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Walter Bärsch

(26.10.1914 Weinböhla -7.1.1996 Hamburg)
Schulleiter an der Schule für Verhaltensgestörte (1959-1967); 1967-1972 Leiter des hamburgischen schulpsychologischen Dienstes „Schülerhilfe“, von 1970-1977 Oberschulrat in der Hamburger Schulbehörde, seit 1977 ordentlicher Professor für Sonderpädagogik an der Universität Hamburg. Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes
Warnckesweg 20 b (Wohnadresse)
Walter-Bärsch-Weg , Groß Borstel seit 2000.

Im September 2020 berief die Behörde für Kultur und Medien eine Kommission aus acht Expertinnen und Experten, die Entscheidungskriterien für den Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg entwickeln und Empfehlungen zu möglichen Umbenennungen aussprechen sollte.

Zum Walter-Bärsch-Weg gab die Kommission im März 2022 die Empfehlung: Umbenennung mit folgender Begründung: „Bärsch war seit 1933 in der SS und seit 1934 in der NSDAP. Bärsch verheimlichte und bestritt bis zu seinem Tod seine NS-Aktivitäten und machte bewusst Falschangaben zu seinem Lebenslauf. Eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit seinem Handeln fand nicht statt. Eine Umbenennung ist geboten.“ (Abschlussbericht der Kommission zum Umgang mit NS-belasteten Straßennamen in Hamburg, Feb. 2022, www.hamburg.de/contentblob/15965308/8ee2e6d28dbd23e8df84bf75ceabda98/data/empfehlungen-kommission-ns-belastete-strassennamen.pdf)

 

Im Band 2 seines Buches „Täterprofile“, herausgegeben im Jahre 2017 hat Dr. Hans-Peter de Lorent das Profil von Walter Bärsch veröffentlicht.  Hier sei das Profil, verfasst von Dr. Hans-Peter de Lorent abgedruckt:

Von der bitteren Erkenntnis, dass auch die Nachgeborenen nicht frei sind von konkreten Erfahrungen, Berührungen mit Menschen der vorangegangenen Generation, die sie mit ihrem Bild von der Täter-Generation gar nicht in Übereinstimmung bringen können.

Als wir 1985 und 1986 die beiden Bände „Hamburg: Schule unterm Hakenkreuz“ und „‚Die Fahne hoch‘. Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz“1 herausgaben, war diese „historische Pioniertat“ 40 Jahre nach Ende des Krieges und der Naziherrschaft aus meiner Sicht nur möglich, weil sich die Nachgeborenen, die nicht verstrickt waren in die NS-Zeit, an dieses Werk machten. Dabei stimmte dies nicht ganz. Für den ersten Band , in dem der Fokus insbesondere auf diejenigen Pädagoginnen und Pädagogen gelegt werden sollte, die sich aktiv, zum Teil in der Illegalität, gegen die Nationalsozialisten im Hamburger Schulwesen gewehrt hatten, oder zumindest keine Mitläufer bzw. Rädchen im Getriebe waren, bezogen wir einige noch lebende Zeitzeugen ein, die Auskunft gaben und selbst Beiträge schrieben.2 Aber diese Personen gehörten nicht zur Seite der Täter und waren für uns legitimiert durch ihre Kenntnisse und Erfahrungen, um zu helfen, denen ein kleines Denkmal zu setzen, die sich in der NS-Zeit nicht angepasst hatten und die demokratischen und reformpädagogischen Ansprüche und Traditionen der Hamburger Lehrerschaft hoch hielten und somit in ihren Erinnerungen und Beiträgen durchaus subjektiv waren.

Dass auch die Nachgeborenen durch Kontakte, Gespräche und Erfahrungen mit ehemals nationalsozialistischen Aktivisten oder Opportunisten beeinflusst sein konnten, war mir an einigen Fällen deutlich geworden. So etwa, als ich 1989 feststellte, dass der ehemalige NS-Oberschulrat für die Volksschulen in Hamburg, Albert Mansfeld, der gleichzeitig zweiter Mann im NSLB-Hamburg gewesen war, noch lebte und ich ein Gespräch mit ihm zu führen beabsichtigte. Ursel Hochmuth, Mitherausgeberin unseres ersten Bandes, damals Dokumentarin bei der dpa in Hamburg und Autorin vieler Bücher über den antifaschistischen Widerstand3, warnte mich vor diesem Gespräch. Sie sagte, dass durch die Empathie für einen vermutlich alten und gebrechlichen Mann der Blick für die Person, die er ein halbes Jahrhundert zuvor, von 1933 bis 1945 gewesen war, verblassen könnte. Das war nicht ganz unberechtigt, wie ich dann bei dem Gespräch am 14.8.1989 feststellte, als mir ein durch einen Schlaganfall sehr eingeschränkter 86-Jähriger gegenüber saß. Ich habe unmittelbar nach dem Gespräch, noch im Auto sitzend, ein Protokoll verfasst und die Aufzeichnungen später beim Schreiben der Biografie von Albert Mansfeld einbezogen.4 Mansfeld war ein zutiefst überzeugter Nationalsozialist gewesen, Träger des goldenen Parteiabzeichens mit einer Mitgliedsnummer unter 100000 (Nr. 96984). Was ihn nach 1945 von anderen der Tätergruppe unterschied, war, dass er sich nicht herauszureden bemühte, nach 1945 eine Maurerlehre begann, ohne mit Hilfe von Juristen zu versuchen, gleich wieder in den Schuldienst zu gelangen, „seine Schuld“ und Mitverantwortung annahm, vielleicht aus Realismus, vielleicht aus Resignation. Das Gespräch selbst hatte mich nicht positiv für Albert Mansfeld eingenommen. Es irritierte mich seine Antwort auf meine Frage: „Wie war Ihr Verhältnis zu Fritz Köhne?“ „Gut. Er war mit der Zeit einer von uns geworden“, hatte er darauf gesagt.5 Das konnte ich relativieren, weil ich bei meinen Forschungen schon vieles über Fritz Köhne erfahren hatte.6

Ich selbst bin bis 1969 zur Schule gegangen und hatte dabei eine Reihe von Lehrern erlebt, über deren Biografie ich als Schüler überhaupt nichts wusste. Als ich im Laufe der Jahre bei meinen Recherchen im Hamburger Staatsarchiv immer wieder Listen mit abgelieferten Personalakten studierte, traf ich auf den Namen des ehemaligen Schulleiters des Alexander von Humboldt-Gymnasiums in Hamburg-Harburg, auf dem ich im Januar 1969 Abitur gemacht hatte. Ich hatte keine besondere Erwartung in Bezug auf seine Biografie und war eher erstaunt, als ich bei Durchsicht seiner Personalakte feststellte, dass bei ihm eine deutliche NS-Verstrickung bestand, die ihm große Schwierigkeiten bei der Entnazifizierung bereitet hatte. Ich habe dann versucht, in der Biografie die ich über ihn ( Gerhard Schumacher) in diesem Band geschrieben habe, mich durch meine persönlichen Eindrücke, die nicht unbedingt positiv gewesen waren, nicht beeinflussen zu lassen. Auch die Nachgeborenen sind also nicht frei von konkreten Erfahrungen, Berührungen mit der Generation davor, die sie in ihrem Bild beeinflussen.

Eine persönlich schockierende Erfahrung habe ich gemacht, als ich mit dem Korrekturlesen des ersten Bandes der „Täterprofile“ beschäftigt war. Die stellvertretende Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung in Hamburg, Rita Bake, fragte an, wie sie es häufig macht, wenn Straßen nach PädagogInnen benannt sind und deren Vergangenheit genauer beleuchtet werden soll, ob ich etwas über Walter Bärsch wisse, nach dem in Groß-Borstel im Jahre 2000 der Walter-Bärsch-Weg benannt worden war.

Ich war schon dabei zu antworten, dass ich Walter Bärsch natürlich kannte. Er war so etwas wie eine moralische Institution in der GEW gewesen, jahrelang Mitglied des Hauptvorstandes, später Leiter der Bundesschiedskommission. Ich bin ihm vielfach begegnet, teilweise mit ihm in den 1990er-Jahren zum Hauptvorstand der GEW nach Frankfurt geflogen und in der Taxe gefahren, hatte viele durchaus auch persönliche Gespräche mit ihm geführt.

Und als ich so spontan am Schreiben war, fiel mein Blick auf die mitgeschickte Anlage. Da stand über den nicht nur von mir so verehrten Walter Bärsch: „1933 SS-Mitglied, seit 1939 SS-Untersturmführer, 1934 NSDAP-Mitgliedschaft, Teilnahme an mehreren Reichsparteitagen, als Student Mitglied des NS-Studentenbundes“.7

In einer kurzen Biografie, die Bodo Schümann 2008 über Walter Bärsch geschrieben hatte und die ich daraufhin fand und las, stand, dass die NS-Aktivitäten von Walter Bärsch erst nach seinem Tod 1996 bekannt geworden sind und „er diese zu Lebzeiten verheimlicht und ausdrücklich bestritten hatte“.8

Für mich war das mit der Person Walter Bärsch, die ich kannte, nicht in Einklang zu bringen. So war es notwendig, in den eigenen Erinnerungen zu graben und zu recherchieren.

Als Walter Bärsch im April 1983 in den Ruhestand trat, führte ich als Redaktionsleiter der Hamburger Lehrerzeitung zusammen mit Evelin Moews mit ihm ein Gespräch über Verhaltensauffälligkeiten von Schülern, Disziplinproblemen und die Arbeit an Sonderschulen. Walter Bärsch war als Professor am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg emeritiert worden und hatte einen glänzenden Ruf aufgrund seiner Kompetenz und seines unkonventionell scheinenden Umgangs mit schwierigen Schülern. Schon die von uns gewählte Überschrift, das Zitat von Walter Bärsch, „Verhaltensgestörte sind solche, die sich in unnormalen Situationen normal verhalten“9, machte darauf aufmerksam, wie notwendig es für Lehrkräfte ist, sich intensiv mit als schwierig angesehenen Schülerinnen und Schüler auseinanderzusetzen. Walter Bärsch nahm immer erst einmal die Perspektive der Schüler ein und sah darauf, welchen Anteil die Lehrkräfte, das System und die Institution Schule an den Auffälligkeiten der Kinder hatten. Typisch für ihn waren Sätze wie: „Auch die Schule ist zu einem Faktor geworden, der Kinder nicht nur fröhlich macht, sondern sie auch zusätzlich belastet.“ Er forderte ein grundsätzliches Umdenken auch der Organisation von Unterricht: „Es wird zum Beispiel auf den biologischen Arbeitsrhythmus in der Schule kaum Rücksicht genommen.“ Oder: „Viele Verhaltensstörungen werden von Lehrkräften dadurch provoziert, dass sie unfähig sind, die Dynamik einer Gruppe zu beeinflussen. Sie sind unfähig in dem Sinne, dass sie es versäumen, mit ihrer Gruppe Verhaltensnormen zu erarbeiten, und diese Verhaltensnormen auch miteinander einzuüben.“10

Und Walter Bärsch sagte auch: „Die ‚richtigen’ Verhaltensgestörten, das sind die extrem Gehemmten, die Menschen, die überhaupt nicht wagen, sich der Welt gegenüber zu äußern, zu stellen, die Angst vor der Welt haben. Das sind aber in der Schule die eigentlich Braven, die man will, die nicht stören.“11

Walter Bärsch war ein glänzender Kommunikator, er verblüffte häufig mit seinen Aussagen, provozierte und zwang seine Gesprächspartner zu Perspektivwechseln. Er war pointenreich und verfügte über einige plakative Anekdoten, die er gerne erzählte. So habe ich mehrfach gehört, wie er den Überdruss, in der Hamburger Schulbehörde als Oberschulrat zu arbeiten, erklärte. Er hätte Zweifel gehabt an der Sinnhaftigkeit seines Tuns, daran, inwieweit die vielen schriftlichen Vorlagen und Vermerke, die er für die Behörden- und Amtsleitung zu fertigen hatte, tatsächlich wirksam waren oder auch nur gelesen wurden. Eines Tages, als er wieder etwas produzieren musste, ging er zu Hause an sein Bücherregal, holte willkürlich ein Buch heraus, schlug es mit abgewandtem Kopf auf, tippte auf eine Stelle und schrieb den Absatz wörtlich ab, setzte sein Leitzeichen darunter und gab dieses Schreiben als Vermerk in den dafür vorgesehenen Aktendeckeln auf den Dienstweg. Als er auch darauf keine Reaktion bekam, beschloss er, den Arbeitsplatz zu wechseln und an die Universität zu gehen. Diese Geschichte hat mich schwer beeindruckt, wenn sie mit meinen eigenen Erfahrungen in der Hamburger Schulbehörde, freilich zu einer ganz anderen Zeit, nicht kompatibel war, eigentlich unvorstellbar.

Auch ein anderes biografisches Detail war sicherlich allen bekannt, die mit Walter Bärsch zu tun hatten. Er hatte eine Karriere vom Sonderschüler bis zum Professor für Sonderpädagogik absolviert und galt als ein Mann, der immer wusste, wovon er sprach. Darauf werde ich noch einmal zurückkommen.

Bekannt war somit nicht nur in Hamburg, dass Walter Bärsch Lehrer gewesen war, später stellvertretender Schulleiter und dann, 1963, Schulleiter für Verhaltensgestörte in der Hinrichsenstraße . 1967 berief die Hamburger Schulbehörde Walter Bärsch zum Leiter der Hamburger Schülerhilfe, drei Jahre später wechselte er als Oberschulrat für den Bereich Schulgestaltung in die Schulbehörde und 1977 erhielt er einen Ruf auf eine Professur am Institut der Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt „Psychologische und soziologische Aspekte der Erziehung und Rehabilitation Behinderter“, die er dann bis 1983 inne hatte.12

Walter Bärsch war immer auch ehrenamtlich aktiv, intensiv in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), für die er von 1966 bis 1980 dem Hauptvorstand angehörte. Danach wurde er in die Bundesschiedskommission gewählt und war als „moralische Institution“, als die er von allen gesehen wurde, jahrelang deren Sprecher. Bodo Schümann wies darauf hin, dass Walter Bärsch darüberhinaus Mitglied der Enquetekommission zur Feststellung der Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland war, außerdem Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Seit den 1960er-Jahren gehörte er dem Kirchenkreis Alt-Hamburg an, später der Nordelbischen Kirche. 1981 wurde er zum Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes gewählt, seit 1991 war er bis zu seinem Tode dessen Ehrenpräsident.13 Eine Menge Ehre für einen Mann, der von allen die ihn kannten, hoch geschätzt worden war.

Als Walter Bärsch am 12. November 1994 80 Jahre alt wurde, war ich Vorsitzender der GEW-Hamburg und organisierte mit anderen zusammen zu seinen Ehren ein Kolloquium, das in der Universität Hamburg stattfand. In meiner einleitenden Rede verwies ich auf die beiden Festschriften, die zu diesem Tag erschienen waren. In einer dieser Festschriften war er von der Professorin für Sonderpädagogik, Sieglind Ellger-Rüttgardt, zu seinen Lebenserinnerungen befragt worden.14 Ich sagte dazu:
„Lieber Walter, mir haben viele Aussagen in Deinen Lebenserinnerungen gefallen. Natürlich die Feststellung, dass Du ‚nie Respekt vor Königsthronen‘ hattest, dann die Aussage, dass Du Dich immer als, wie Du sagst, mittelmäßigen Typ gesehen hast und das als Schlüssel dafür bezeichnest, mit Gelassenheit an Dinge heranzugehen, die anderen Stress bereiten. Da kann ich nur sagen: Von diesem Mittelmaß könnte die Republik noch manchen gebrauchen.“ Und ich zitierte auch einen Satz von Walter Bärsch, den ich für die Erziehung so wichtig fand:
„Das Kind ist keine Vorform, das Kind ist eine eigenständige Lebensform des gesamten menschlichen Lebenslaufes. Eine eigenständige Form, das muss man begreifen.“15

In einem Bericht über das Kolloquium hatte Andreas Köpke geschrieben:
„Wen galt es zu würdigen? Den bestechenden erziehungswissenschaftlichen Theoretiker, den sympathischen Hochschullehrer, den überzeugten Reformpädagogen, den leidenschaftlichen Kämpfer für die Partizipation von Jugendlichen und Kindern oder schlicht den aufgeschlossenen und stets besonnenen Menschen Walter Bärsch? Man entschied sich für den Menschen.“16

Die GEW hatte zu diesem Geburtstag von Walter Bärsch auch eine Festschrift herausgegeben, unter dem Titel „Schule neu denken und gestalten. Schulreform in Hamburg – Beispiele aus der Praxis“. Darin sollten an verschiedenen Beispielen die Bemühungen für eine Schulreform in Hamburg demonstriert werden.17

In dieser Festschrift schrieb der damalige GEW-Bundesvorsitzende, Dieter Wunder: „In den heftigen Auseinandersetzungen der 70er Jahre war es Walter Bärsch, der zwar eine klare Position einnahm, der aber immer auch Verständnis für die andere Seite fand und durch seine versöhnenden Worte Brücken des Dialogs schlug. Walter Bärsch habe ich bei vielen Gelegenheiten als überzeugende Persönlichkeit kennengelernt. Am stärksten in Erinnerung sind mir die Gespräche, die wir in Hamburg in der Vorbereitungsgruppe für die Gesamtschule Mümmelmannsberg führten. Er machte uns 1971 mit einer sozialpädagogischen Sicht von Schule vertraut, die alle außerordentlich beeindruckte. Die Gedanken, die wir in Gesprächen mit Walter Bärsch damals entwickelten, haben mich in meiner Arbeit als Schulleiter bestimmt und sind die Grundlage meiner pädagogischen Überzeugung als GEW-Vorsitzender geworden.“18

Es wird deutlich, dass die oben erwähnte Mail von Rita Bake nach jahrelangen persönlichen Erfahrungen mit Walter Bärsch auf mich einen verstörenden Effekt haben musste. Sie war Anlass, selbst noch einmal intensiv zu recherchieren. Zuerst führte ich ein Gespräch mit Bodo Schümann19, der selbst für seine Biografie von Walter Bärsch schon Wesentliches über dessen NS-Aktivitäten herausgefunden und veröffentlicht hatte.20

Ich wurde danach fündig im Hamburger Staatsarchiv, wo es eine Entnazifizierungsakte von Walter Bärsch gibt und im Bundesarchiv, wo nicht nur seine NSDAP-Mitgliedskartei sondern auch eine SS-Sippenakte vorhanden war. Alles zusammengenommen gab folgendes Bild, das anschließend mit eigenen Aussagen von Walter Bärsch konfrontiert werden soll. Die Diskrepanzen und Widersprüche sind so evident, dass man davon sprechen kann, dass Walter Bärsch eine eigene Legende seines Lebens aufgebaut hatte, die in wesentlichen Punkten nicht der Wirklichkeit entsprach.

Unstrittig ist, dass er am 26.10.1914 in Weinböhla, bei Dresden, in Sachsen als Sohn des Drehers Felix Bärsch und seiner Ehefrau Anna geboren wurde. Er besuchte in Weinböhla die Volksschule von 1921 bis 1929, die reformpädagogisch orientiert war, unterbrochen durch ein kurzzeitiges Abschieben auf eine Hilfsschule, als ein etwas beschränkter Lehrer nichts mit ihm anzufangen wusste. Walter Bärsch wurde nach der Volksschulzeit selbst initiativ, um in ein Aufbaugymnasium in Dresden übernommen zu werden, wo er dann 1935 die Reifeprüfung bestand.21

Nach dem Abitur studierte Walter Bärsch an der Hochschule für Lehrerbildung in Dresden von 1935 bis 1937 und legte am 21.6.1937 das erste Staatsexamen für das Lehramt an Volksschulen ab.22

Danach arbeitete er vom 16.8.1937 bis zum 10.5.1938 an Volksschulen in Dresden, bevor er an die Hochschule für Lehrerbildung in Dresden abgeordnet wurde.23 Nach eigenen Angaben in seiner Personalakte studierte er im Sommersemester 1938 bis zum Wintersemester 1939/40 an der kulturwissenschaftlichen Abteilung der technischen Hochschule Dresden.24

Am 10.5.1940 wurde Walter Bärsch zur Kriegsmarine eingezogen, wo er im Laufe der Kriegsjahre zum Leutnant in der Funktion eines Batterieoffiziers befördert wurde. Für Walter Bärsch endete die Kriegsteilnahme am 15.8.1945.25

Ein gravierender Dissens: Walter Bärsch gab an, er sei 1943 in Prag im Fach Psychologie promoviert worden und hatte dafür „eine Bescheinigung gemäß §93 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge vom 29.6.1977 vorgelegt“, die seiner Personalakte beigefügt worden war. Er hatte nach Angaben der Universitätsverwaltung Hamburg „glaubhaft nachgewiesen, dass er im Besitz einer Promotionsurkunde der Universität Prag, ausgestellt im Jahre 1943, gewesen ist“. Das Thema seiner Dissertation: „Das erzgebirgische Volkslied als Ausdruck des Stammescharakters“.26

Im Prinzip gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Da aber eine Reihe anderer Angaben nachweislich nicht den Tatsachen entsprachen, ist auch hier Skepsis angebracht. Bodo Schümann hatte genauer recherchiert und bei der Karls-Universität in Prag nachgefragt, die während des Krieges von den Deutschen besetzt worden war, aber völlig unzerstört blieb, ebenso das Verwaltungsarchiv. Bodo Schümann erhielt vom Archiv der Universität in Prag auf seine Anfrage die Antwort:

„Es tut mir leid, aber wir haben in den Dokumenten (Rigorosenhauptprotokoll, Doktorenmatrik) der ehemaligen Deutschen Universität in Prag keine Informationen über die Doktorprüfungen oder Promotion von Walter Bärsch zwischen 1940–1945 gefunden.“27

Was ist Wahrheit, was ist Legende?

Walter Bärsch hatte auch Zeit seines Lebens „verheimlicht oder ausdrücklich bestritten“28 Mitglied oder gar Aktivist in nationalsozialistischen Organisationen gewesen zu sein. Schümann stellte dazu fest:

„Bereits mit 18 Jahren war Walter Bärsch in den ‚Stahlhelm‘ eingetreten und im November 1932 in die Hitlerjugend. 1933 wurde er Mitglied der SS, in der er 1939 bis zum Untersturmführer aufstieg. Ab 1933 nahm er an Aufmärschen zu verschiedenen Reichsparteitagen teil. 1934 wurde er auch Mitglied der NSDAP und engagierte sich ab 1937 als Studenten- bzw. Altherrenführer im Nationalsozialistischen Studentenbund. 1939 wurde ihm von seinem SS-Gruppenführer bescheinigt, seine Einstellung zur nationalsozialistischen Weltanschauung sei ‚klar und eindeutig‘. Bereits anlässlich seiner ersten Heirat 1938 hatte er den Parteiorganen gegenüber seine Religionszugehörigkeit ‚mit gottgläubig‘ angegeben; 1942 trat er dann aus der evangelisch-lutherischen Kirche Sachsens aus. Seine Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organen wurde erst nach seinem Tod bekannt.“29

Meine eigenen Recherchen bestätigen dies. Walter Bärsch war am 1.12.1934, noch als Schüler, Mitglied der NSDAP geworden (Mitgliedsnummer 2957298).30 Und es gibt auch im Bundesarchiv eine SS-Sippenakte für Walter Bärsch und seine erste Ehefrau Ruth, geborene Winkler (Sippen-Nummer 112064). Darin hatte Walter Bärsch am 2.3.1939 beim Reichsführer-SS, Rasse- und Siedlungshauptamt um Übersendung der Vordrucke zu einem Verlobungs- und Heiratsgesuch nachgefragt. Walter Bärsch hatte dieses Gesuch eigenhändig unterschrieben, seinen SS-Dienstgrad und die Einheit angegeben, nämlich „SS-Scharführer mit der SS-Nummer 239820 in der SS-Einheit 6/46“. Ruth Winkler, am 24.4.1919 geboren, ebenfalls NSDAP-Mitglied (Nr. 6958138) hatte auch die Hochschule für Lehrerbildung in Dresden besucht. Merkwürdig an diesem Gesuch war, dass beide schon seit dem 25.5.1938 verheiratet waren, was in der Akte handschriftlich vermerkt worden war: „Bereits ohne Genehmigung des Rasse- und Siedlungsamtes geheiratet.“31

 Die Eile war nachvollziehbar, denn 1939 wurde der gemeinsame Sohn Siegfried Walter Bärsch geboren.32 Ein Drama vollzog sich für Walter Bärsch offenbar während des Bombardement Dresdens bei den Luftangriffen 1944/45, bei dem seine Frau Ruth getötet worden war.33

Bevor ich mich genauer damit beschäftige, was Walter Bärsch selbst über die Zeit von 1939 bis 1945 gesagt hatte, soll kurz darauf gesehen werden, was er nach Ende des Krieges tat. Bodo Schümann schrieb: „Nach Kriegsende absolvierte Bärsch 1945 die zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Volks- und Realschulen in Hamburg und war zunächst in der Privatwirtschaft tätig.“34 Als Angestellter war er beschäftigt bei der Werkhof-GmbH in der Brandstwiete in Hamburg. Erst 1949 bemühte sich Walter Bärsch um Einstellung in den Hamburger Schuldienst. Dafür musste er am 20.2.1949 einen Entnazifizierungsfragebogen ausfüllen. Ich vermute, dass er lange mit dem Eintritt in den öffentlichen Dienst gewartet hatte, bis er eine Strategie des Verschweigens seiner politischen Mitgliedschaften entwickelt hatte und das Klima der Entnazifizierung in Deutschland günstiger war. Walter Bärsch machte bewusst falsche Angaben. Die SS-Mitgliedschaft verschwieg er, zur NSDAP behauptete er, lediglich Anwärter gewesen zu sein, ohne Mitgliedsnummer, da er „ohne Antrag von der HJ 1934 überwiesen“ worden war. Und in der Rubrik HJ behauptete er, nur ein Jahr Hitlerjunge gewesen zu sein, vom 1.2. bis zum 31.12.1934. Tatsächlich war er im November 1932 Mitglied geworden.35

Bei dieser minimalen Belastung, die Walter Bärsch angab, und seiner Kommunikationskunst, wundert es nicht, wenn der Entnazifizierungsausschuss zu dem Ergebnis kam: „Nach eingehender Aussprache mit Herrn Dr. Bärsch sieht sich der Beratende Ausschuß in der angenehmen Lage, keine politischen Bedenken gegen eine Beschäftigung des Petenten im Schuldienst zu haben.“ Bärsch wurde in Kategorie V eingruppiert, als Entlasteter.36

Walter Bärsch hatte sich für diesen Weg entschieden, den Weg des Verschweigens und der falschen Aussage. Damit gelang es ihm, wieder in den Schuldienst zu kommen und anschließend die schon beschriebene Karriere zu machen, bis hin zum Oberschulrat und Professor. Ob er das anders nicht erreicht hätte, ist schwer zu sagen. Es sind ganz andere Leute mit gravierender Belastung auf die Karriereleiter gesprungen. Und bei Walter Bärsch hätte, bei der gängigen Praxis, zumindest sein junges Alter einen entlastenden Grund dargestellt. Sicherlich wäre es schwerlich möglich, zu einer Legende zu werden, einer Person, die als moralische Instanz anerkannt war. Dafür wäre eine Vergangenheit als SS-Mann hinderlich gewesen.

Dass Walter Bärsch es später nicht schaffte, sich zu frühen Irrtümern zu bekennen, sondern sich genötigt fühlte, auch bei konkreten Fragen Legenden zu spinnen, belegt das Gespräch, dass er zu seinem 80. Geburtstag mit Sieglind Ellger-Rüttgardt führte, „Lebenserinnerungen“ überschrieben. In weiten Passagen, insbesondere wenn es um Pädagogik geht, um Schulentwicklung und die Bedeutung von Lehrerinnen und Lehrer für die Weiterentwicklung von Kindern, ist dieses Gespräch sehr interessant und fruchtbar. In Kenntnis der tatsächlichen Hintergründe der Biografie Walter Bärsch in der Zeit von 1932 bis 1945 ist es allerdings bemerkenswert, wie Walter Bärsch die Tatsachen verbog, bzw. falsche Spuren legte. Das soll an ein paar Beispielen gezeigt werden.

Walter Bärsch berichtete über die einfachen und ärmlichen Verhältnisse in seinem Elternhaus. Sein Vater sei ein pflichtbewusster Mann gewesen, ein meisterhafter Sportler und Geräteturner, Gewerkschafter, aber ohne Parteizugehörigkeit, wie auch die Mutter. Dann sagte er:
„Die Politik hat in meinem Leben, auch in meiner Kindheit, natürlich schon eine sehr große Rolle gespielt, und zwar über folgende Fakten: Ich hatte einen Onkel, der war ein sehr engagierter Nationalsozialist. Er hatte die Funktion eines Reichsredners und war auch einmal Kreisleiter in Meißen und wurde dann später Bürgermeister in meinem Heimatort. Er war, das muß ich einfach so sagen, ein sehr beliebter, ein sehr leutseliger Mann. Und dann hatte ich einen anderen Onkel, der war nun auf der Gegenseite. Der andere Onkel war ein sehr ausgeprägter Kommunist. Ich würde sagen, wie man im Jargon so sagt, war ein Edelkommunist. Ich mochte ihn sehr, er war ein feiner Kerl, und ich habe ihm als Junge seinen Kommunismus privat nicht übelnehmen können, ganz im Gegenteil. Aber wenn die beiden dann bei Familienfestlichkeiten aneinander gerieten, dann war natürlich der Hausfrieden im Eimer. Und das hatten wir ständig.“37

Hier legte Walter Bärsch eine Spur für die weitere Befragung, sich durchzuschlängeln. Auf die Frage: „Aber sie mochten beide gerne?“ erzählte Walter Bärsch: „Ich mochte menschlich beide. Und die mochten sich beide auch, also sie waren wie Don Camillo und Pepone, so ähnlich sind die miteinander umgegangen. Das war für mich also ein gutes Lehrbeispiel, wie man auch miteinander umgehen kann, trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Orientierung.“38 Später stellte Ellger-Rüttgardt fest: „Sie haben 1935 Abitur gemacht und anschließend vier Semester an der Hochschule für Lehrerbildung in Dresden studiert. Das war zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie war Ihre Einstellung zum Nationalsozialismus?“ Bärsch antwortete:
„Mich hat in der Jugend, in der ich nun mal war, das sogenannte idealistische Element der Botschaft der Nationalsozialisten angesprochen. Daß man sich für das Ganze einsetzen sollte und daß es wichtig ist, sich für das Wohl des Volkes einzusetzen. Das sind für mich Aussagen gewesen die bei mir angekommen sind. Ich bin als junger Mensch ein fast gnadenloser Idealist gewesen, und ich war manchmal richtig realitätblind.“39

Das war offenbar eine ehrliche und authentische Erinnerung. Hier wäre vielleicht eine Chance gewesen, die Konsequenzen zu beschreiben, die Walter Bärsch damals in die HJ, den Nationalsozialistischen Studentenbund und die NSDAP geführt hatten. Die nächste Frage machte aber einen Sprung: „Wurde dieser Glaube im Laufe der Jahre erschüttert?“ Und da hatte Walter Bärsch Gelegenheit, das Feld zu wechseln: „Ja, ganz erheblich erschüttert. Er wurde ganz erheblich erschüttert, je mehr ich erstens erwachsen wurde und zweitens die konkreten Sachverhalte erfuhr. Die ganze Art und Weise, wie man die Judenfrage behandelte, hat mich richtig angewidert, und so eine Zeitung wie den ‚Stürmer‘ und die Karikaturen dazu, die hielt ich für so gemein und so menschenverachtend schändlich, daß mich das alles wirklich angewidert hat. Ich muß natürlich gestehen, daß bestimmte Argumentationsketten nicht ganz spurlos an mir vorbeigegangen sind, eben die, daß man gesagt hat, die Juden – und da hatte ich keine Überprüfungsmöglichkeiten – haben alle zentralen Stellen in dieser Welt besetzt, das ist ihre Politik. Ich war da durchaus anfällig, das muß ich sagen. Ich habe es schon für möglich gehalten, daß die Juden die Machtpositionen in der Welt im wesentlichen besetzt haben.“

Auf die Frage, ob er den Machtwechsel begrüßt hätte, antwortete er:
„Ja, den haben wir damals nahezu alle begrüßt. Wer das Gegenteil behauptet, der lügt sich ganz schön was in die Tasche.“ Und bei der folgenden Kardinalfrage: „Sind sie in die Partei eingetreten?“ sagte Walter Bärsch: „Nein, ich bin nie Parteigenosse gewesen. Ich bin mal eine Zeit lang in der Hitler-Jugend gewesen, das hatte aber eine sehr unbedeutende Funktion. Ich war Sportler, und das war mein Hobby. Ich habe mich also unentwegt im Sportdress rumgetrieben, mich interessierten die anderen Dinge nicht so sonderlich stark.“40

Auf die Frage, ob das Ende des Krieges für ihn eine Befreiung gewesen wäre, stellte Bärsch fest:
„Eine Befreiung in dem Sinne war es nicht. Das kann ich nicht sagen. Befreiung war es nicht, denn ich habe ja erstens alle meine beruflichen Situationen verloren. Ich hatte keine Chance. Und zunächst einmal ging  ja auch das Gerede um, daß wir als Offiziere alle in französische Bergwerke müßten. Ich bin nie in den Bergwerken gelandet. Ich habe mich in Hamburg angesiedelt, und es ging sehr schwer am Anfang. Ich habe kaum Geld verdient. Es war alles sehr mühsam. Aber, so gesehen, ist das Erleben der Befreiung bei mir nicht so sonderlich aktuell gewesen. Das kann ich einfach so nicht sagen.“41

Daraus erklärt sich vielleicht auch, dass Walter Bärsch unter allen Umständen in den Schuldienst wollte und ein falsch ausgefüllter Fragebogen ihm dafür legitim erschien.

Auf ein schwieriges Gleis geriet Walter Bärsch bei der Frage: „Wie erklären Sie sich das eigentlich, daß die Nazi-Vergangenheit so lange nicht aufgearbeitet wurde in Deutschland? Alexander Mitscherlich hatte von der ‚Unfähigkeit zu trauern‘ gesprochen. Der Nationalsozialismus war ja lange ein Tabu.“ Walter Bärsch antwortete darauf:
„Also, ich denke, diejenigen, die die Aufarbeitung hätten bewirken müssen, waren zugleich jene, die diese Zeit aktiv erlebt haben. Und ich, der ich ein Zeitgenosse dieser Zeit war und auch ein bewußter Zeitgenosse, ich kann wohl behaupten, daß die Prozentzahlen, die bei den Wahlen für die Nationalsozialisten gestimmt haben, daß diese Prozentzahlen ohne Zweifel die Realität widerspiegelten. D. h. die meisten haben sich mehr oder weniger – mit kleinen Vorbehalten – aber doch letztlich mit dem Nationalsozialismus und mit der Hitler-Bewegung identifiziert. Einige sind dann Aktivisten geworden. Andere sind freundliche Mitläufer gewesen. Einige, eine Minderheit, waren Gegner, und das war immer eine Minderheit. Und diejenigen, die dann die Aufarbeitung hätten vollführen müssen, waren ja in irgendeiner Form gespalten. Zum Teil wußten sie ganz genau, daß sie keine Gegner gewesen waren, sondern Sympathisanten. Und dann sollte man das aufarbeiten? Das geht nicht, wenn man in diesem Zwiespalt ist. Und oft hat man gesagt: ‚Ich war ja sowieso kein richtiger Nazi, das sollen mal die machen, die am Schalthebel der Macht waren oder die Informationen haben, über die ich nicht verfüge.‘“42

Da schwamm der Psychologe und Kommunikationsexperte. Man hätte hier denken können, dass Walter Bärsch sich nicht richtig positionieren konnte oder mochte. Am Ende fragte Sieglind Ellger-Rüttgardt, worin Walter Bärsch das Geheimnis seines Erfolges sehe. Er antwortete:
„Als erstes hatte ich den Grundsatz, daß ich nur dann aktiv werde, wenn ich selbst von der Sache überzeugt bin. Sonst lasse ich die Finger davon. Ich kann nur in echter Weise argumentieren, wenn ich davon überzeugt bin. Ich war der Meinung, wir müssen durch die Art und Weise, wie wir argumentieren, glaubwürdig sein. Ich habe vielleicht ein bestimmtes gutes Naturell gehabt, dass ich das auch psychisch durchstehen konnte, und ich habe auch eine Wesensart an mir, die es mir nicht ganz schwer macht, Kontakt mit anderen Menschen zu bekommen.“43

Glaubwürdig bleiben. Etwas psychisch durchstehen können. Das Gespräch mit Walter Bärsch fand 1994 statt. Er starb am 7.1.1996.

Welche Belastung muss das über all die Jahre gewesen sein, seine Lebensgeschichte auf mehr als einer Lüge aufzubauen? Oder kann es gelingen, so weitgehend zu verdrängen, dass man an die selbst konstruierte Legende der eigenen Geschichte glaubt? Vielleicht war es aber auch die Motivation für all das, was Walter Bärsch nach 1945 geleistet hat, seine Form der Wiedergutmachung, eine Form der Sühne.

Walter Bärsch stand nicht allein mit seiner Geschichte, es gab auch andere seiner Generation, die noch Schüler waren, zumindest in einem Alter, wo Irrtümer statthaft sein sollten. Die Frage ist, wie die jeweiligen Personen mit dem später als Irrtum Erkannten umgingen. Dazu hat der Journalist Malte Herwig ein bemerkenswertes Buch geschrieben: „Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten worden.“ Er folgte den Spuren derer, die einen ähnlichen Weg wie Walter Bärsch gegangen waren. Dabeigewesene, junge Mitglieder und Funktionäre von NS-Organisationen, die dies später vergaßen, verheimlichten oder verdrängten und nach 1945 wichtiges in der deutschen Nachkriegszeit geleistet hatten. Malte Herwig nennt Martin Walser, Dieter Hildebrand, Siegfried Lenz, Hans-Dietrich Genscher, Walter Jens, Hans Werner Henze, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Niklas Luhmann, Erich Loest, Peter Boenisch und Günter Grass: „Eine ganze Generation von Übervätern geriet in den letzten Jahren trotz tadelloser Nachkriegslebensläufe ins Zwielicht, weil sie vor 1945 im Nationalsozialismus mitgemacht hatte. Mit Ausnahme von Eppler wollte sich keiner der noch lebenden Betroffenen erinnern können, jemals einen Aufnahmeantrag unterschrieben zu haben.“44

Malte Herwig stellte zu recht fest, dass niemand in die NSDAP ohne seine Kenntnis überführt und Mitglied werden konnte. Auch Walter Bärsch hatte in seinem Entnazifizierungsfragebogen geschrieben, von der HJ einfach in die NSDAP weitergeleitet, überführt worden zu sein. Dazu Malte Herwig: „Oft ist vermutet worden, dass HJ-Führer eigenmächtig Anmeldungen vornahmen. Dazu hätten sie die Unterschrift auf dem Anmeldeformular fälschen müssen. Doch bis heute ist aus keiner Quelle, die vor dem 8. Mai 1945 entstanden ist, eine gefälschte Unterschrift eines HJ-Führers bekannt. Auch gab es für keinen einzigen HJ- und BDM-Jahrgang, dessen Angehörige zwischen 1937 und 1944 in die Partei aufgenommen wurden, eine automatische Aufnahme: ‚Dem Einzelnen blieb immer die Möglichkeit, sich entweder für oder gegen eine Unterschrift zu entscheiden.‘“45

Da hatte sich Walter Bärsch zumindest geirrt, wohl eher bewusst die Unwahrheit gesagt. Wie auch bei der Frage nach der Mitgliedschaft in der SS. Da habe ich seine persönliche Unterschrift auf dem Formular der SS-Sippenakte selbst gesehen und in Fotokopie vorliegen.

Malte Herwig zitiert in diesem Kontext Friedrich Nietzsche:
„Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ Und an anderer Stelle: „Die Auswahl, die unser Gedächtnis vornimmt, erfolgt stets zu unseren Gunsten, wenn wir uns auch noch so sehr um Ehrlichkeit bemühen.“46

Herwig hat sich insbesondere mit der Generation der Flakhelfer beschäftigt, also den Jugendlichen der Jahrgänge 1926 bis 1928, die am Ende des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurden, „um als ‚Hitlers letzte Helden‘ die unausweichliche Niederlage NS-Deutschlands noch ein wenig hinauszuzögern.“ Zu dieser Generation gehörte Walter Bärsch nicht. Er war 1933 immerhin 19 Jahre alt. Gleichwohl gelten manche Schlussfolgerungen aber auch für ihn: „Das Lebenswerk, dass die Flakhelfer als Künstler, Wissenschaftler oder Politiker nach 1945 schufen, verdient umso mehr Anerkennung, als es unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen entstand. Verführt und verraten entließ sie das ‚Dritte Reich‘ in eine ungewisse Zukunft, die sie meisterten. So trugen sie nicht allein zur demokratischen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bei. Ihr Schicksal verkörpert geradezu den Wandel vom Schlechten zum Guten.“47

So kann man das auch sehen. Aber dennoch: Auf dem Sockel steht Walter Bärsch in Kenntnis seiner ganzen Geschichte nicht mehr.

Das Profil ist abgedruckt in dem Buch: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Band 2. Hamburg 2017. Erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg.

Anmerkungen
1 Ursel Hochmuth/Hans-Peter de Lorent (Hg.): Hamburg. Schule unterm Hakenkreuz, Hamburg 1985, und: Reiner Lehberger/Hans-Peter de Lorent (Hg.): „Die Fahne hoch“. Schulpolitik und Schulalltag unterm Hakenkreuz, Hamburg1986.
2 So: Dietrich Rothenberg, John Hopp, Walter Flesch, Arie Goral, Gerhard Hoch, Ursula Randt, Caesar Hagener, Ludolf Mevius.
3 Ursel Hochmuth (1931–2014), kam aus einer antifaschistischen Familie, ihre Mutter war Katharina (Käthe) Jacob, ihr Vater Walter Hochmuth war KPD-Bürgerschaftsabgeordneter in Hamburg gewesen, ihr Stiefvater der 1944 als Widerstandskämpfer hingerichtete Franz Jacob. Ursel Hochmuth veröffentlichte unter anderem mit Gertrud Meyer zusammen das Buch: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, Frankfurt 1980.
4 Nicht veröffentlichtes Protokoll meines Gesprächs mit Albert Mansfeld in Anwesenheit seiner Frau vom 14.8.1989. Siehe dazu auch: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 118ff.
5 Gesprächsprotokoll vom 14.8.1989.
6 Siehe dazu: de Lorent 2016, S. 61ff.
7 Schreiben an mich von Rita Bake vom 30.9.2015. Die NS-Verstrickung rekurrierte auf Angaben in wikipedia.
8 Bodo Schümann: Walter Bärsch, in: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 4. Hg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Göttingen 2008, S. 31.
9 Evelin Moews/Hans-Peter de Lorent: Interview mit Prof. Walter Bärsch, HLZ 5/83, S. 11.
10 Alle Aussagen ebd.
11 Interview mit Prof. Walter Bärsch, HLZ 5/83, S. 14.
12 Siehe dazu: Schümann 2008, S. 31.
13 Ebd.
14 Pädagogisches Handeln in gesellschaftlicher Verantwortung. Festschrift für Walter Bärsch. Zusammengestellt von Sieglind Ellger-Rüttgardt, Hamburg 1994.
15 Die Rede war in Auszügen abgedruckt in: HLZ 12/94 S. 36.
16 HLZ 12/94, S. 35f.
17 Karlheinz Goetsch/Andreas Köpke (Hg.): Schule neu denken und gestalten. Schulreform in Hamburg – Beispiele aus der Praxis. Hamburg 1994.
18 Ebd., S. 5f.
19 Das Gespräch fand statt am 6. April 2016.
20 Bodo Schümann 2008, S. 30ff.
21 Alle Angaben laut den Eintragungen von Walter Bärsch in seinem Entnazifizierungsfragebogen vom 5.4.1949, StA HH, 221-11_46219 KAT, die sich bis hierher decken mit dem, was Bodo Schümann geschrieben hat, Schümann 2008, S. 30.
22 Entnazifizierungsakte a.a.O.
23 Laut seiner Personalakte, nach Auskunft der Universität Hamburg am 14.2.2006 an Bodo Schüann.
24 Ebd.
25 Laut Eintrag im Entnazifizierungsfragebogen, Entnazifizierungsakte a.a.O.
26 Laut seiner Personalakte, nach Auskunft der Universität Hamburg am 14.2.2006 an Bodo Schümann.
27 Schreiben vom 1.3.2006 des Direktors des Instituts für Geschichte der Universität Prag an Bodo Schümann.
28 Schümann 2008, S. 31.
29 Ebd.
30 BArch, NSDAP-Reichskartei; 3200/ A 0051_Bl. 812
31 BArch, R 9361-III/ 5315 (persönliche SS-Unterlagen),RS/ A 0184
32 https://www.myheritage.com Siehe Siegfried Bärsch. Nach dieser Angabe ist Siegfried Walter Bärsch 2012 gestorben. Die Angabe über die Geburt des Sohnes 1939 wurde auch von Sieglind Ellger-Rüttgardt in dem Gespräch mit Walter Bärsch bestätigt, Ellger-Rüttgardt 1994, S. 23.
33 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 23.
34 Schümann 2008, S. 31.
35 Entnazifizierungsakte a.a.O.
36 Ebd.
37 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 15f.
38 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 16.
39 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 22.
40 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 22f.
41 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 23.
42 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 26f.
43 Ellger-Rüttgardt 1994, S. 44.
44 Malte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden. München 2013, S. 16.
45 Herwig 2013, S. 61.
46 Herwig 2013, S. 94.
47 Herwig 2013, S. 293.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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