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Harburg/Wilhelmsburg

Stadtteile Harburg und Wilhelmsburg in der NS-Zeit

Eine preußische Großstadt entsteht
Als sich die preußischen Industriestädte Harburg und Wilhelmsburg 1927 zur Großstadt Harburg-Wilhelmsburg zusammenschlossen, zählte die Doppelstadt ca. 111.000 Einwohner.[1] Dieser Fusion vorausgegangen war eine rasante – etwas zeitversetzte – Industrialisierung der beiden Orte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie ging in Harburg mit dem Ausbau des Hafens und der Eröffnung der Eisenbahnverbindung von Hannover an die Elbe im Mai 1847 und in Wilhelmsburg, das bis dahin eine rein landwirtschaftliche Elbinsel war, mit der Errichtung der „Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei“ am Reiherstieg 1889 einher.[2] Das Jahr 1856 galt für Harburg als das „Explosionsjahr der Industrie“. Viele zum Teil noch heute existierende Betriebe wurden in diesem Jahr oder kurze Zeit später errichtet. Grund für die Attraktivität war, dass sowohl das Königreich Hannover, zu dem Harburg damals zählte, wie auch Preußen dem Zollverein angehörten, Hamburg jedoch nicht. Unternehmer, die in Hamburg und Umgebung investieren wollten, wichen daher gern nach Harburg aus. So erwarben die Franzosen Albert und Louis Cohen die Lizenz, 1856 in Harburg eine „Fabrik zur Herstellung von Gummischuhen und vulkanisiertem Gummi“ zu betreiben.[3] Daraus wurden später die Phoenix-Gummiwerke. Parallel zu der ständig wachsenden Zahl von Betriebsansiedlungen stieg die Bevölkerungszahl durch Arbeitsmigration in beiden Gemeinden in atemberaubendem Tempo, in Harburg von ca. 5.000 Menschen im Jahre 1850 auf ca. 78.000 im Jahre 1927 und in Wilhelmsburg von ca. 5.000 Menschen im Jahre 1885 auf ca. 33.000 im Jahre der Vereinigung der beiden Städte. Harburg wuchs allerdings nicht nur durch Einwanderung, sondern auch durch Eingemeindungen. Bis 1910 kamen Wilstorf, Heimfeld, die Hafen- und Schlossgemeinde, Lauenbruch und Eißendorf zum Stadtgebiet.[4]

Als Oberbürgermeister dieser neuen Stadt amtierte von 1927 bis 1933 der Sozialdemokrat Walter Dudek, der vorher bereits die Geschicke der Stadt Harburg geleitet und die Fusion mit allem Nachdruck betrieben hatte. Die SPD stellte mit 23 von insgesamt 49 Sitzen zwar die stärkste Fraktion im Bürgervorsteherkollegium (Stadtparlament),[5] war bei parlamentarischen Abstimmungen aber auf die Unterstützung durch eine oder mehrere der fünf kleinen Fraktionen angewiesen. Die zweitstärkste Fraktion bildete mit neun Sitzen die KPD. Doch die Arbeiterbewegung war auch in Harburg-Wilhelmsburg gespalten. Die beiden Arbeiterparteien verfolgten unterschiedliche politische Strategien. Daran änderte sich auch nichts, als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) immer stärker wurde.

Harburg-Wilhelmsburg zählte zu den größten Industriestädten des Deutschen Reiches. Von den ca. 111.000 Einwohnern (1927) waren 26.000 als Arbeiter in ca. 100 Großbetrieben beschäftigt. Die damals jüngste Großstadt des Deutschen Reiches war als Industriestandort bedeutender als Breslau, Königsberg, Kassel und Halle a. d. Saale.[6]

Die Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre traf die neue Industriestadt besonders hart. Im Juni 1932 erreichte sie hier mit einer Zahl von 19.000 Erwerbslosen gegenüber 3.000 im Jahre 1928 ihren Höhepunkt. Im Januar 1933 mussten fast 50% der Arbeitslosen von kommunaler Wohlfahrtsunterstützung leben, nachdem sie als Langzeitarbeitslose aus der Versicherung „ausgesteuert“ worden waren (d. h. keine Unterstützung mehr erhielten). Mitte 1933 stand Harburg-Wilhelmsburg unter den deutschen Großstädten an zweiter Stelle in der Erwerbslosenzahl,[7] 1934 hatte die Stadt sogar „prozentual die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland“.[8]

Die NSDAP profitierte am meisten von dieser Krise in Harburg-Wilhelmsburg, was kaum vorhersehbar gewesen war, nachdem die Partei bei der Reichstagswahl im Mai 1928 gerade einmal 788 Stimmen (1,2%) in dieser Arbeiterhochburg erzielt hatte. Bei den nächsten Reichstagswahlen kam es nicht nur auf Reichsebene zu dramatischen Veränderungen. Im September 1930 erhöhte die Harburg-Wilhelmsburger NSDAP ihren Stimmenanteil auf 12,5% (=8.814 Stimmen) und im Juli 1932 auf 29,4% (=20.727 Stimmen, der Reichsdurchschnitt lag bei 37,4%). Dabei kam ihr eine deutlich höhere Wahlbeteiligung insbesondere unter den Jungwählerinnen und Jungwählern wie auch hohe Stimmenverluste der DDP (Deutsche Demokratische Partei) (–4,5%) und der DVP (Deutsche Volkspartei) (–2,5%) zugute. Doch auch der Stimmenanteil der SPD war rückläufig (–8%), während die KPD leicht zulegen konnte (+2%). Die Analyse der Wahlergebnisse zeigt, dass der NSDAP in der traditionellen Arbeiterhochburg der Einbruch in die bürgerlichen Bevölkerungsschichten der Stadt gelungen war. Diese „Verbürgerlichung“ der Partei spiegelte sich in Harburg-Wilhelmsburg nicht nur auf der Ebene der Wählerschaft, sondern auch in der Struktur ihrer Mitglieder. In der Parteiführung dominierten Vertreter des selbständigen Mittelstandes und der Angestelltenschaft. Im August 1930 wurde der Harburger Kaffee- und Tabakwarengroßhändler Wilhelm Koppe (Jg. 1896) Mitglied der NSDAP. Er avancierte im März 1932 zum Führer der Harburger 17. SS-Standarte. Im Herbst 1939 wurde er zum Höheren Polizei- und SS-Führer für den von Polen annektierten „Warthegau“ ernannt, wo er 1941 das Vernichtungslager Chełmno errichtete. Auch im Harburg-Wilhelmsburger Besitz- und Bildungsbürgertum gab es Umorientierungen. Am 1. August 1931 trat Wilhelm Wetzel (Jg. 1902), Regierungsrat im Harburger Finanzamt, in die NSDAP ein, in der er schnell Karriere machte: Im Frühjahr 1933 wurde er Vorsitzender der Harburg-Wilhelmsburger Rathausfraktion, dann besoldeter Senator und 1936 schließlich Oberbürgermeister in Lüneburg.[9]

Die bürgerlichen „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ passten sich dieser politischen Entwicklung an. Hatten sie bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 noch Hindenburg (und nicht Hitler) unterstützt, so kommentierten sie vier Monate später den Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen mit den Worten: „Das Wahlergebnis bestätigt also klipp und klar, dass der Zeitpunkt gekommen ist, in dem das deutsche Volk sich von den parlamentarischen Wahnvorstellungen, an denen es krankte, frei machen muss und frei machen wird.“[10]

Unmittelbar nach dem großen Wahlerfolg der NSDAP im Wahlkreis Ost-Hannover im Juli 1932 (49,5%) und speziell im Landkreis Harburg (53,2%) verlegte NSDAP-Gauleiter Otto Telschow (Jg. 1876), ein ehemaliger Beamter der Hamburger Polizei, seinen Sitz von Buchholz in das Bahnhofshotel in der Moorstraße in Harburg.[11] Der Gau Ost-Hannover umfasste die Region zwischen Elbe, Weser, Mittellandkanal und der Ostgrenze der preußischen Provinz Hannover.

Obwohl die NSDAP dem Namen nach eine Arbeiterpartei war, ließ sich die Arbeiterschaft in Harburg-Wilhelmsburg von ihren Parolen und Versprechungen nicht besonders beeindrucken. Die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD konnten bei den Reichstagswahlen im Juli und im November 1932 ihren Stimmenanteil im roten Harburg-Wilhelmsburg (ca. 58%) weitgehend halten. Die SPD erwies sich in allen Wahlen als stärkste Partei. Ihr Stimmenanteil sank leicht von 39% auf 35%, während der Stimmenanteil der KPD im gleichen Zeitraum von 19% auf 23% leicht zunahm.[12]

Wie im übrigen Reich und im benachbarten Hamburg blieb das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Kommunisten auch in Harburg-Wilhelmsburg in der Endphase der Weimarer Republik weiterhin distanziert.[13] Wenn es zu vorsichtigen Annäherungsversuchen kam, dann scheiterten sie am gegenseitigen Misstrauen. Dass nicht alle Sozialdemokraten in diesem Denken verharrten, zeigt die Enttäuschung des jungen Sozialdemokraten Hermann Westphal über die passive Haltung der SPD-Führung, nachdem Reichspräsident von Hindenburg am 20. Juli 1932 den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun abgesetzt hatte. Westphal engagierte sich in der SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend), nach dem Zweiten Weltkrieg amtierte er von 1961 bis 1977 als Ortsamtsleiter in Hamburg-Wilhelmsburg. Rücklickend erinnert er sich an die Nacht, die diesem Sturz der preußischen Regierung folgte: „Wir Reichsbannerleute waren bereits am Tage alarmiert worden und befanden uns in unseren Alarmlokalen. Wir hatten zu Hause unsere Waffen aus dem Versteck geholt. Unsere Pistolen steckten wir ein, denn wir waren der festen Überzeugung: Heute Nacht geht es los. … Wir rechneten mindestens mit der Ausrufung des Generalstreiks. Etwa gegen drei Uhr nachts trat der Harburger Reichsbannerführer mit blassem Gesicht in unseren Raum, in dem sofort eine Totenstille herrschte. Er sagte: ‚Die für heute Nacht eingeteilten Wachen bleiben auf ihrem Posten, die anderen gehen sofort nach Hause. Es passiert nichts mehr. Hamburg hat alles abgeblasen.‘ Wir waren sprachlos. Mein Bruder fasste mich am Arm und sagte nur: ‚Komm.‘ Unterwegs sprachen wir kein Wort. Unsere Eltern warteten bereits auf uns, sie wussten schon Bescheid. ‚Nun marsch ins Bett‘, sagte meine Mutter. So kannten wir sie gar nicht. Die kampflose Räumung ihrer Ministersessel in Preußen war für die SPD ein Schlag, von dem sie sich nicht wieder erholen sollte. Auf der Straße wurden wir besonders von kommunistischen Funktionären in Diskussionen verwickelt, aber wir waren so beschämt, dass wir kaum antworteten.“[14] In der „Norddeutschen Zeitung“ zeigten die Kommunisten kein Ver­ständnis für dieses Zurückweichen der SPD-Führung. „Nur wenn der Hauptschlag gegen die Sozialdemokratie, diese Haupt­stütze der Bourgeoisie, gerichtet wird, kann man den Hauptklassenfeind des Proletariats, die Bourgeoisie, mit Erfolg schlagen und zerschlagen.“[15] Auf dieser Basis gelang es nicht, eine gemeinsame politische Antwort auf die Bedrohung zu entwickeln.

Der Weg in die Diktatur
Auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 reagierten die Einwohnerinnen und Einwohner der preußischen Stadt am Südufer der Elbe unterschiedlich. Die Harburger Handwerkskammer begrüßte die neue nationale Regierung mit den Worten, das Handwerk sei „fest überzeugt, dass Tatkraft und Wille der neuen Führung mit Unterstützung aller arbeitswilligen Kräfte sehr bald einen schrittweisen Wiederaufbau des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens herbeiführen werden. Das Handwerk ist vorbehaltlos bereit, an dieser hoffnungsvollen Entwicklung tätigen Anteil zu nehmen.“[16] In der protestantischen Gemeinde der Emmauskirche im Reiherstiegviertel herrschte Erleichterung und Hoffnung, dass nun eine „mit Autorität ausgestattete Regierung“ dem „Wirrwarr der Parteien“ ein Ende bereiten werde.[17] Pastor Georg Friedrich Bergholter (Jg. 1883) von der Harburger St. Johannis-Kirche bezeichnete den neuen Reichskanzler bei einem Festakt in der vollbesetzten Harburger Stadthalle am 20. April 1933 aus Anlass seines Geburtstags gar als ein Geschenk des Himmels.[18] Allerdings hatten die Harburger Pastoren am 4. März 1933 noch die Bitte der Harburger NSDAP abgelehnt, am Abend vor den Reichstagswahlen auch in Harburg wie in vielen anderen Orten im protestantischen Norden Deutschlands die Kirchenglocken läuten zu lassen.[19]

Doch in weiten Kreisen der Harburg-Wilhelmsburger Bevölkerung, vor allem der Arbeiterschaft, herrschten auch weiterhin Skepsis und Ablehnung gegenüber den Nationalsozialisten.[20] Die Sozialdemokraten verhielten sich abwartend und hofften, dass Hitler bald abgewirtschaftet haben würde, während die Kommunisten wie in vielen anderen Orten verstärkt Widerstandsgruppen organisierten. Zu einer eindrucksvollen Kundgebung gegen den Nationalsozialismus geriet die Beerdigung des Harburger Schlossers Martin Leuschel. Das KPD-Mitglied wurde in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1933 von zwei SA-Männern beim Verlassen der Gaststätte „Stadt Hannover“ im Großen Schippsee in Harburg erschossen. Hermann Westphal war Augenzeuge der Trauerfeier für Martin Leuschel in der Gaststätte „Wolkenhauer“ (später „ Eichenhöhe “) am Kirchenhang in Harburg und berichtet: „Das Lokal war bei der schlichten Trauerfeier restlos überfüllt. Als sich der Trauerzug in Bewegung setzte, folgten ihm die Fahnen der KPD und ihrer Organisationen sowie der SPD, des Reichsbanners, der Gewerkschaften und der ,Eisernen Front‘. 20.000 Menschen gaben dem Sarg durch Harburg das Geleit. Tausende standen in den Straßen Spalier. Es war die größte Trauerfeier, die Harburg in seiner Geschichte erlebt hat. Am Kanalplatz löste sich der Zug auf, und der Leichenwagen setzte sich in Richtung Ohlsdorf in Bewegung. In Wilhelmsburg standen ebenfalls Tausende von Menschen zwischen der Mannesallee und dem Vogelhüttendeich entlang der Georg-Wilhelm-Straße , als der Wagen die Straße passierte.“[21]

Am 13. Februar 1933 wurde auf Befehl des preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring (NSDAP) der Harburger Polizeipräsident Erich Danehl (SPD) seines Amtes enthoben und durch den deutschnationalen Korvettenkapitän Carl Chris­tiansen ersetzt, der am 1. April in die NSDAP eintrat. Am 28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, wurde das „Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg und Umgebung“ verboten, eine SPD-nahe Zeitung mit einer Auflage von 15000 Exemplaren.[22]

Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 lagen die beiden Arbeiterparteien SPD (30,7%) und KPD (20,4%) in Harburg-Wilhelmsburg wieder vor der NSDAP (34,1%), die ihr Wahlergebnis gegenüber der letzten Reichstagswahl zwar um fast 10% verbessern konnte, aber mit ihrem Stimmenanteil in Harburg-Wilhelmsburg weiterhin deutlich unter dem Reichsdurchschnitt (43,9%) blieb.

Die eigentliche Phase der so genannten Machtergreifung der NSDAP begann in Harburg am 11. März 1933, einem Sonnabend, als um die Mittagszeit SA und SS das Harburger Rathaus besetzten und Oberbürgermeister Walter Dudek mit bewaffneter Gewalt abführten. Trotz dieser Machtdemonstration erzielten die Nationalsozialisten bei den Kommunalwahlen am 12. März in Harburg-Wilhelmsbug keine absolute Mehrheit. Das neue Bürgervorsteherkollegium (Stadtparlament) setzte sich aus 18 Nationalsozialisten, 16 Sozialdemokraten, acht Kommunisten, zwei Abgeordneten des Zentrums und fünf Vertretern einer „Bürgerlichen Einheitsliste“ zusammen. Zu den großen Verlierern dieser Kommunalwahl zählten die bürgerlichen Parteien. Als Nachfolger des beurlaubten Oberbürgermeisters Walter Dudek wurde vorübergehend als kommissarischer Oberbürgermeister der bürgerliche Politiker Edzard Dyes und im Juni 1933 der nationalso­zialistische Regierungsrat Ludwig Bartels aus Lüneburg eingesetzt. Ebenso wie der Polizeipräsident Carl Christiansen stand er für einen bürgerlich-nationalen Kurs des Gauleiters beim Umbau der kommunalen Verwaltung, der darauf zielte, auch das Harburg-Wilhelmsburger Großbürgertum für die Politik der Nationalsozialisten zu gewinnen.[23]

Ein weiterer Beweis dieser Personalpolitik war die Berufung des 1. Syndikus der Harburger Handelskammer, Rudolf Rühle, zum Gauwirtschaftsberater und des Direktors der Wilhelmsburger Wollkämmerei, Carl Kröger, zum Ratsherrn. Der Direktor der Wilhelmsburger Industriebahn, Wilhelm Thielcke, der gute Kontakte zur Industrie hatte, avancierte zu einem von sechs Stadträten.[24] Beamte und Angestellte, die Mitglieder der SPD oder der KPD waren, wurden andererseits ebenso aus dem öffentlichen Dienst entfernt wie Jüdinnen und Juden.[25]

Der internationale Kampftag der Arbeiterbewegung wurde am 1. Mai 1933 auch in Harburg-Wilhelmsburg zum „Nationalen Feiertag der Deutschen Arbeit“ umfunktioniert. In den Betrieben hatten Belegschaft und Geschäftsleitung am Mor­gen geschlossen zum Hissen der Hakenkreuzfahne anzutreten. In Harburg trafen sich die einzelnen Demonstrationszüge auf dem Hermann-Göring-Platz ( Schwarzenberg ). Als Festredner sprachen Polizeipräsident Carl Christiansen und der damalige Harburger Kreisleiter der NSDAP George Ebrecht. Am 2. Mai 1933 musste auch die Harburger Gewerkschaftsführung feststellen, dass die verlogenen Maifeierlichkeiten des Vortages nur der Auftakt zur Auflösung der deutschen Gewerkschaften waren. In den Morgenstunden besetzte die SA das Volksblattgebäude am Großen Schippsee, wo auch die Freien Gewerkschaften untergebracht waren, und beschlagnahmte die Gewerkschaftskasse. Anschließend bezog die Gauleitung der DAF ( Deutsche Arbeitsfront), die nationalsozialistische Zwangsvereinigung von Arbeitern und Unternehmern, das Gebäude.[26] Offene Opposition wurde durch das Verbot aller Parteien außer der NSDAP und die brutale Verfolgung ihrer Gegner bald darauf restlos im Keim erstickt. Nachdem die Strukturen der KPD bereits nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar zerschlagen worden waren, folgten das offizielle Verbot der SPD am 22. Juni und die Auflösung aller anderen politischen Parteien zwischen dem 27. Juni und dem 5. Juli.[27]

Bald nach dem Machtantritt Hitlers wurde in Preußen, später auch in den anderen Ländern die Gestapo aufgebaut. Am 26. April 1933 entstand in Berlin das „Geheime Staatspolizeiamt“. Ihm unterstanden die Staatspolizeistellen in den großen Städten Preußens. Chef der Staatspolizeistelle Harburg-Wilhelmsburg wurde Jürgen Freiherr zu Diepenbroick-Grüter. Sie war für den gesamten Regierungsbezirk Lüneburg zuständig.

Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand waren auch in Harburg-Wilhelmsburg schon zahlreiche Funktionäre der Arbeiterbewegung verhaftet worden.[28] Angesichts der wachsenden Verfolgung, der sich Sozialdemokraten und Kommunisten bald ausgesetzt sahen, war eine Fortsetzung der politischen Arbeit nur noch in der Illegalität möglich, was die SPD-Führung anfangs allerdings noch nicht recht wahrhaben wollte. Im Herbst 1933 gelang es Hans Sander, in Harburg-Wilhelmsburg eine illegale Gruppe der SPD aufzubauen. Sie umfasste bis zu 40 Personen, die in unregelmäßigen Abständen Flugblätter und ausländische Zeitungsartikel, getarnt als harmlose Broschüren, druckte und verteilte. Im Frühjahr 1935 wurde die Gruppe von der Gestapo aufgerollt und einige ihrer Mitglieder vor Gericht gestellt. Hans Sander selbst wurde zu zwei Jahren Zuchthaus in Wolfenbüttel verurteilt.[29]

Die Kommunisten hatten sich in Harburg-Wilhelmsburg schon vor 1933 auf die Illegalität vorbereitet. In einer Leihbücherei in der Winsener Straße in Harburg druckten sie illegale Ausgaben der „Norddeutschen Zeitung“ in einer Auflage von 500 bis 1.000 Exemplaren und diverse Flugblätter, die sie dann an vertraute Personen in der Stadt und im Landkreis verkauften oder verteilten. Zwei Verhaftungswellen im Sommer 1933 und 1934 und ihre gerichtlichen Folgen (die Lüneburger bzw. Harburger „Hochverratsprozesse“) schwächten die illegale Tätigkeit der Kommunisten und waren für viele Betroffene mit hohen Haftstrafen und persönlichem Leid verbunden.[30]

Als die illegale Arbeit der KPD im Oktober 1935 neu ausgerichtet wurde, bildete sich auch in Harburg-Wilhelmsburg wieder eine Unterbezirksleitung unter Felix Plewa. Sie wurde von der KPD-„Abschnittsleitung Nord“ (ALN) angeleitet, deren Sitz sich aus Sicherheitsgründen in Kopenhagen befand. Dort wurde auch die neue Parteizeitung „Norddeutsche Tribüne“ gedruckt, die Kuriere zu den einzelnen Anlaufstellen brachten.[31] In Harburg-Wilhelmsburg konnte Karl Nieter für diese Aufgabe gewonnen werden. Nach der Besetzung Dänemarks im April 1940 nahm die Gestapo viele Mitglieder der früheren Abschnittsleitung Nord fest. Die Verhaftungswelle griff auf die Kontaktleute in Norddeutschland über. Unter den Verhaf­teten waren mindestens acht Harburgerinnen und Harburger. Felix Plewa und Karl Nieter wurden zum Tode verurteilt und 1942 bzw. 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Robert Homeyer kam 1942 im KZ Dachau ums Leben. Heinrich Coors wurde nach der Haft ins KZ Neuengamme eingeliefert und ertrank am 3. Mai 1945 auf der „Thielbeck“, einem der in der Lübecker Bucht ankernden KZ-Schiffe, auf die die Häftlinge im Zuge der Räumung des KZs in den letzten Apriltagen 1945 getrieben worden waren.[32]

Die „Zeugen Jehovas“ waren gleich nach dem Machtantritt der Nazis verboten worden. Viele trafen sich jedoch weiter in kleinen Gruppen, auch in Harburg. Sie lasen gemeinsam den „Wachtturm“ und vernichteten nach der Sitzung das gesamte Material. Im August 1937 fand in der Gaststätte „Rönneburger Park“ ein als Kaffeetafel getarntes Treffen von Zeugen Jehovas aus Harburg-Wilhelmsburg, Hamburg und Umgebung mit rund 50 Personen statt. Die Gestapo muss aber Kenntnis von der Zusammenkunft bekommen haben. Bald danach wurden über 100 Anhänger der Religionsgemeinschaft festgenommen. Im Frühjahr 1938 kam es zu einem Massenprozess gegen die Zeugen Jehovas, auf dem auch das Harburger Treffen eine Rolle spielte.[33]

Nach der Eingemeindung Harburg-Wilhelmsburgs und der umliegenden Land­gemeinden in die Hansestadt Hamburg im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes vom 1.4.1937 wurde der Unterdrückungsapparat radikal umgestaltet. Die Stapo-Leitstelle wurde nach Lüneburg verlagert, die Harburger Gestapo wurde jetzt Außenstelle der Hamburger Gestapo. NSDAP-Kreisleiter blieb Wilhelm Drescher, der aber jetzt dem Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann unterstellt war.[34]

Nach 1941 bildete sich in Hamburg eine neue kommunistische Widerstandsgruppe. Die Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen konnte in vielen Hamburger Betrieben, darunter auch in Harburg und Wilhelmsburg konspirative Stützpunkte einrichten. Die Mitglieder sammelten Informationen über die politische Lage und gaben sie an vertrauenswürdige Personen weiter, sie halfen Zwangsarbeitern, wo es möglich war, und versuchten, hier und da Sand in das Getriebe der Kriegsproduktion zu streuen. Im Oktober 1942 spürte die Gestapo die Gruppe auf. Mehr als 100 Mitglieder, darunter auch zahlreiche Beteiligte aus Harburg, wurden nach und nach verhaftet und vor Gericht gestellt. Acht Harburger bezahlten ihre Unterstützung dieser Gruppe mit dem Leben. Zum Tode verurteilt wurden Herbert Bittcher, Karl Kock, Wilhelm Milke und Wilhelm Stein. Paul Dreibrodt, Otto Götzke, Richard Gohert und August Quest erhielten Zuchthausstrafen und starben auf Todesmärschen oder an den Haftfolgen.[35]

Nicht aus dem Arbeitermilieu stammten die Freundinnen und Freunde der Familie Leipelt aus Wilhelmsburg. Von 1936 bis 1939 hatte sich ein oppositioneller Kreis aus ehemaligen Schülern und Studenten, aus Künstlern und Intellektuellen gebildet. Man diskutierte und las gemeinsam verbotene Bücher. Im Hause der Leipelts an der Mannesallee wurde in Sketchen der „Führer“ verulkt. Auch Aktionen wurden ins Auge gefasst. So wollte Hans Leipelt zusammen mit anderen die Lombardsbrücke sprengen, um Rüstungstransporte zu unterbinden. Der Plan wurde aber wieder verworfen. Im Frühjahr und Sommer 1943 las Hans Leipelt, der jetzt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studierte, das sechste Flugblatt der Münchener Studenten der „Weißen Rose“. Dessen Worte rüttelten ihn auf. Seine Kommilitonin Marie-Luise Jahn und er schrieben es mehrmals ab, nach den Todesurteilen gegen die Geschwister Scholl und Christoph Probst versahen sie es mit dem Zusatz „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“, bevor sie es in Hamburg und München an gute Freunde weitergaben. Auch dieser Gruppe kam die Gestapo auf die Spur. Mehr als 30 Personen wurden im Herbst 1943 in München und Hamburg festgenommen. Hans Leipelts Mutter Katharina und ihre Freundin Elisabeth Lange nahmen sich kurz danach im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel das Leben. Hans Leipelt selbst starb am 29. Januar 1945 im Gefängnis München-Stadelheim unter dem Fallbeil.[36]

Doch so hoch der Einsatz dieser wenigen auch war, so schwer ist die Antwort auf die Frage, warum ihre Botschaft nicht einmal in der Arbeiterschaft großes Gehör fand. War es nur der Terror, mit dem die Nationalsozialisten alle Gegenbestrebungen zu unterbinden versuchten? Die Führung der NSDAP unternahm alles Mögliche, um sich bei der Arbeiterschaft anzubiedern. Mit Losungen „Freie Bahn dem Tüchtigen“, „Arbeit adelt“ und „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ sowie der Parole vom „Sozialismus der Tat“ versuchte die NSDAP, den Massen immer wieder das Bild einer geschlossenen Volksgemeinschaft von „Arbeitern der Faust“ und „Arbeitern der Stirn“ vorzugaukeln, in der alle Klassengegensätze überwunden würden, was gewiss nicht ohne Wirkung blieb. Hier und da gab es Verbesserungen, die ent­sprechend herausgestellt wurden. „Tagtäglich hören wir, tagtäglich sehen wir, wie allmählich jeder Betrieb ein neues Gesicht erhält. Alte Werk- und Eingangstore verschwinden, an anderen Stellen entstehen einladende Eingänge. Offene Toilettenanlagen machen sauberen hygienischen Einrichtungen Platz … ,Schönheit der Arbeit‘ ist ein Begriff geworden, ist heute eine Sache des ganzen deutschen Volkes,“ so berichteten die Harburger Anzeigen und Nachrichten im September 1935 über bauliche Veränderungen auf dem Gelände der Hobum (Harburger Ölwerke Brinckman & Mergell) im Harburger Hafengebiet.[37] Damit sollte kaschiert werden, dass die Arbeiterschaft nach der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Einführung des „Führerprinzips“ in den Betrieben voll und ganz ihrer Rechte beraubt worden war. Die Arbeiter hatten als „Gefolgschaft“ dem Unternehmer als „Betriebsführer“ zu parieren.[38]

Niemand weiß, wie viele Harburger und Wilhelmsburger die neuen Machthaber unter dem Eindruck des deutlichen Rückgangs der Arbeitslosigkeit in den späten 1930er Jahren und der kurzfristig spektakulären Erfolge der Reichsregierung in der Außenpolitik freudig bejubelt oder wenigstens hingenommen haben. „Die große Mehrheit der Hamburger Arbeiter“, schreibt der Historiker Frank Bajohr, „arrangierte sich daher pragmatisch mit den bestehenden Verhältnissen und nahm die Integrationsangebote der Nationalsozialisten an.“[39] Es gibt aber auch einen Bericht der Harburger Gestapo aus dem Jahre 1938, wonach die Arbeiter „zu 70% rot, zumindest aber dem heutigen Staat gegenüber missgünstig eingestellt“ waren.[40]

Harburg und Wilhelmsburg im Krieg
Der zeitweilige Konsens, wenn es ihn denn gab, hielt jedoch nicht lange an. Er zerbrach spätestens, als der Zweite Weltkrieg immer tiefer in das tägliche Leben der Menschen eingriff. 1941 wurden mehr und mehr Männer zur Wehrmacht eingezogen, während die Rüstungsfabriken gleichzeitig erhöhte Produktionsanforderungen zu bewältigen hatten. Trotz massiver ideologischer Bedenken wurde die Rückkehr der deutschen Frau, der „Dienerin des deutschen Mannes“ und der „Bewahrerin artreinen Blutes“, ins Berufsleben unumgänglich. Hausfrauen erhielten auch in Harburg-Wilhelmsburg in zunehmendem Maße Dienstverpflichtungen und kamen hier neben Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen in der Rüstungsproduktion zum Einsatz. Dabei erhielten sie nicht nur einen Eindruck von den mörderischen Arbeitsbedingungen in den Rüstungsfabriken, sondern auch von der Behandlung der vor allem aus Osteuropa nach Deutschland verschleppten Arbeitskräfte.[41] Das zeigt der Bericht einer Wilhelmsburgerin, die bei Haltermann in der Kanalstraße (heute: Industriestraße ) arbeiten musste: „Bei Haltermann in der Flugzeugmontage arbeiteten lauter Wilhelmsburger Hausfrauen … mit … einigen italienischen Kriegsgefangenen. Zwei Meister beaufsichtigten uns alle. … Wenn wir Feierabend hatten, haben wir auf der anderen Seite die KZ-Frauen gesehen. Die mussten für Haltermann Gräben ausheben. Das war schlimm. Da haben wir manches Mal eine Scheibe Brot runterfallen lassen. Hingeben durfte man es nicht, denn die Frauen standen unter strenger SS-Bewachung. Wir haben auch gesehen, dass Frauen erschossen wurden. Sie wurden losgejagt und auf der Flucht erschossen. Das habe ich gesehen, das kann ich beschwören, das sind Tatsachen.“[42]

Für den Bezirk Harburg ist die Zahl von 72 Lagern für Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge im Zweiten Weltkrieg belegt.[43] Zu den schlimmsten zählten das Arbeitserziehungslager der Gestapo am Langen Morgen in Wilhelmsburg sowie die KZ-Außenlager für jüdische Frauen am Dessauer Ufer auf der Veddel und am Falkenbergsweg in Neugraben. Jede und jeder Einheimische konnte sehen, wie diese Menschen täglich in Kolonnen zur Arbeit getrieben wurden, und wusste, dass deren Leben als minderwertig angesehen wurde.[44]

Aber nicht nur nach Harburg und Wilhelmsburg, sondern auch aus diesen beiden Stadtteilen wurden Männer, Frauen und Kinder in den Kriegsjahren verschleppt. Es verschwanden sowohl Juden und andere „Träger ‚artfremden Blutes‘“ als auch Kranke, die von Heil- und Pflegeanstalten betreut wurden. Der Abtransport wurde für die allermeisten, abgesehen von ganz, ganz wenigen Ausnahmen, eine Reise in den Tod.

Opfer des Rassenwahns
Die kleine jüdische Gemeinde der Stadt Harburg-Wilhelmsburg zählte 1933 ca. 350 Mitglieder, das waren weniger als 0,3% der Gesamteinwohnerschaft.[45] Die Zahl war auf 150 Mitglieder im Jahre 1937 gesunken, als die Harburger jüdische Gemeinde im Zusammenhang mit dem Erlass des Groß-Hamburg-Gesetzes mit den jüdischen Gemeinden von Hamburg, Altona und Wandsbek zusammengelegt worden war. 1939 wohnten noch 50 „Glaubensjuden“ in Harburg. Somit hatte sich die jüdische Bevölkerung Harburgs in den ersten sechs Jahren der NS-Herrschaft durch Auswanderung und Abwanderung um 84,3% verringert.[46]

Die Harburger Synagoge in der Eißendorfer Straße war 1863 erbaut worden und wurde offenbar bis zur Auflösung der Gemeinde für Gottesdienste genutzt. Seit 1927 stand Kantor Alfred Gordon (Jg. 1886) im Dienst der Gemeinde.[47] Der jüdische Friedhof lag auf dem Schwarzenberg .

Die Harburger Synagogengemeinde war bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stark um eine Integration in die nichtjüdische Umwelt bemüht, was sich auch nach dem Zustrom vieler Jüdinnen und Juden aus Osteuropa vor und nach dem Ersten Weltkrieg trotz gelegentlicher Differenzen zunächst nicht grundlegend änderte. Je mehr die Gemeindemitglieder – und vor allem die Jugendlichen – dann jedoch in der Endphase der Weimarer Republik und in den ersten Jahren der NS-Herrschaft unter dem zunehmenden Antisemitismus litten, desto intensiver wurde ihr Interesse am politischen Zionismus.[48]

Viele Harburger Jüdinnen und Juden waren kleine und mittlere Selbstständige. Den Alteingesessenen ging es in der Regel etwas besser als den – vor allem aus Osteuropa – Zugewanderten. Diese verfügten bei ihrer Ankunft über kein Vermögen und nur über geringe berufliche Qualifikationen, konnten ihre Situation aber häufig in wenigen Jahren durch Fleiß und Strebsamkeit deutlich verbessern.[49] Auch in Harburg-Wilhelmsburg waren die jüdischen Bürgerinnen und Bürger nach dem Regierungsantritt Hitlers immer stärkeren Anfeindungen ausgesetzt. Am 1. April 1933 bot sich in den Straßen der Stadt das gleiche Bild wie in vielen anderen Orten Deutschlands. Vor zahlreichen jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen standen SA-Männer, die Passanten und Kunden vom Betreten abzuhalten versuchten. Der Magistrat der Stadt hatte zwei Tage vorher den Beschluss gefasst, jede weitere Zusammenarbeit mit 54 jüdischen Geschäftsleuten, Ärzten und Rechtsanwälten ab sofort zu beenden.[50]

Von der Vielzahl der politisch-administrativen Maßnahmen, die in zunehmendem Maße zur Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung führten, blieben auch die Harburger Jüdinnen und Juden nicht verschont. Nicht wenige versuchten zu emigrieren, andere flüchteten freiwillig oder unfreiwillig in die Anonymität einer Großstadt wie Hamburg, wo sie mehr Schutz zu finden hofften. Viele Harburger Jüdinnen und Juden hatten ihren Wohnsitz bereits auf das andere Elbufer verlegt, als mindestens 30 von ihnen am 28. Oktober 1938 in einer reichsweiten Polizeiaktion nach Polen ausgewiesen wurden. In Norddeutschland ging der Transport vom Bahnhof Hamburg- Altona nach Neu-Bentschen, dem damaligen deutschen Grenzbahnhof an der Strecke Berlin-Warschau. Dort wurden sie ausgeladen und über die Grenze zur nächsten polnischen Stadt Zba˛szy´n (Bentschen) getrieben. Die Mehrzahl der Vertriebenen befand sich nach der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen im folgenden Jahr noch in diesem Land und kam dort anschließend in den Gettos und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten um.[51]

Im Zusammenhang mit den reichsweiten Ausschreitungen des 9. November 1938 wurden die Harburger Nationalsozialisten erst am folgenden Tag aktiv, obwohl Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes bereits am Nachmittag des 10. November in einem Blitzfernschreiben verkündet hatte: „Die Protestaktionen sind eingestellt. … Etwa noch erfolgende Aktionen sind möglichst zu verhindern, jedoch ist hierbei Rücksicht zu nehmen auf die berechtigte Empörung der Bevölkerung.“[52] In Harburg wurden am Abend des 10. November 1938 die Leichenhalle auf dem Jüdischen Friedhof in Brand gesetzt, die Synagoge geschändet und mehrere jüdische Geschäfte verwüstet. „Zu den Ausschreitungen hatte sich alles eingefunden, was in der Harburger NSDAP Rang und Namen hatte“, resümiert der Historiker Matthias Heyl.[53] Das Leben der jüdischen Männer, Frauen und Kinder, denen nicht bis zum Beginn der Deportationen im Oktober 1941 die Flucht gelungen war, endete bis auf wenige Ausnahmen in den Todeslagern der Nationalsozialisten. Die erste von siebzehn Deportationen aus Hamburg ging am 25. Oktober 1941 ins Getto Litzmannstadt. Mit dabei war Alfred Gordon, Prediger der Synagogengemeinde Harburg, ermordet im Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof). Der letzte Transport vom 14. Februar 1945 führte nach Theresienstadt. Für Leo Jacobsohn wurde es eine Reise in den Tod, die nicht-jüdische Ehefrau wartete vergeblich auf seine Rückkehr.

 

Zu den Harburger und Wilhelmsburger Opfern des Nationalsozialismus zählen auch nicht weniger als 30 Roma und Sinti, darunter viele Angehörige der Großfamilie Weiß. Am 16. Mai 1940 wurden etwa 550 Sinti aus Hamburg verhaftet und zu sechs Polizeiwachen gebracht, u. a. auch zum Polizeigebäude an der Nöldekestraße in Harburg. Dann wurden sie im Freihafen in einen Schuppen gesperrt und vom Güterbahnhof am Lohse-Platz ins Konzentrationslager Beł˙zec in Ostpolen deportiert. Auf den beiden Transporten nach Auschwitz am 11. März 1943 und am 18. April 1944 befanden sich mindestens vier Harburger Sinti.[54] Ihre Hoffnungen auf eine glückliche Rückkehr in die alte Heimat erfüllten sich nicht.

Mehr als 25 junge und alte Harburgerinnen und Harburger, die sich in der Obhut von Heil- und Pflegeanstalten in Rotenburg, Alsterdorf und Lüneburg befanden, wurden ab 1940 in andere Einrichtungen „verlegt“, wo ihr Tod gezielt herbeigeführt oder billigend in Kauf genommen wurde.[55] Sie starben, weil sie als arbeitsunfähig und als „unnütze Esser“ abgestempelt wurden. Ihre Angehörigen erfuhren oft lange nichts über das tatsächliche Schicksal der Ermordeten bzw. wurden über die tatsächliche Todesursache belogen.

Kriegsende
Wer die letzten Kriegsjahre in Harburg und Wilhelmsburg erlebte, sah, wie die beiden Stadtteile in dieser Zeit immer mehr in Schutt und Asche versanken. Als am 14. April 1945 zum letzen Mal in diesem Krieg die Sirenen Entwarnung verkündeten, hatten seit 1940 insgesamt 1768 Harburgerinnen und Harburger bei Bombenangriffen ihr Leben verloren. Hunderte waren verletzt worden, viele davon für den Rest ihres Lebens krank oder verstümmelt.[56] Von der viel gepriesenen „Volksgemeinschaft“ war nicht mehr viel zu spüren. Das Vertrauen in die politische Herrschaft und ihre Träger war auch im Hamburger Süden geschwunden. Kerstin Siebenborn stellt bei ihrer Zeitzeugenbefragung zum Volkssturm und zum Kriegsende in diesem Bezirk Hamburgs fest, „dass Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht die dominierenden Stimmungsfaktoren im Süden Hamburgs waren“. Die Befragten umschrieben ihre damalige Lage mit Begriffen wie „Verzweiflung“, „Resignation“ und „Überlebenswille“.[57]
(..)

Text von Margret Markert/Hans-Joachim Meyer/Klaus Möller aus ihrem Buch: Stolpersteine in Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg. Biographische Spurensuche. Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg und dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Hamburg 2012.

 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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