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Hermann Reimers

(5.7.1901 in East-London, Südafrika - 18.4.1959)
Lehrer an der Oberrealschule für Jungen in Blankenese
Kirschtenstraße 1 (Schule)

„Bezeichnete die Rede des Führers im Bürgerbräukeller in München als langweilige Rede mit dummen Witzen.“

Ein besonderer Fall ist der des Hermann Reimers, der von Kollegen an der Oberschule für Jungen in Blankenese bespitzelt und bei der Gestapo denunziert wurde. Hermann Reimers war offenbar ein eigenwilliger Geist, der einen nicht ganz stromlinienförmigen beruflichen Weg ging. Reimers agierte als Spötter und Realist, als er merkte, dass Hitler-Deutschland 1939 auf einem verhängnisvollen Weg war. Äußerungen von Hermann Reimers auf dem Schulweg wurden später von dem Lehrerkollegen Horst Kanitz protokolliert, an den Nazi- Aktivisten der Schule Kurt Eitzen weitergegeben. Die Aussagen landeten bei der Gestapo und Hermann Reimers wurde der Prozess gemacht. Eine weitere Denunziationsgeschichte in einem Kollegium, hier der Oberschule für Jungen in Blankenese.

Die biografischen Daten von Hermann Reimers sollen kurz dargestellt werden, um danach das Strafverfahren gegen ihn genauer zu beleuchten, insbesondere die protokollierten Ermittlungen im Lehrerkollegium der Oberschule für Jungen in Blankenese.

Hermann Reimers wurde am 5.7.1901 in East-London, Südafrika geboren. Sein Vater arbeitete dort als Exportkaufmann, seit 1905 lebte die Familie in Hamburg, wo Hermann Reimers das Realgymnasium in Blankenese bis 1919 nach Erreichung der Obersekunda-Reife besuchte. Danach wechselte er für ein dreiviertel Jahr in die Oberrealschule St. Georg. Er verließ die Schule und schlug die mittlere Forstlaufbahn ein.

Während der praktischen Ausbildung bereitete er sich auf das Abitur vor, um in die höhere Forstlaufbahn wechseln zu können. Im September 1923 legte er die Reifeprüfung in Heide ab und absolvierte 1924 an der forstlichen Hochschule in Hannoversch-Münden seine akademische Vorprüfung. 1927 gab er das Studium für die höhere Forstlaufbahn auf, da er wegen Überfüllung des Berufs keine Möglichkeit auf Anstellung sah. Er hatte bis dahin die für seine Laufbahn vorgeschriebenen Studien der Staats- und Rechtswissenschaften 1924 bis 1926 in München durchgeführt. Nunmehr setzte er in München seine naturwissenschaftlichen Studien fort, promovierte in Botanik und Zoologie. Im Dezember 1928 bestand er in Kiel seine wissenschaftliche Staatsprüfung mit der Lehrberechtigung für Biologie, Chemie und Physik, arbeitete dann an der Oberrealschule auf der Uhlenhorst und an der Oberrealschule vor dem Holstentor, wo er seinen Vorbereitungsdienst ab dem 1.4.1929 antrat. Im Mai 1930 bekam Hermann Reimers einen Erholungsurlaub zugebilligt, weil er „immer sehr bleich und angegriffen aussieht", wie Schulleiter Hahn am 28.5.1930 feststellte. [1]

Anschließend war Hermann Reimers als Hilfslehrer an verschiedenen Schulen tätig, gab Vertretungsunterricht an der Wichernschule und ging dann als Lehrer für fünf Jahre nach Cuxhaven. Die Gutachten über seinen Unterricht fielen nicht durchweg glänzend aus. So wurde am Gymnasium Johanneum in Lüneburg im November 1937 über Hermann Reimers festgestellt: „Der Assessor hat den Unterricht erst nach den Herbstferien übernommen. Er hat mit der Erweiterung und der Vertiefung der Vererbungslehre begonnen, hält sich allerdings zu lange bei der Wiederholung einfacher Fragen auf. Die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schülern ist befriedigend. Der Lehrer agiert etwas langsam und umständlich. Ein lebhafteres Tempo ist erwünscht, wenn das Pensum erledigt werden soll." [2]

Und in einer Beurteilung, die nötig wurde, weil Hermann Reimers von Cuxhaven nach Hamburg wechseln wollte, wurde festgehalten: „Reimers Leistungen in Unterricht und Erziehung völlig gerecht zu werden, fällt mir schwer. Er besitzt ein langsames, schwerfälliges und sanftmütiges Temperament. Fraglos ist er wissenschaftlich gut vorgebildet; dabei ist er ein kluger, kritischer Mensch. Sein Unterricht ist durchdrungen von einem starken Verantwortungsbewusstsein. Doch ist mir seine Art zu unterrichten zu ‚tüterig‘, um einen landschaftlich bedingten, aber treffenden Ausdruck anzuwenden. Sein Unterricht ist zu monoton, nicht bewegt genug. Gutmütigkeit scheint der hervorstechendste Zug seines Wesens zu sein. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht von den Schülern etwas ausgenutzt wird. Es ist allerdings auch schon vorgekommen, dass er zum Stock gegriffen hat, was ich durchaus verstehen kann. Bei seiner gütigen und wohlwollenden Einstellung den Jungen gegenüber erregte ihn ihr wenig entgegenkommendes Wesen umso mehr. Über sein Verhalten im Dienst ist nichts Nachteiliges zu berichten. Infolge seines erst kurzen Aufenthaltes in Lüneburg ist mir über sein außerdienstliches Verhalten nichts zu Ohren gekommen. Im Verkehr mit dem Schulamt ist jedoch in Erscheinung getreten, dass seine Frau, die bei mehrjähriger Ehe kinderlos ist, dass Lebensschifflein beider steuert. Herr Dr. Reimers ist wie auch in Cuxhaven als Blockwalter der NSV tätig. Er ist Parteianwärter." [3]

Was Schulleiter so alles in Gutachten und Personalakten vermerken.

Nach seiner Rückkehr nach Hamburg im April 1938 wurde er am 9.11.1938 zum Studienrat unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit ernannt.

Hermann Reimers war also Parteianwärter, sein Eintritt in die NSDAP wurde auf den 1.5.1937 rückdatiert. Möglicherweise spielten für ihn dabei opportunistische Gründe eine Rolle, um die Rückkehr nach Hamburg zu erleichtern. Später erklärte er seinen späten Eintritt in die NSDAP damit, es habe „ihm nicht gelegen, nun sofort in die Partei einzutreten; er hätte den Anschein vermeiden wollen, als sei er ein Konjunkturritter." [4]

Auf Anfrage der Hamburger Kultur- und Schulbehörde gab Reimers am 6.10.1936 auch seine weiteren NS-Zugehörigkeiten an: „ NS-Lehrerbund seit dem 1.1.1935, Reichsluftschutzbund 1933, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 1934, NSV 1935.“ [5]

Nach Hamburg kehrte er am 1.4.1938 zurück und nahm seinen Dienst an der Oberschule für Jungen in Blankenese auf. Dort freundete er sich mit dem Studienassessor Horst Kanitz an oder, wie er es selbst im späteren Dienststrafverfahren ausdrückt, „er habe mit Kanitz seit zwei Jahren engere Beziehungen und fühle sich ihm gegenüber in Freundschaft verbunden." [6]

Äußerungen von Hermann Reimers, die Horst Kanitz sich notierte und weiterreichte, führten am 16.3.1940 zu Reimers Verhaftung und zu mehrmonatigen Ermittlungen, die in einem Prozess vor dem Sondergericht in Hamburg am 4.9.1940 mündeten, in dem Reimers wegen „Vergehens gegen § 2 Abs. 2 des Heimtückegesetzes vom 20.12.1934“ zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten verurteilt wird. Im anschließenden Verfahren der Dienststrafkammer Hamburg wird Reimers am 17.6.1941 zur Entfernung aus dem Dienst verurteilt. Ihm wird „ein Unterhaltsbetrag in Höhe von 75 % des von ihm erdienten Gehalts für die Dauer von zwei Jahren zugebilligt". [7]

Da das Ermittlungsverfahren einen Einblick in das Kollegium der Jungenoberschule in Blankenese gibt und offenbart, wie die aktiven Nationalsozialisten im Kollegium agierten, sollen die Ermittlungen genauer rekonstruiert werden.

In der Anschuldigungsschrift vom 12.3.1941 wurde Reimers vorgeworfen, er habe:
„1. Am 9. November 1939 im Lehrerzimmer der Oberschule in Blankenese die Rede des Führers im Bürgerbräukeller in München als ‚langweilige Rede mit dummen Witzen‘ bezeichnet. Der Kreis der Zuhörer sei auch danach gewesen;
2. ausgeführt, daß der Führer am 8. November 1923 als Hysteriker in die Luft geschossen habe, um das Zeichen der Revolution zu geben. Am 9. November 1923 habe sich der Führer dann an der Feldherrnhalle feige gedrückt. Die einzige sympathische Figur sei Ludendorff gewesen und die Gefallenen seien die einst vom Führer so gehaßten Bürgerlichen gewesen. Die alten Kämpfer seien Halunken und Hasardeure;
3. über den in der Schule im Winterhalbjahr 1938/39 oder im Frühjahr 1939 vorgeführten Hindenburg-Film, in dem der Führer bei der Feier am 21. März 1933 zu sehen war, zu dem Vorführenden geäußert: ‚Haben Sie Adolf gesehen im gepumpten Frack als braunschweigischer Regierungsrat?‘;
4. bei der Straßensammlung (November 1939) den Kauf eines Zeichens abgelehnt, da er bei seinem Einkommen kein Geld dafür habe;
(…).“ [8]

Die meisten Anschuldigungen gingen zurück auf Äußerungen von Reimers, die er angeblich am 9.11.1939 auf dem Weg vom Blankeneser Bahnhof zur Schule gemacht hatte, als er auf den Studienassessor Horst Kanitz traf und mit ihm gemeinsam den 5- bis 10- minütigen Weg zurückgelegte. „Der Zeuge Kanitz hat die Äußerung des Beschuldigten nach seiner Angabe sofort nach Eintreffen in der Schule auf einem bei den Strafakten befindlichen Zettel im wesentlichen stichwortartig aufgeschrieben und sie hierauf dem Zeugen Studienrat Eitzen mitgeteilt." [9]

Obersenatsrat Edens, der die Anschuldigungsschrift verfasst hatte, wies darauf hin: „Das Sondergericht hat danach festgestellt, daß die Aussage des Zeugen Kanitz subjektiv und, da er sich über die Äußerungen des Beschuldigten sofort Aufzeichnungen gemacht hat, auch objektiv wahr seien. Danach muss als erwiesen gelten, daß der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Äußerungen vom 9.11.1939 gemacht hat." [10]

Horst Kanitz trat als Kronzeuge auf und Kurt Eitzen, NS-Aktivist in Blankenese, agierte als Mentor für Kanitz bei der Kontaktaufnahme zum Sicherheitsdienst (SD) und zur Gestapo. Darauf soll noch anhand der Ermittlungsprotokolle genauer eingegangen werden.

Reimers hatte durchaus auch positive Leumundszeugnisse. Edens stellte fest: „Im allgemeinen wird von den Zeugen anerkannt, daß der Beschuldigte sich in ganz hervorragendem Maße für die Arbeit in der Schule eingesetzt habe; besonders die früheren Kollegen des Beschuldigten in Cuxhaven haben das betont und hervorgehoben, daß der Beschuldigte fast täglich, und zwar auch sonn- und feiertags, bis spät abends in der Schule gearbeitet habe." [11]

Wilhelm Oberdörffer, zuständiger Oberschulrat für Blankenese, bekundete, „daß der Unterricht des Beschuldigten sorgfältig vorbereitet und aufgrund sicherer Fachkenntnisse erfolgreich für die Schüler gewesen sei. Es fehle dem Beschuldigten allerdings eine gewisse natürliche Frische und Lebhaftigkeit im Unterricht, sowie eine mitreißende Art des Vortrags. Seiner Persönlichkeit nach hält der Zeuge den Beschuldigten für einen gewissenhaften und aufrichtigen Menschen, der wohl etwas leicht unzufrieden erscheine, dessen Angaben aber ohne Bedenken geglaubt werden können." [12]

Und aus Cuxhaven äußerte sich Landgerichtsrat Dr. Wünnenberg, „daß nach den Beobachtungen, die er von Herbst 1932 bis Ende September 1934 in Cuxhaven gemacht hat, Dr. Reimers sich dem Umbruch gegenüber kritisch einstellte und die politischen Ereignisse mehr vom theoretischen Standpunkt ansah, als daß er das Bestreben hatte, sich praktisch der neuen Zeit anzuschließen. Sein Verhalten sei damals individualistisch gewesen; das sei aber vielleicht daraus zu erklären, daß einzelne Geschehnisse in der Umgebung des Beschuldigten in Cuxhaven das große Geschehen in starkem Maße überschatteten." [13]

Der Anfang der Vernehmung von Horst Kanitz wurde dann so protokolliert: „Ich kenne den Beschuldigten seit meiner Zugehörigkeit zur Blankeneser Schule. Wir wurden insbesondere durch unsere gelegentlich gemeinsamen Fahrten von Altona nach Blankenese miteinander bekannt. Im Laufe der Zeit wunderte ich mich, daß Reimers pessimistisch eingestellt war. Ich gewann den Eindruck, daß er glaubte in mir einen Gleichgesinnten zu finden. Am 9. November 1939, also am Tage nach dem Attentat auf den Führer in München, fuhr ich mit Reimers wieder nach Blankenese. Reimers fragte mich, ob ich die Rede des Führers gehört hätte. Bei dieser Gelegenheit machte er die von mir aufgezeichneten und bei der Akte des Gerichts befindlichen Äußerungen. Es kamen dann auch die Ereignisse des 8. November 1923 zur Sprache, und Reimers tat dann die dem Gericht bekannten Äußerungen. Er fügte seinen Äußerungen dann auch heftige Kritiken an unserer jetzigen Ernährung und dem Mangel an Metallen, wie Kupfer usw. hinzu, was sich auch bei der Herstellung von Rundfunkgeräten beispielsweise auswirke. Die Anzeige gegen Reimers ist nicht von mir erstattet worden, sondern ich hatte Eitzen von den Vorkommnissen erzählt; wörtlich habe ich dann zu Eitzen gesagt: ‚Was wollen wir mit Reimers tun?‘ Eitzen sagte dann am andern Tage zu mir: ‚Wundere Dich nicht, wenn jemand von der Gestapo bei Dir erscheint.‘ Eitzen war für uns im Lehrerkollegium ‚der Nazi‘. Ich hatte bei den Äußerungen des Reimers das Gefühl, daß er bedauerte, daß der Anschlag gegen den Führer nicht zum Erfolg für die Attentäter geführt hatte. An einem Freitag und an einem Sonnabend war ich mit Reimers auf dem Weg zum Bahnhof begriffen. Auf diesem Wege wurden uns Abzeichen zum Kauf angeboten; Reimers lehnte ab. Auch sonst habe ich feststellen müssen, daß Reimers nie Abzeichen trug." [14]

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Kanitz bei seinen Aussagen nicht bewusst war, welche gravierenden Folgen sie haben mussten.

Hermann Reimers wurde mit allen Vorhaltungen und Zeugenaussagen konfrontiert. Insbesondere die Kanitz-Notizen schwächte er ab und versuchte sie in anderen Zusammenhang zu bringen.

Der Studienassessor Lemburg, SS-Mann, hatte zu Protokoll gegeben, dass Reimers ihm gegenüber die nationalsozialistische Rassen- und Vererbungslehre als „übertrieben und bedenklich" bezeichnet hatte. Reimers erklärte dazu: „Hinsichtlich der angeblichen Äußerung über die Rassen- und Vererbungslehre bemerke ich, daß ich mich vor etwa zwei Jahren manchmal mit dem Studienassessor Lemburg, der SS-Mann ist, über Rassen- und Vererbungslehrefragen unterhalten habe. An diesen Dingen hatte ich als Biologe besonderes Interesse. Studienassessor Lemburg hat mir auch mal gesagt, daß er gern mit mir über die Dinge diskutiere, weil er dadurch von mir allerhand Neues erfahre. Ich bekam einerseits von ihm, der die Sache vom politischen Standpunkt aus betrachtete, auch allerhand Anregungen auf mein Fachgebiet. Der einzelnen Äußerungen entsinne ich mich nicht mehr. Mein Standpunkt in der Sache ist aber der, daß eine übermäßige Betonung des Wertes der nordischen Rasse im Vergleich zu anderen in Deutschland vorkommenden Rassen, wie zum Beispiel der dinarischen oder ostischen Rasse, politisch und auf das Gemeinschaftsgefühl der Volksgenossen schädigend wirken könnte.“ [15]

Horst Kanitz erklärte am 2.12.1940 in seiner Vernehmung bei Obersenatsrat Edens:

„Ich hatte bei Gesprächen mit Herrn Dr. Reimers vielfach die Beobachtung gemacht, daß er sich in Bezug auf das parteipolitische Geschehen stets negativ einstellte. Zum Beispiel bezeichnete er einmal den Abschluss des Russenpaktes als einen Theatercoup, an den doch niemand glauben würde. Dr. Reimers und ich haben von Altona bis Blankenese denselben Weg, so daß wir uns häufig auf der Bahn getroffen haben, oder wir gehen gemeinsam von der Schule zum Bahnhof und fuhren zusammen bis Altona." [16]

Und über seinen Kontakt zu Kurt Eitzen sagte er: „Ich habe die Äußerungen dem Kollegen Eitzen mitgeteilt und sagte zu ihm, ‚Was machen wir?‘ Es läutete gerade zum Unterricht, so daß wir uns trennen mussten. Am nächsten Tag erklärte mir Eitzen: ‚Wenn du von der Gestapo etwas hörst und so ähnlich, dann weißt du Bescheid‘. Daraus musste ich entnehmen, daß er die Angelegenheit an die Gestapo weitergegeben hatte." [17]

Am 4.12.1940 wird Kurt Eitzen von Obersenatsrat Edens in Gegenwart von Hermann Reimers und Horst Kanitz befragt und erklärte: „Ich kann im allgemeinen nur den Eindruck wiedergeben, dass der Beschuldigte mir als typischer Meckerer und Miesmacher in seinem ganzen Verhalten erschienen ist. Einzelheiten darüber kann ich nicht mehr angeben. Ich entsinne mich nur folgender Tatsache: Ich sah eines Tages zu meiner größten Überraschung, dass Herr Dr. Reimers das Parteiabzeichen trug. Ich fragte ihn, wie er als typischer Meckerer und Miesmacher denn dazu käme, das Parteiabzeichen zu tragen. Er entgegnete, ‚man müßte doch mitmachen, wenn man fest angestellt werden wollte.‘“ [18]

Interessant erscheint vor allem der Abschnitt im Protokoll, der sich damit beschäftigt, wie die Gestapo von Kanitz‘ Vorwürfen und Notizen erfahren hatte. Eitzen erklärte: „Ich wollte zum Unterricht gehen, als der Zeuge Kanitz hinter mir her kam und mir diese Äußerung berichtete. Ich entsinne mich, daß, als wir uns trennten, unter uns gesagt wurde, es müsste in dieser Sache doch irgendetwas geschehen. Die Anzeige über diese beiden Äußerungen habe ich bei der Gestapo nicht gemacht. Ich wurde im Frühjahr 1940 eines Morgens von der Gestapo angerufen, daß ich mich im Stadthaus zur Vernehmung einfinden sollte. Dort wurden mir diese beiden Äußerungen von dem vernehmenden Beamten, Kriminalinspektor Kiesel, vorgehalten. Auf welche Weise die Gestapo von den Äußerungen Kenntnis erhalten hat, ist mir nicht bekannt."

Zwei weitere Äußerungen von Horst Kanitz und Hermann Reimers in dieser Vernehmung: Kanitz: „Ich wurde vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, SD-Leitungsabschnitt Hamburg, etwa 2-3 Wochen nach dem Gespräch vom 9.11.1939 vorgeladen. Dort wurde mir gesagt, es seien die betreffenden Äußerungen von dem Studienrat Dr. Reimers gefallen, ob ich das gehört hätte. Ich wurde um Stellungnahme gebeten und habe dort ausgesagt. Daraufhin wurde ich von der Gestapo vorgeladen, habe auch dort ausgesagt und wurde noch zur Einreichung des Protokolls aufgefordert und auch zum unbedingten Stillschweigen den dienstlichen Vorgesetzten gegenüber verpflichtet."

Reimers: „Zu der Bemerkung des Zeugen Eitzen, daß ich im allgemeinen den Eindruck eines typischen Meckerer und Miesmacher auf ihn gemacht habe, führe ich aus: Ich weiß nicht, woraus Herr Eitzen dieses entnommen hat, da ich nie ein innenpolitisches Gespräch mit ihm geführt habe, d.h. politische Diskussion geführt habe, und mir auch nie von derartigen Gesprächen mit Herrn Eitzen einen Gewinn versprochen habe. Ich habe gelegentlich wohl mal belanglose Dinge mit Herrn Eitzen besprochen."

Auch Karl Gotzhein charakterisierte Hermann Reimers aus seiner Sicht: „Er neige zu geistreichem Gedankenspiel, was manchen der Kollegen anscheinend nicht passte. Diese sagten zum Beispiel über ihn, er sei ein alter Quasselfritze und er wurde in  dieser Beziehung nicht ernst genommen. Irgendwie als gefährlich oder politisch zersetzend wurde Dr. Reimers niemals angesehen. Ich habe, nachdem die Sache mit Dr. Reimers allgemeiner bekannt geworden war, mit einzelnen älteren Schülern, die zweifellos als durchaus zuverlässig anzusehen sind, gesprochen. Diese haben mir sämtlich erklärt, sie seien ganz erschlagen von diesen Geschehnissen mit Dr. Reimers, es sei im Unterricht niemals auch nur das geringste vorgekommen, was in politischer Beziehung zu beanstanden sei." [19]

Bemerkenswert war auch was Karl Gotzhein über Eitzen und Kanitz zu Protokoll gibt: „Bezüglich des Zeugen Eitzen bemerke ich noch, daß sein Ruf nicht nur im Lehrerkollegium, sondern auch in Parteikreisen in Blankenese nicht besonders günstig war. Man sagte in Parteikreisen, ‚er suche sich wohl dadurch, daß er einen Übereifer im Parteidienst an den Tag legt, etwas zu rehabilitieren‘. Er spielte sich gern auf mit seiner Zugehörigkeit und mit seinem Dienst in der Partei, ich hatte aber nicht die Überzeugung, daß seine Leistungen seinen Worten durchaus entsprachen. Das war auch bei seiner unterrichtlichen Tätigkeit festzustellen." Und bei Kanitz‘ Verhalten habe ihn „eigenartig berührt, daß er die angeblichen Äußerungen des Dr. Reimers ausgerechnet dem Studienrat Eitzen mitgeteilt hat. Bei der Einstellung und dem Charakter des Eitzen müsse er sich nach meiner Ansicht sagen, daß Eitzen einen unkameradschaftlichen und unfairen Weg einschlagen und die Angelegenheit nicht innerhalb des Kollegiums bleiben würde. Nach meiner Auffassung hätte der Zeuge Kanitz, als er diese angeblichen Äußerungen des Dr. Reimers hörte, diese gleich zurückweisen müssen, oder er hätte wenigstens, wenn er glaubte, das mitteilen zu müssen, die Angelegenheit dem Schulleiter weitergeben müssen." [20]

Horst Kanitz wurde auch von Schülern kritisch gesehen. So sagte der Abiturient Volker Franzen: „Bei Herrn Studienassessor Kanitz hatten wir Deutschunterricht. Er tat wohl sehr kameradschaftlich, aber wir hatten doch den Eindruck, daß er es nicht ganz so meinte. Er hatte auch mal eine so genannte ‚Meckerstunde‘ über die anderen Lehrer bei uns abgehalten, in der einzelne Schüler allerhand über ihre Lehrer vorbringen konnten. Das geschah unter der Zusicherung der Verschwiegenheit von Seiten des Kanitz. Man merkte aber nach einiger Zeit, daß die Schüler, die abfällige Bemerkungen über ihre Lehrer gemacht hatten, dann bei den betr. Lehrern schlecht angeschrieben waren. Daraus war zu entnehmen, daß Kanitz die abfälligen Bemerkungen der Schüler den betreffenden Lehrern weiter gesagt hatte. Das haben wir Kanitz sehr übel genommen." [21]

Im Urteil in der Dienststrafsache wurde Horst Kanitz‘ Vorgehen so gewürdigt: „Der Zeuge Kanitz hatte sich dem Angeschuldigten gegenüber, wie er selber sagt, getarnt, nachdem der Angeschuldigte schon verschiedene auffällige politische Bemerkungen gemacht hatte. Er hatte den Angeschuldigten reden lassen, ohne ihn auf das Unglaubliche seiner Handlungsweise aufmerksam zu machen. Er wollte feststellen, ob der Angeschuldigte ein Staatsfeind sei und wollte ihn dann festnageln." [22]

In einem Verfahren, bei dem die Gestapo und der Sicherheitsdienst ermittelten, wurde alles überprüft. Bei der Hausdurchsuchung von Hermann Reimers wurde festgestellt, daß er über eine umfangreiche Zeitungsausschnittssammlung verfügte, selbst angefertigt und mit zahlreichen eigenen Randvermerken versehen. Dazu stellte das Urteil fest: „Wie weit aber seine Ironie geht, ergibt sich aus den von dem Angeschuldigten zensierten Zeitungsausschnitten, die bei ihm in der Wohnung beschlagnahmt worden sind. Die Art, wie er sich hier als Besserwisser mit politischen Dingen zu Hause beschäftigt, mit welcher Nörgelsucht und mit welcher Unfähigkeit, zu notwendigen politischen Maßnahmen einmal ja zu sagen, er Randbemerkungen loslässt, ist geradezu verblüffend und legt nach Ansicht der Dienststrafkammer den von den Zeugen schon bekundeten Hang, an politischen Kleinigkeiten Kritik zu üben, dahin bloß, daß diese Kritik nicht aus dem Bedürfnis entspringt, zur Anregung einer Debatte beizutragen und einen Widerspruch herauszulocken, sondern der tief in dem Angeschuldigten wurzelnden Neigung zu nörgelnder Kritik und zum Besserwissen. Der Angeschuldigte bleibt nach Überzeugung des Gerichts bei dem Versuch, sich ein Bild von dem politischen Geschehen zu machen, bei kleinen Schönheitsfehlern stecken und ist seiner Veranlagung nach nicht in der Lage, der Gesamtpolitik und der Volksführung bedingungslos zu folgen." [23]

Sehr befremdlich erscheint mir auch das Urteil des hinzugezogenen sachverständigen Mediziners Dr. Schlippe. Im Urteil wurde dazu festgehalten: „Ergänzend für die Persönlichkeit des Angeschuldigten muß noch das Urteil des Sachverständigen Dr. Schlippe gewertet werden, der sein Gutachten im Strafverfahren erstattet hat. Dieses Gutachten ist durch Verlesung Gegenstand der Verhandlung vor der Dienststrafkammer gewesen. Dr. Schlippe hat sich eingehend mit der Persönlichkeit des Angeschuldigten beschäftigt. Er hat zunächst festgestellt, daß der Vater des Angeschuldigten schon in einem amtsärztlichen Attest als Sonderling und seine Mutter als Hysterika bezeichnet wurden. Die Eltern sind wegen der Gegensätze 1914 geschieden. Ein Bruder des Angeschuldigten ist als ausgesprochen erbkranker Schizophrener in Friedrichsberg in Behandlung gewesen und 1924 in Barmbek an Lungentuberkulose und Darmgeschwüren gestorben. Zusammenfassend bezeichnet er den Angeschuldigten als einen entschieden schizoiden Psychopathen, bei dem eine konstitutionelle Disposition zur Schizophrenie-Erkrankung besteht. Solche Kranken seien verbohrte Menschen mit dem Hang zur uferlosen Problematik und zur zwangsmäßigen Grübelei. Sie seien meist mißmutig, mürrisch und verbissen, reizbar und nörgelnd. Der Sachverständige betont die von ihm bei dem Angeschuldigten festgestellte skeptische Lebensauffassung, seine Selbstunsicherheit und seine Neigung zur Übertreibung.“ [24]

Hermann Reimers wurde nach der Verbüßung der Haft kurz zum Kriegsdienst eingezogen, aber als kriegsuntauglich wieder entlassen. Er fand dann als Chemiker eine Anstellung in der Industrie.

Am 15.7.1945 meldete sich Hermann Reimers bei der Schulverwaltung und ersuchte um Wiedereinstellung in den Schuldienst. Er schrieb: „Zur Zeit bin ich als Chemiker in der Industrie beschäftigt. Da ich meinen jetzigen Arbeitgebern zu großem Dank verpflichtet bin, daß sie das Wagnis auf sich nahmen, mich als politischen Häftling in Kriegszeiten in einem Rüstungsbetrieb mit einer führenden Vertrauensstellung zu betrauen, kann ich mein Dienstverhältnis dort nicht kurzfristig lösen, es sei denn, der Betrieb komme durch die Not der Zeit zum Erliegen. Ich bitte daher, mit einer Wiedereinstellung in den Schuldienst erst zu Ostern 1946 rechnen und mich bis dahin als beurlaubt betrachten zu dürfen." [25]

Die Behörde kam ihm entgegen. Heinrich Schröder teilte ihm am 8.2.1946 mit, dass es großen Einstellungsbedarf gebe und auch der Wunsch Reimers, ihm die chemische Sammlung der Oberrealschule Uhlenhorst-Barmbek anzuvertrauen, gewährt würde. Reimers entschied sich dann aber doch anders und bat um einstweilige Verlängerung „meines jetzigen unbezahlten Urlaubs". Seine Begründung: „Es kommt hinzu, daß ich nach meiner Rückkehr nach Hamburg die fürchterlichsten Lebensbedingungen vorfinden werde in Bezug auf Ernährung, Wohnung und Heizung: ich würde bei meinem Ausscheiden aus meiner jetzigen Arbeit mich aller der heute unbezahlbaren Fürsorglichkeiten begeben, die das Werk in dieser Hinsicht für seine Angehörigen aufwendet. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß man mit 1040 Kalorien bei bestem Willen seine Pflicht als Lehrer erfüllen kann, heute bei den schwierigsten Erziehungsaufgaben weniger denn je. Der Schwarzmarkt, den ich jetzt als ‚freier Mann‘ notfalls in Anspruch nehmen könnte, wäre mir als Beamter und Erzieher hinfort unzugänglich. Ich würde mich in Hamburg in meinem eigenen Hause ein einziges bewohnbares Zimmer mit meiner berufstätigen Frau teilen müssen." [26]

Oberschulrat Heinrich Schröder reagierte am 29.4.1946 angesäuert, zeigte sich befremdet von Reimers Schreiben, „weil es eine Berufseinstellung zeigt, die ich nicht bei einem Lehrer erwartet hätte, der heute deutsche Kinder erziehen will“. [27]

Hermann Reimers kommt erst 1951 auf den Wunsch der Wiedereinstellung zurück. Er wurde wieder eingestellt am Albrecht-Thaer Gymnasium. Am 13.12.1951 wurde dann noch das rechtskräftige Urteil der Dienststrafkammer Hamburg vom 17.6.1941 aufgehoben. [28]

Die Schulbehörde prüfte 1952, ob Reimers zum Oberstudienrat befördert werden könne. Reimers hatte in dieser Frage mit dem ehemaligen Oberschulrat Oberdörffer Kontakt aufgenommen.

Am 31.3.1953 starb Reimers Frau Wilhelmine, kurze Zeit später heiratete er erneut.

Aber schon am 18.4.1959 starb auch Hermann Reimers.

Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Alle nicht extra ausgewiesenen Zitate nach Personalakte Reimers, StA HH, 361-3_A 2659
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Dienststrafverfahren vom 29.3.1940, S. 2, ebd.
5 Ebd.
6 Dienststrafsache vom 17.6.1941, S. 5, ebd.
7 Das Urteil ist in der Personalakte enthalten, ebd.
8 Anschuldigungsschrift vom 12.3.1941, ebd.
9 Ebd., S. 5.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Alle Äußerungen und Zeugenvernahmen in der Dienststrafsache vom 17.6.1941, ebd.
15 Vernehmung vom 29.11.1940 durch OSR Edens, ebd.
16 Ebd.
17 Ebd.
18 Alle Aussagen ebd.
19 Vernehmung vom 10.12.1940, ebd.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Urteil in der Dienststrafsache vom 17.6.1941, S. 6, ebd.
23 Ebd., S. 16.
24 Ebd.
25 Alle weiteren Angaben nach Personalakte Reimers, a.a.O.
26 Schreiben vom 13.4.1946, ebd.
27 Ebd.
28 Ebd.
 

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muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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