1949, Umbenennungsakte, a.a.O.
42. Ebd.
43. Siehe: Umbenennungsakte, a.a.O.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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