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Edgar Irmscher

(17.8.1887 Dresden – 3.5.1968 Sternenfels)
Botaniker, Professor an der Universität Hamburg
Fröbelstraße 36 (Wohnadresse, 1933)
Jungiusstraße 6 (Wirkungsstätte)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Edgar Irmscher ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  
 „Er möchte mir dringend nahelegen, entweder in die Partei einzutreten, oder in der SA bzw. SS Dienst zu tun. Hierin erblicken er und der Dozentenbund allein den Beweis für die richtige Einstellung …“

Die Rolle des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes, der aus dem NSLB hervorging, soll an den Personen Edgar Irmscher und Georg Anschütz illustriert werden, die in Hamburg die Funktion der Führer dieser Organisation innehatten. Das Ansehen dieser Führer an den Universitäten war nicht groß, weil sie im Ruf standen, mangelnde wissenschaftliche Reputation und Kompetenz durch parteidienlichen Übereifer kompensieren zu wollen. Andererseits hatten sie großen Einfluss bei Stellenbesetzungen und auch bei der Vertreibung jüdischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität. Edgar Irmscher war Gauführer des NS-Dozentenbundes von 1935 bis 1938 und gleichzeitig Gau-Fachschaftsleiter im NSLB.
Edgar Irmscher wurde am 17.8.1887 in Dresden als Sohn eines Beamten geboren. Er besuchte das König Albert-Gymnasium in Leipzig, an dem er Ostern 1907 die Reifeprüfung bestand. Danach absolvierte er das Einjährigen-Freiwilligenjahr beim Infanterieregiment 107 in Leipzig. Anschließend studierte er von 1908 bis 1911 Botanik an der Universität in Leipzig und promovierte dort über Moose.[1]
1912 bekam Edgar Irmscher eine Assistentenstelle am Botanischen Museum in Berlin-Dahlem. Die Arbeit dort wurde unterbrochen von 1915 bis 1919, als Irmscher zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Von 1919 an war Irmscher als Kustos am Institut für Allgemeine Botanik an der Universität Hamburg tätig, wo er sich 1919 habilitierte und 1923 den Professorentitel erhielt.[2]
In seinem späteren Entnazifizierungsverfahren wies Edgar Irmscher darauf hin, er habe 1923 einen Ruf an die Universität Tübingen als beamteter außerordentlicher Professor abgelehnt, weil ihm „Hamburg eine große Tropenreise versprach“ und im Frühjahr 1940 sei von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Berliner Universität dem Reichserziehungsministerium vorgeschlagen worden, Irmscher an die „erste Stelle der Berufungsliste für das botanische Ordinariat und auf den Generaldirektorposten am Berliner Botanischen Garten und Museum“ zu setzen.[3] Warum das nicht erfolgreich war und wieso die Karriere von Edgar Irmscher nicht so richtig voranging, trotz seiner intensiven Arbeit im NS-Dozentenbund, soll beleuchtet werden.
Vorweg: Edgar Irmscher hatte am 15.6.1939 beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin den Antrag gestellt, zum außerplanmäßigen Professor ernannt zu werden. Dies wurde mit Schreiben vom 19.9.1939 realisiert, allerdings mit dem Hinweis, dass damit keine Anwartschaft auf einen planmäßigen Lehrstuhl verbunden sei.[4]
Ein Karriereschritt für Edgar Irmscher erfolgte mit Schreiben des Reichsministeriums vom 8.5.1943, in dem ihm mitgeteilt wurde:
„Der Führer hat Sie unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum ordentlichen Professor ernannt. Ich verleihe Ihnen mit Wirkung vom 1. März 1943 in der landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim die freie Planstelle eines ordentlichen Professors mit der Verpflichtung, die Botanik in Vorlesungen und Übungen zu vertreten. Gleichzeitig bestelle ich Sie zum Direktor des Botanischen Instituts der genannten Hochschule.“[5]
Damit hatte sich das politische Engagement von Edgar Irmscher zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt noch gelohnt. Irmscher war am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten, hatte im November 1933 das „Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler“ unterzeichnet, war von 1936 bis 1938 Leiter der Hamburger Dozentenschaft und Führer des NS-Dozentenbundes in Hamburg gewesen, gleichzeitig Gauführer des NS-Dozentenbundes und auch im NSLB Gau-Fachschaftsleiter für den Hochschulbereich.[6]
Der NS-Dozentenbund war eine Parteigliederung der NSDAP, aus dem NSLB hervorgegangen und hatte den Zweck, politischen Einfluss auf die Universitäten zu nehmen, die Hochschullehrerschaft zu kontrollieren und Stellungnahmen bei Berufungen und Stellenbesetzungen abzugeben. 1938 gehörte etwa ein Viertel der deutschen Hochschullehrerschaft dem NS-Dozentenbund an. Die Gaudozentenbundführer besaßen insbesondere bei Stellenbesetzungen eine nicht zu unterschätzende Macht. Damit kompensierten sie, dass ihr Ansehen an den Universitäten nicht sonderlich groß war, weil viele von ihnen keine hohe wissenschaftliche Reputation genossen und als Parteisoldaten galten.[7]
Wie Edgar Irmscher seine Aufgabe wahrnahm, soll an einigen Beispielen illustriert werden.
Als der Sportpädagoge Eugen Zerbe zum kommissarischen Leiter des Instituts für Leibesübungen in Hamburg berufen wurde, hatte Gaudozentenführer Irmscher gegenüber dem Rektor der Universität Hamburg folgende Stellungnahme abgegeben:
„Auf Ihre Anfrage nach Dr. Zerbe kann ich Ihnen mitteilen, dass nach unseren Erfahrungen in Hamburg in politischer Beziehung gegen den Genannten keine Bedenken bestehen, da ich in dieser Hinsicht von keiner Seite etwas Nachteiliges gehört habe. Es ist mir vielmehr von Seiten seiner Kursteilnehmer sein einwandfreies Verhalten versichert worden und ihm gute Kameradschaft bei allen sportlichen Veranstaltungen nachgerühmt worden. Sein sachliches und korrektes Auftreten tritt auch bei seinen Leistungen als Sportlehrer angenehm in Erscheinung.“[8]
Hieran wird deutlich, dass es bei der Arbeit der Gaudozentenführer darum ging, Erkundigungen über Personen einzuholen, sowohl bei Parteidienststellen als auch im Umfeld von Bewerbern. Meinungen, Bewertungen und Denunziationen.
Die wiedergegebene Stellungnahme von Edgar Irmscher fiel zum Vorteil von Eugen Zerbe aus. Später, 1937, beschwerte sich Zerbe darüber, vom Dozentenbundführer Irmscher „schwerstens beleidigt“ worden zu sein durch die Anfrage, „ob ich früher dem Reichsbanner angehört hätte“. Zerbe erklärte dazu: „Da Herr Prof. Irmscher sich weigerte, mir den Namen des Verleumders zu nennen, damit ich gerichtlich gegen ihn vorgehen könne, bleibt daher zur Zeit nichts anderes übrig, als Ihnen nochmals zu erklären, dass ich entsprechend meinem ganzen Lebensablauf niemals dem Reichsbanner oder einer seiner Organisationen angehört oder nahegestanden hätte. Ich muss diese unerhörte Verleumdung ausdrücklich als solche kennzeichnen und zurückweisen.“[9]
Gaudozentenführer Irmscher vermerkte dazu am 1.4.1939, er habe am 10.11.1937 „von einer Parteidienststelle die schriftliche Mitteilung“ bekommen, „das Dr. Z. vor der Machtübernahme dem Reichsbanner schwarz-rot-gold angehört haben soll. Da ich es in solchen Fällen für richtig halte, solche Fragen von Mann zu Mann in aller Offenheit zu besprechen, da auf diese Weise meistens am schnellsten eine Klarheit geschaffen wird, habe ich Dr. Z. persönlich die Frage vorgelegt, ob er dem Reichsbanner angehört habe. Seine Aussage, dass dieses nie der Fall gewesen sei, habe ich ohne weiteres Glauben geschenkt und mich selbstverständlich für verpflichtet gehalten, in diesem Sinne bei den betreffenden Stellen aufklärend zu wirken. Ich finde es unverständlich, dass sich Dr. Z. durch diese offene Frage eines Amtsträgers der Partei so schwer beleidigt fühlen kann, wie er es in seinem Schreiben an den Syndikus der Hansestadt Universität zum Ausdruck bringt. Vielmehr kann er nur dankbar sein, dass ich mich um die Aufklärung dieser Gerüchte bemüht habe.“[10]
Irmscher stellte weiter fest, dass er sich in der Frage der Parteimitgliedschaft von Zerbe an den NSDAP-Kreisleiter Gloy gewandt habe, der ihm mitteilte, Zerbe hätte keinen Aufnahmeantrag gestellt mit der Begründung, „er sei noch kein Beamter, im gegebenen Fall (falls er Beamter würde) wolle er seine Aufnahme-Antrag jedoch nachholen“. Daraufhin hätte Gloy erklärt, dass eine Befürwortung zur Beförderung seinerseits nicht erfolgen würde.[11]
So verliefen in diesen Zeiten Beförderungen, die die Betroffenen unter starken persönlichen Druck setzten. Eugen Zerbe musste am 15.5.1939 noch einmal erklären:
„Es ist richtig, dass ich im Mai 1937 mich nicht zur Aufnahme in die NSDAP gemeldet habe. Der einzige Grund hierfür war der, dass ich in dem Augenblick, in dem meine Ernennung zum Beamten im Gange war, nicht den Eindruck erwecken wollte, durch den Eintritt in die Partei meine Ernennung erreichen oder beeinflussen zu wollen. Mir lag daran, dass mein Eintritt in die Partei so erfolgte, dass von vornherein sichtbar war, dass ich diesen Schritt aus innerer Überzeugung tat. Damals befürchtete ich, dass, wenn ich in einer Zeit, in der meine Ernennung schwebte, mich zur Aufnahme in die Partei meldete, dies als Mittel zum Zweck missdeutet werden könnte. Mein damaliger Entschluss bedeutet mithin nicht, dass ich irgendwelche Zurückhaltung der Partei gegenüber hätte üben wollen.“[12]
Zu welcher Erniedrigung fühlten sich Personen in solchen Verfahren veranlasst.
Nach Ende der NS-Herrschaft, als Edgar Irmscher sich dem Entnazifizierungsverfahren stellen musste, wurden aus Hamburg noch ein paar Beispiele zusammengetragen, die seine Arbeit als Gaudozentenführer beleuchteten. So schrieb Prof. Günther Endres:
„Als junger Dozent in Hamburg hat mich Herr Prof. Irmscher meiner Erinnerung nach im Jahre 1938 zu einer Besprechung gebeten und mir auf dieser deutlich mitgeteilt, dass mein politischer Einsatz für die NSDAP sehr zu wünschen übrig ließ. Er möchte mir dringend nahelegen, entweder in die Partei einzutreten, oder in der SA bzw. SS Dienst zu tun. Hierin erblicken er und der Dozentenbund allein den Beweis für die richtige Einstellung, die die Voraussetzung für eine Förderung in der Hochschullaufbahn bilden würde. Durch die Unterhaltung hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Herr Prof. Irmscher sich sehr aktiv für die NSDAP einsetzte.“[13]
Eine ähnliche Erfahrung hatte Dr. Kurt Heyns gemacht:
„Nachdem die Fakultät meiner Habilitation nach Prüfung meiner wissenschaftlichen Befähigung grundsätzlich zugestimmt hatte, erfolgte ein Einspruch seitens der Gau-Dozentenführung mit dem Hinweis, dass ich keiner nationalsozialistischen Organisation angehören würde. Bei Rücksprache mit der Gau-Dozentenführung bemängelte Herr Prof. Irmscher als Vertreter des Gau-Dozentenführers dann insbesondere den fehlenden ‚aktiven Einsatz‘ für eine dieser Organisationen, und es bedurfte langwieriger Verhandlungen mit dem damaligen Gau-Dozentenführer, Herrn Prof. Anschütz, um meine Habilitation um fast ein Jahr verspätet überhaupt noch durchsetzen zu können.“[14]
Der Direktor des Hamburgischen Instituts für angewandte Botanik, Prof. Bredemann, stellte am 7.5.1948 fest:
„Irmscher muss m. E. nach seinem ganzen damaligen Auftreten als Aktivist bezeichnet werden. Auch sein Verhalten in den Fakultätssitzungen, die wohl noch in aller Erinnerung sind, zeigt das. Wir waren froh, als er nach Hohenheim ‚berufen’ wurde und uns verließ. Über die Vorgänge bei dieser ‚Berufung‘ müssten wohl die Akten Auskunft geben.
Einzelfälle vermag ich nicht mehr anzugeben. Ich erinnere mich nur, dass er sich bei Berufungen und Ernennungen sehr aktiv einschaltete. Auch in Angelegenheiten, die ihn als ‚Dozentenschaftsführer‘ gar nichts angingen. So zum Beispiel weiß ich, dass Arbeiter und technische Angestellte meines Instituts, die ich zur Pflichterfüllung ermahnen musste, sich an ihn wandten und von ihm für ihre ‚politischen Berichte‘ über diese gänzlich unpolitischen Vorkommnisse beraten wurden.“[15]
Der Rektor der Universität Hamburg, Rudolf Laun, teilte am 4.6.1948 mit:
„Nach den in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät vorhandenen schlechten Erinnerungen an Herrn Irmscher war er nicht nur als bekannter und überzeugter Nationalsozialist zum Gaudozentenführer ernannt worden, sondern führte auch die von München geforderten Maßnahmen mit Überzeugung durch, welche parteipolitische Dienstleistungen als Vorbedingung in der akademischen Laufbahn verlangten.“[16]
In Bereichen, in denen es um Konkurrenz geht und um die Besetzung von Stellen, wird sicherlich immer viel geredet. Aber hier ging es um eine andere Qualität, um politische Zuverlässigkeit und sicherlich auch darum, im Hintergrund Strippen zu ziehen.
Interessant ist, dass die offenbar tägliche Praxis Edgar Irmschers, zumindest in einem dokumentierten Verfahren, ihn einholte. So gibt es ein Schreiben des Rechtsrates der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin vom 6.4.1939, in dem dieser seinem Kollegen an der Universität Hamburg mitteilt, dass gegen den Berliner Prof. Kurt Noack ein Verfahren anhängig sei, weil dieser erzählt habe, dass „Professor Irmscher in Hamburg Schwierigkeiten mit der Partei gehabt hätte, weil er die Berufungsverhandlungen eines Professors dadurch gestört hätte, dass er über diesen haltlose und dessen Ansehen herabsetzende Bemerkungen gemacht hätte“.[17]
Es wurde in Hamburg und Berlin weiter über die Hintergründe dieser Angelegenheit geforscht, drei Biologieprofessoren beider Universitäten hatten miteinander korrespondiert und erst nach Rückkehr von Regierungsrat Bothe, der wegen einer Wehrmachtsübung über längere Zeit nicht im Dienst war, konnten dessen Nachforschungen kommuniziert werden. Es sei tatsächlich um eine „etwaige Berufung Prof. Irmschers als Ordinarius nach Berlin“ gegangen und darüber hätten einige Professoren miteinander gesprochen und dabei hätte Prof. Klatt eingeräumt, „dass bei einem guten Glase sicher mal vorgekommen sei, dass er mit Prof. Noack allgemeine Universitätsangelegenheiten besprochen habe. Auch über eine etwaige Berufung Prof. Irmschers als Ordinarius nach Berlin sei dabei wohl die Rede gewesen.“[18]
So wurden bei einem „guten Glase“ und schlechten Gerüchten Berufungen verhindert. In diesem Fall traf es den Gaudozentenführer Prof. Irmscher selbst, der auch intensive Praxiserfahrungen auf diesem Feld gehabt hatte.
Das Entnazifizierungsverfahren gestaltete sich für Edgar Irmscher nicht leicht. Zum einen kamen aus Hamburg die schon zitierten Stellungnahmen, zum anderen hatte er auch in Hohenheim nicht nur einen günstigen Eindruck hinterlassen. Immerhin war er während des Verfahrens an der Hochschule weiter als Laborant beschäftigt worden, bis er am 14.3.1946 auf Anordnung des Kultusministeriums entlassen wurde.[19]
In einer ausführlichen Stellungnahme vom 25.9.1946 ging Edgar Irmscher darauf ein, warum er schon zum 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten war. Er begründete das damit, dass er weiter seine internationalen Kontakte zu anderen Forschern aufrechterhalten wollte und erklärte:
„Dass der Krieg der größte Feind freundschaftlicher internationaler Beziehungen ist, hatte ich schon im Weltkrieg erfahren müssen. Ich vertraute aber der Regierungserklärung vom 21.3.1933, in der unter anderem gesagt wurde: ‚Der Welt gegenüber aber wollen wir, die Folgen des Krieges von einst ermessend, aufrichtige Freunde sein eines Friedens, der endlich die Wunden heilen soll, unter denen alle leiden.‘ Dass wir später so furchtbar enttäuscht werden würden, habe ich damals nicht für möglich gehalten.“[20]
Über seine Dozentenbundstätigkeit erklärte Irmscher, er sei von einer Anzahl Kollegen „trotz meines dauernden Sträuben monatelang bearbeitet worden“. Und: „Schon damals waren die unheilvollen Einflüsse der Partei auf das deutsche Kulturleben und damit auf die Hochschulen offenbar geworden und hatten schon begonnen, sich auszuwirken. Die Wahl war auf mich gefallen, weil man wusste, dass ich alles andere als ein sturer Nazi, vielmehr ein Gegner jeder Zwangsherrschaft war.“[21]
Irmscher zeichnete von sich das Bild eines Kämpfers für die alte Tradition der deutschen Hochschule und gegen die Gauleitung, „die den Dozentenbund lediglich zu einem Werkzeug ihres Willens zu machen trachtete“.[22] Er nannte Beispiele, wo er es durchgesetzt hätte, gegen die NSDAP-Gauleitung andere Personen zu berufen, wie zum Beispiel den Psychiater Prof. Dr. Hans Bürger-Prinz[23], auf eine Stelle, für die die oberste Dozentenführung und der NS-Ärztebund eine andere Person vorgesehen hatten. Der Höhepunkt sei gewesen, dass es ihm bei dem Rektorenwechsel 1938 nach langem Kampf gelungen wäre, gegen den NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann einen anderen Kandidaten durchzusetzen. Danach habe er „die Dozentenführung sofort niedergelegt“.[24]
Dies war nun alles von der Spruchkammer Stuttgart kaum nachzuprüfen. Der Psychiater Prof. Bürger-Prinz gehörte zu den unangenehmsten Nationalsozialisten. Während gerüchteweise Gauleiter Karl Kaufmann den Sportmediziner Prof. Wilhelm Knoll bei dem Rektorenwechsel 1938 favorisiert haben soll, eine sich nicht sonderlich von Bürger-Prinz unterscheidende Persönlichkeit, wie die Biografie Knoll in diesem Band belegt, hatte sich Edgar Irmscher offenbar für Prof. Wilhelm Gundert, einen Japanologen, stark gemacht, der dann auch durchgesetzt wurde und der ebenfalls Mitglied der NSDAP seit 1934 gewesen war.[25]
Auf Michael Grüttner geht die in seinem „Biografischen Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik“ gemachte Aussage zurück, dass Irmscher „nach Auseinandersetzung mit Gauleiter Kaufmann zum Rücktritt als Gaudozentenbundführer gezwungen“ worden sei.[26] Dieses wird von Edgar Irmscher selbst in seiner Stellungnahme nicht behauptet.
Auch bei einer Vernehmung auf dem Polizeirevier 19 in Stuttgart hatte Edgar Irmscher lediglich gesagt, er habe sich 1938 „von diesem Posten freigemacht“. Ein von dem NSDAP-Gauleiter in Hamburg „erzwungener Rücktritt“ hätte sich in seinem Entnazifizierungsverfahren sicherlich positiv ausgenommen, wurde von Irmscher aber selbst nicht behauptet.[27]
Die schon zitierten Aussagen von Hamburger Wissenschaftlern, die mit dem Gaudozentenbundführer Irmscher Erfahrungen gemacht hatten, waren im Entnazifizierungsverfahren sicherlich nicht günstig. Irmscher hatte Unterstützer organisiert, die Leumundszeugnisse abgaben, die aus meiner Sicht keine große Relevanz gehabt haben dürften. So etwa von dem Sinologen Prof. Fritz Jäger, der Vorgänger von Irmscher als Leiter der Hamburger Dozentenschaft gewesen war, ebenfalls Mitglied der NSDAP seit 1933[28], was aus seinem Schreiben für den Entnazifizierungsausschuss in Baden-Württemberg allerdings nicht hervorging. Oder von dem von Irmscher unterstützten Prof. Bürger-Prinz, der zu jenem Zeitpunkt selbst noch um seine Entnazifizierung kämpfen musste. Oder das Schreiben der Witwe eines Hamburger NSLB-Aktivisten, August Schrader, der in Hamburg in vehementen Auseinandersetzungen mit anderen Nationalsozialisten gestanden hatte und im NSLB mit Irmscher als Fachschaftsleiter ein gutes Verhältnis pflegte.[29] Auch das war kein befreiender Leumund.
Wissenschaftlich entlastend war vielleicht die gutachterliche Äußerung von Prof. Wilhelm Ruhland aus Leipzig, der sich als Nazigegner bezeichnete und testierte, „dass Prof. Irmscher als Botaniker einer der wenigen vom Ausland anerkannten deutschen Systematiker“ sei.[30]
Der Direktor des volkswirtschaftlichen Instituts der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim, Prof. Ellinghaus, berichtete am 10.12.1946 an das Rektoramt der Hochschule über Vorgänge in der NS-Zeit:
„Die Führung der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass man Hohenheim zu einer nationalsozialistischen Musteranstalt, ohne Rücksicht auf wissenschaftliches Ansehen und wissenschaftliche Geltung, machen wollte. Die Gruppenbildung in Hohenheim hatte einen so ausgeprägten politischen Charakter, wie das wohl kaum an irgend einer anderen deutschen Hochschule der Fall gewesen sein dürfte. Die sogenannten ‚alten Kämpfer‘ schlossen sich gegenüber den Nicht-Parteigenossen und den als weniger zuverlässig angesehenen neuen Nationalsozialisten, den jetzigen ‚Mitläufern‘, streng ab. Ein gesellschaftlicher Verkehr wurde nicht gepflogen.
Prof. Irmscher wurde im Mai 1942 bei der Aufstellung einer zweiten Berufungsliste von dem Berufungsausschuss unter Vorsitz von Herrn Prof. Lowig und den Beisitzern Prof. Jung und Prof. Maiwald auf eine Empfehlung des Reichsdozentenführers und eines medizinischen Kollegen an die erste Stelle gesetzt. In der vorhergehenden Bewerberliste, in der die bekanntesten 38 Professoren der Botanik enthalten waren, erschien der Name Irmscher nicht. Durch die Berufung und die Ernennung von Prof. Irmscher wurden die übrigen Senatsmitglieder völlig überrascht. Das war natürlich nur möglich infolge der verfassungswidrigen Amtsführung des Rektors Zimmermann, der von 1941 bis 1945 keine Senatssitzung abgehalten hat. Dass Prof. Irmscher als Systematiker einen guten Ruf genießt, ist von den Fachvertretern immer anerkannt worden. Mir scheint aber nicht, dass er bei sorgfältiger Abwägung aller Momente besser qualifiziert war als seine damaligen Mitbewerber.“[31]
Bei weiteren Zeugenbefragungen, stellte sich heraus, dass Irmscher auch in Stuttgart stellvertretender Dozentenbundführer gewesen war und von anderen Wissenschaftlern als Mann des Sicherheitsdienstes (SD) verdächtigt wurde.[32]
In der Klageschrift vor der Spruchkammer Stuttgart vom 28.9.1946 wurde Edgar Irmscher wegen seiner frühen Mitgliedschaft in der NSDAP seit dem 1.5.1933 und seiner Tätigkeit als Amtsträger des NS-Dozentenbundes als so belastet angesehen, dass er in die Kategorie II eingeordnet wurde.[33]
Die Spruchkammer, die alle Vorhaltungen geprüft und die Leumundszeugnisse ausgewertet, sowie Zeugen aus Hohenheim vernommen hatte, kam zu einem günstigeren Ergebnis. Dabei haben besonders die Hamburger „Persilscheine“ eine positive Rolle gespielt, wobei dem Gericht aus meiner Sicht nicht klar war, dass die Personen die sich für Prof. Irmscher einsetzten, selbst belastete Nationalsozialisten gewesen waren. Auf der anderen Seite wurde der Vorwurf geprüft, ob Irmscher für den Sicherheitsdienst gearbeitet hatte. Dies konnte letztendlich nicht geklärt werden. Am Ende kam die Spruchkammer zu dem Ergebnis, Irmscher als „Mitläufer“ anzusehen und ihm „einen einmaligen Sühne-Beitrag zu einem Wiedergutmachungsfonds in Höhe von 600 Reichsmark aufzuerlegen“.[34]
Der Rektor der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim nahm am 17.12.1947 Stellung zu dem rechtskräftigen Entscheid der Spruchkammer in einem Schreiben an das Kultusministerium in Stuttgart, aus meiner Sicht mit einer nachvollziehbaren deutlichen Kritik. So schrieb er unter anderem:
„Die Hochschule kann nicht umhin, zur Begründung des Spruches in dreifacher Hinsicht offiziell Stellung zu nehmen. Zunächst stellt sie fest, dass die Hohenheimer Zeit und Tätigkeit des Betroffenen überhaupt nicht berührt ist, obgleich er doch immerhin vom Frühjahr 1943 an stellv. Dozentenführer und Dozentenschaftsleiter an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim war. Auch Zeugen von Hohenheim wurden, mit Ausnahme von Herrn Prof. Münzinger nicht gehört. Mit Recht legt Prof. Münzinger gegen die unsachlichen und unberechtigten Angriffe der Spruchkammer schärfste Verwahrung ein. Rektor und Senat unterstreichen sie nachdrücklich und bitten das Kultusministerium, sie sowohl an das Befreiungsministerium, als auch an die Zentralgeschäftsstelle der Stuttgarter Spruchkammer weiterzugeben.
Endlich stellt die Kammer in ihrer Begründung des Spruches fest, es habe sich aus den seitherigen Spruchkammerverhandlungen ergeben, dass sich an der Hochschule Hohenheim unter den Professoren einige Cliquen gebildet hätten, die sich gegenseitig bekämpften. Es hat in Hohenheim nie Cliquen gegeben unter den Professoren. Sie haben sich auch nie bekämpft, weder früher noch heute. Es hat im 3. Reich zwei Gruppen gegeben, die ‚alten Kämpfer‘ einerseits und die Nichtparteigenossen mit den suspekten neuen Parteigenossen andererseits. Auch sie haben sich nicht bekämpft, sondern gegenseitig völlig abgeschlossen.
Im Übrigen ist die Hochschule verwundert darüber, dass die Kammer den Betroffenen, obwohl sie ihn dreimal ausdrücklich als Belasteten im Sinne des Art. 10 des Gesetzes 104 bezeichnet – da er immer wieder in den Akten der Hochschule als Gaudozentenführer bezeichnet ist, müsste er sogar als Hauptschuldiger im Sinne des Art. 6 des Gesetzes angesprochen werden – am Ende eigentlich völlig entlastet und in allen Fällen, die dem Betroffenen zum Nachteil gereichen müssten, entweder Unbeachtlichkeit oder aber die Unmöglichkeit behauptet, ein eindeutiges Ergebnis zu bekommen.
Die Hochschule missgönnt es niemand, auch Herrn Prof. Irmscher nicht, wenn er endgültig in die Mitläufergruppe eingereiht werden kann. Im Hinblick auf eine Reihe von Professoren und Beamten der Hochschule aber, die schon formal viel geringer belastet und weit weniger in Erscheinung getreten sind, als Dr. Irmscher, und doch in die Gruppe III eingestuft wurden, wird es ihr schwer, zu glauben, dass Letzterer nur den Tatbestand des Art. 12 des Gesetzes 104 erfüllt hat.“[35]
Hier zeigten sich die Schwierigkeiten und die Unberechenbarkeit der Entnazifizierungsverfahren.
Das Ministerium für politische Befreiung Württemberg-Baden hob den rechtskräftigen Spruch der Kammer vom 26.9.1947 auf. Das Ministerium erklärte, es sei notwendig, „nähere Ermittlungen bei der Universität Hamburg über die Gaudozentenführertätigkeit“ von Edgar Irmscher einzuholen und „zu prüfen, ob er nicht in den Kreis der Hauptschuldigen fällt“. Auch die Tätigkeit von Irmscher als stellvertretender Dozentenführer und Dozentenschaftsleiter in Hohenheim sei im Spruch der Kammer „ungenügend gewürdigt“. Das Ministerium stellte ebenfalls die Frage, ob Edgar Irmscher „seine Berufung an die Landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim und die alsbaldige Ernennung zum Prorektor dieser Hochschule politischen Beziehungen verdankte“.[36]
Berechtigte Fragen, aber in der Entnazifizierungsakte, die ich im Staatsarchiv Ludwigsburg eingesehen habe, keine weiteren Antworten.
Laut Wikipedia wurde Edgar Irmscher an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim weiter beschäftigt und soll dort bis 1959 gelehrt haben.[37] Das kann man sich nach den Äußerungen des Rektorats der Hochschule und des Ministeriums für politische Befreiung Württemberg-Baden aus den Jahren 1947 und 1948 kaum vorstellen.
Edgar Irmscher starb am 3.5.1968 in Sternenfels.[38]
Text: Hans-Peter de Lorent

Quelle:
1 Hochschulakte der Universität Hamburg von Edgar Irmscher, StA HH, 361-6_IV 0443
2 Biografischer Bogen in seiner Hamburger Personalakte, a. a. O.
3 Entnazifizierungsakte von Prof. Edgar Irmscher, Landesarchiv Baden- Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 902/20_Bü 75159
4 Schreiben von Edgar Irmscher vom 15.6.1939 und Antwort vom Reichsministerium vom 19.9.1939, Personalakte a. a. O.
5 Personalakte a. a. O.
6 Siehe Entnazifizierungsakte Irmscher, a. a. O.; Michael Grüttner: Biografisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2000, S. 81 f.; Hamburgisches Lehramt-Verzeichnis, Schuljahr 1938/1939, herausgegeben vom NS-Lehrerbund, S. 203.
7 Siehe: Anne Christine Nagel: „Er ist der Schrecken überhaupt der Hochschule.“ Der Nationalsozialistische Deutsche Dozentenbund in der Wissenschaftspolitik des Dritten Reiches, in: Joachim Scholtyseck, Christoph Studt (Hrsg.), Berlin 2008, S. 115 ff.
8 Schreiben vom 27.1.1938, Personalakte Eugen Zerbe, StA HH, 361-6_IV 1518; siehe auch die Biografie Zerbe in diesem Band.
9 Schreiben von Eugen Zerbe an den Syndikus der Hansischen Universität vom 19.10.1938, Personalakte Zerbe, a. a. O.
10 Schreiben vom 1.4.1939, Personalakte Zerbe, a. a. O.
11 So Walter Gloy in einem Schreiben an Irmscher, Abschrift des Schreibens Personalakte Zerbe, a. a. O.
12 Schreiben von Eugen Zerbe vom 15.5.1939, Personalakte Zerbe a. a. O.
13 Schreiben vom 28.5.1948, StA HH, 113-5_B V 92 d UA 55
14 Schreiben vom 25.5.1948, ebd.
15 Schreiben vom 7.5.1948, ebd.
16 Schreiben vom 4.6.1948, ebd.
17 Schreiben vom 6.4.1939, ebd.
18 Auszug aus einem Brief von Regierungsrat Bothe andere Regierungsrat Dr. Ipsen vom 13.11.1939, ebd.
19 Entnazifizierungsakte Irmscher a. a. O.
20 Erklärung an die Spruchkammer Stuttgart vom 25.9.1940, Entnazifizierungsakte a. a. O.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Siehe: Ernst Klee: das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Koblenz 2013, S. 83. Danach war Bürger-Prinz als Mitglied der NSDAP und der SA seit 1933 und aufgrund seiner Tätigkeiten schwer belastet.
24 Erklärung der Spruchkammer Stuttgart vom 25.9.1940, Entnazifizierungsakte a. a. O.
25 Grüttner 2000, S. 67. Siehe die Biografien Hans Bürger-Prinz und Wilhelm Knoll in diesem Band.
26 Ebd., S. 82.
27 Entnazifizierungsakte a. a. O.
28 Grüttner 2000, S. 82.
29 Entnazifizierungsakte a. a. O.
30 Gutachterliche Äußerung vom 9.10.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
31 Stellungnahme von Prof. Ellinghaus vom 10.12.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
32 Entnazifizierungsakte a. a. O.
33 Klageschrift vom 28.9.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
34 Spruchkammer Entscheid vom 26.9.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
35 Schreiben des Rektors Prof. Dr. Rüdiger an das Kultusministerium vom 17.12.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
36 Anordnung des Ministeriums für politische Befreiung Württemberg-Baden vom 25.2.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
37 https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Irmscher
38 https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Irmscher
 

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muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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