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Hans Reimers

(17.4.1908 Hamburg – 6.10.1989)
Lehrer, Persönlicher Referent von Schulsenator Landahl
Griesstraße 98 (Wohnadresse 1943)

Dr. Hans-Peter de Lorent verfasste dieses Profil für sein Buch „Täterprofile Band 2“.

Eine der wichtigsten und einflussreichsten Personen im Hamburger Schulwesen nach 1945 war Dr. Hans Reimers. Erstaunlich ist für mich, dass Hans Reimers im Juni 1945 von Senator Heinrich Landahl zu seinem persönlichen Referenten gemacht wurde, obwohl Reimers eine deutliche NS-Belastung hatte. Wahrscheinlich benötigte Landahl Hans Reimers wegen dessen hervorragenden englischen Sprachkenntnissen. Wie es Landahl gelang, die Zustimmung der britischen Militärregierung für diese Personalie zu erhalten, ist nicht dokumentiert. Eine Entnazifizierungsakte Reimers ist nicht aufzufinden. Dokumente der Wichernschule, die von Hans Reimers in den letzten Jahren – bis 1943, als sie unter Prof. Bernhard Pein eine SS-Heimschule werden sollte – der Nazizeit geleitet wurde, nachdem der Schulleiter der Wichernschule, Richard Ackermann, im Krieg als Offizier in Estland getötet worden war, belegen einen deutlichen NS-Hintergrund. Schon während seines Referendariats 1934 war Reimers SA-Mitglied geworden.

Als Nachfolger für den NS-kritischen Oberschulrat Heinrich Schröder und als Personalchef für die höheren Schulen hatte Reimers starken Anteil daran, NS-Belastete wieder in die Gymnasien zu holen, als Lehrer und als Schulleiter. In den 1960er-Jahren machte Hans Reimers im Rahmen der Kultusministerkonferenz Karriere, mit hoher Anerkennung über Hamburg hinaus, und bei seiner Pensionierung 1973 erhielt er den ausdrücklichen Dank des GEW-Bundesvorsitzenden Erich Frister.

Die formalen Daten der Bildungsbiografie von Hans Reimers sind schnell erzählt. Er wurde geboren am 17.4.1908 in Hamburg als Kind des Volksschullehrers Hans Willi August Reimers, der an der Mädchenschule Averhoffstraße 18 unterrichtete, und dessen Ehefrau Nelli. Hans Reimers besuchte von 1915 bis 1918 die Lehrerseminarschule, 1918 das Gymnasium Hadersleben, danach die Realschule Hamburg-Hamm. 1921 wechselte er auf das Kirchenpauer-Realgymnasium, an dem er am 5.2.1927 die Reifeprüfung bestand.1 Reimers studierte dann Englisch und Spanisch von 1927 bis 1929 an der Universität Jena, danach in Marburg, anschließend an der Universität Hamburg. In den Semesterferien vertiefte Reimers seine Sprachkenntnisse in Spanien und England. 1934 wurde Hans Reimers SA-Mitglied, wahrscheinlich, weil ihm die Parteizugehörigkeit für den Eintritt in den Schuldienst nötig erschien, aber es eine Aufnahmesperre für die NSDAP gab, die er auf diese Weise umgehen konnte.

Am 27.3.1934 absolvierte er die wissenschaftliche Prüfung „mit Auszeichnung“ für das Lehramt an höheren Schulen und der Lehrbefähigung für Geschichte, Englisch und Spanisch. Seine schriftliche Arbeit: „‚Die Exercitia Spiritualia des Ignatius von Loyola und ihr Verhältnis zur Gegenreformation‘. Ein Beitrag zur Charakteristik der geistlichen Übungen Loyolas.“2 Am 16.7.1934 promovierte Reimers mit einer Arbeit zum Thema: „Jonathan Swift. Gedanken und Schriften über Religion und Kirche.“3

Das Referendariat absolvierte Reimers am Realgymnasium des Johanneums und seiner ehemaligen Schule, dem Kirchenpauer-Realgymnasium, vom 10.4.1934 bis zum 5.9.1935. Auch das zweite Staatsexamen bestand er mit Auszeichnung. In dem Bericht des Leiters des Schulseminars am Realgymnasium des Johanneums, Prof. Otto Schliack, hieß es am 4.4.1935: „Herr Dr. Reimers war ein Jahr Mitglied des Schulseminars. Er hat einen Vortrag gehalten über das Verhältnis der HJ zur Schule. Herr Dr. Reimers sprach frei und überzeugend. An der Aussprache pflegte er sich lebhaft und mit Scharfsinn zu beteiligen. Sein Verhältnis zum Kollegium war infolge seines Wesens und seines Auftretens ausgezeichnet.“4

Am Ende des Referendariats war der Wunsch von Hans Reimers schon bekannt, als Assessor ein Jahr als Austauschlehrer in England zu unterrichten. Prof. Otto Schliack schrieb in seiner Stellungnahme: „Ich kenne Herrn Dr. Reimers aus seiner einjährigen Tätigkeit am Realgymnasium des Johanneums und in seiner sportlichen Betätigung außerhalb der Schule. Er ist wissenschaftlich sehr gut vorgebildet und in der Erörterung wissenschaftlicher Fragen gewandt; bei den Schülern fand er deshalb und wegen seines sicheren Auftretens ganz von selbst die Achtung, die sie auf allen Klassenstufen der geschlossenen Persönlichkeit entgegenbringen. Er beherrscht die gesellschaftlichen Formen vollständig und macht bei vorteilhafter Gestalt in seiner äußeren Haltung den besten Eindruck. Als Sport betreibt er das Tennisspiel und gehörte zu den Spitzenspielern seines Vereins. Seine innere Haltung ist durch seine häusliche und waffenstudentische Erziehung bestimmt. Ich habe den Eindruck eines gefestigten, zielsicheren Mannes bester ethischer Haltung. Ich halte Herrn Dr. Reimers für hervorragend geeignet, in England als Vertreter seines Vaterlandes aufzutreten und zu wirken.“5

Im Institut für Lehrerfortbildung hatte Hans Reimers während des Referendariats vier Kurse belegt, unter anderem bei OSR Walter Behne den Kurs „Nationalpolitische Erziehung“ und bei Alfred Kleeberg „Grundlagen der Erziehungs- und Unterrichtsfragen“.6

Bevor Hans Reimers als Austauschlehrer nach England an die Westcliff High School of Boys in Southend-on-Sea ging, hatte er noch ein anderes Problem zu regeln. So schrieb er am 16.4.1935 an die Landesunterrichtsbehörde: „Die Landesunterrichtsbehörde gestattete mir, aufgrund einer im Oktober anzutretenden Stellung, bereits ein halbes Jahr vor dem endgültigen Ablauf meiner Referendarzeit, also im September 1935, das Assessorenexamen abzulegen. Ich bitte die LUB, meine Beurlaubung vom SA-Dienst von jetzt ab bis zum September zu erwirken. Laut Protokoll der Schulleiterkonferenz hält die LUB bei Studienreferendaren eine Beurlaubung vom SA-Dienst fünf Monate vor dem Examen für unbedingt erforderlich. Da ich aber innerhalb von fünf Monaten mir das erarbeiten muß, wozu mir normalerweise noch ein Jahr zur Verfügung gestanden hätte, scheint mir eine Beurlaubung besonders dringlich. Ich muss erwähnen, daß mir für meine Vorbereitung zum Examen als Arbeitszeit nur die Abende und Sonntage zur Verfügung stehen, da ich vormittags im Schuldienst vollauf beschäftigt bin und da diese Tätigkeit nicht besoldet wird, nachmittags mir meinen Unterhalt durch Erteilung von Privatstunden verdienen muß. Ich bitte die LUB, für mich ein Gesuch an die Gruppenführung der SA weiterzuleiten, ich bin SA-Mann im Sturm 4/15.“7

Daraufhin wandte sich OSR Theodor Mühe am 14.5.1935 an den Führer der SA-Gruppe „Hansa“, den Gruppenführer und NSDAP-Reichstagsabgeordneten Herbert Fust, mit der Bitte, Hans Reimers in der verkürzten Zeit des Referendariats in Vorbereitung auf den Auslandseinsatz für einige Zeit vom SA-Dienst zu befreien. Theodor Mühe argumentierte: „Für einen solchen Austausch nach England kommen alljährlich nur zwei Studienreferendare für Hamburg in Betracht. Da die der Behörde hierfür vorliegenden Meldungen nicht gering sind, spricht die auf Reimers gefallene Wahl für ihn, zumal nur Referendare in Frage kommen, die Gewähr dafür bieten, daß sie die deutschen Interessen im Ausland in angemessener Form auch unter den gegenwärtigen besonders schwierigen Umständen jederzeit vertreten.“8

Da die Entnazifizierungsakte von Hans Reimers im Hamburger Staatsarchiv nicht auffindbar ist, kann nur vermutet werden, wie Reimers seine SA-Mitgliedschaft begründet haben würde. Wahrscheinlich hätte er darauf hingewiesen, dass die Genehmigung für einen Auslandsschuldienst nur mit nachgewiesenen Aktivitäten in NS-Organisationen möglich gewesen wäre. Das ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Karriere, auch zu Beginn einer Schullaufbahn, hatte den Preis von Anpassung, Opportunismus und tatsächlicher oder vermeintlicher Begeisterung für die Arbeit in NS-Organisationen. Und Hans Reimers wusste offenbar, was für seinen Weg notwendig war. Als weiteren Schritt hatte Reimers geplant, beim Auswärtigen Amt in Berlin die generelle Verwendung im Auslandsschuldienst genehmigt zu bekommen. Dafür setzte sich OSR Wilhelm Oberdörffer in einem Schreiben am 8.1.1936 an das Auswärtige Amt ein: „Herr Dr. Reimers ist ein außerordentlich befähigter Jugenderzieher im besten Sinne des Wortes. Er hat natürliches pädagogisches Geschick und versteht es durch sein freundliches, aber bestimmtes Auftreten, sich bei der Jugend aller Altersstufen ohne jede Schwierigkeit durchzusetzen. Herr Dr. Reimers verfügt über ausgezeichnete wissenschaftliche Kenntnisse und hat sich in der Zeit seiner praktischen Ausbildung so gut entwickelt, dass ihm ein Teil seiner Ausbildungszeit geschenkt werden konnte. Sein Auftreten ist sicher und gewandt, so dass er jeder Situation, auch in gesellschaftlicher Hinsicht, unbedingt gewachsen ist. Ich wüsste aus der großen Zahl der Studienreferendare, die ich kennengelernt habe, kaum einen zu nennen, der den Ansprüchen, die an einen Lehrer im deutschen Auslandsschuldienst gestellt werden müssen, so vollkommen gerecht wird wie Herr Dr. Reimers. Dr. Reimers hat sich auch in England jetzt mit dem nötigen Takt und der erforderlichen Selbstbehauptung sehr gut eingeführt und sollte für die in Aussicht genommene Stellung in Madrid als Bewerber an erster Stelle in Frage kommen. Politisch ist Dr. Reimers, der der SA angehörte, einwandfrei.“9

Es ist bemerkenswert, wie viel Rückhalt Hans Reimers schon mit 28 Jahren in der Schulverwaltung gefunden hatte. Und an dem Schreiben von Wilhelm Oberdörffer wurde deutlich, welche als notwendig gesehene Funktion der Hinweis auf die SA-Mitgliedschaft hatte. Der Plan, in den Auslandsschuldienst zu wechseln, realisierte sich nicht. Aber die Aufmerksamkeit von OSR Dr. Oberdörffer erwies sich als hilfreich, war dieser doch verantwortlich für die Privatschulen.

Nach dem Auslandsschuljahr wurde Hans Reimers am 1.10.1936 als Studienassessor an der privaten Wichernschule eingestellt. Am 1.5.1937 trat Reimers in die NSDAP ein, am 23.12.1936 hatte er geheiratet, die in Kirkcaldy/Schottland geborene deutsche Staatsangehörige Rut Weihe, mit der er drei Kinder bekam.10

An der Wichernschule war Hans Reimers erst angestellt, dann ab dem 1. April 1940 als Studienrat tätig. Gleichzeitig fungierte er als stellvertretender Schulleiter und nebenamtlich als Leiter des Schülerheims der Schule.11 Da Schulleiter Richard Ackermann seit Kriegsbeginn als Offizier in den Krieg gezogen war, fiel Reimers an der Schule schon früh die leitende Funktion zu. Insbesondere durch die Aufarbeitung des ehemaligen Schulleiters Dietrich Hölscher und der ehemaligen Lehrerin der Wichernschule, Hildegard Thevs, ist die Arbeit von Hans Reimers in der Leitungsfunktion gut dokumentiert.12

Hans Reimers’ Hauptverantwortung für die Arbeit an der Wichernschule fiel in eine schwierige Zeit. Der Krieg hatte begonnen, Schulleiter Richard Ackermann befand sich im Kriegsdienst und die Schulverwaltung überlegte, die Privatschulen zu verstaatlichen. Der gesamte Prozess dieses Verfahrens wurde in der Festschrift der Wichernschule zum 125-jährigen Jubiläum 1999 ausführlich und präzise dargestellt.13

Eine zentrale Rolle in diesem Verfahren spielte der damals 31-jährige Hans Reimers, der die Schule faktisch leitete: „Am Sonnabend, dem 16. September 1939 nachmittags 15 Uhr tritt das durch Einberufung zur Wehrmacht stark zusammengeschmolzene Kollegium zusammen. Das ist ein ungewöhnlicher Zeitpunkt. Es gibt dafür aber auch einen bedeutenden Anlaß: die Zukunft der Schule. Das Problem ist den Kollegen seit über einem Jahr bekannt. Sie haben immer wieder darüber gesprochen. Natürlich haben sie auch von den Plänen gehört, die Wichernschule als selbständige Stiftung vom Rauhen Haus abzutrennen. Std. Ass. Dr. Reimers, seit dem 26. August 1939 stellvertretender Schulleiter, eröffnet die Konferenz und kommt ohne Umschweife zur Sache: ‚Die Behörde hat beschlossen, die Wichernschule aufzulösen … Infolge Fehlens von Lehrkräften und aus wirtschaftlichen Gründen sollen die Privatschulen sofort, nicht erst zum 1.4.1940 aufgelöst werden. Der Staat übernimmt die Sicherstellung der Lehrkräfte. Dabei sollen einige Schulen verstaatlicht werden.‘ Das hat das Kollegium nicht erwartet. Keine eigene Stiftung, sondern Schließung der Wichernschule. Verteilung aller Schüler und Lehrer auf die umliegenden öffentlichen Schulen. Die Existenzsicherung der Kollegen ist nicht gefährdet. Der Staat wird sich um sie kümmern. Daß dessen Gründe nicht ganz uneigennützig sind, ist jedem klar. Bei dem zum Teil kriegsbedingten Lehrermangel kann man die frei werdenden Privatschullehrer gut gebrauchen. Aber wenn die Wichernschule schon nicht als selbständige Stiftung weitergeführt werden kann, warum wird sie dann nicht wenigstens als Staatsschule erhalten?“14

Hans Reimers war eng an den Gesprächen mit der Schulbehörde und dort insbesondere mit dem für die Privatschulen zuständigen OSR Oberdörffer beteiligt. Er erklärte dem Kollegium, dass dem Verwaltungsrat des Rauhen Hauses die Alternative gestellt worden war: Entweder wird die Schule vom Staat im Ganzen übernommen oder sie wird aufgelöst. „Der Verwaltungsrat habe sich nicht dazu durchringen können, das Rauhe Haus zu teilen. Zu der Sitzung am 14. September 1939 sei kein Vertreter der Schule hinzugezogen worden. Er, Dr. Reimers, habe mit zwei Mitgliedern Fühlung aufgenommen, die sich beide mit aller Macht für die Verstaatlichung eingesetzt hätten. Trotzdem habe sich der Verwaltungsrat dagegen erklärt. Darauf habe Oberschulrat Dr. Oberdörffer den Befehl zur Auflösung erteilt. Der Lehrkörper geht an den Staat über.“15

In der Festschrift wurde dazu konstatiert: „Vermutlich hat es nach dieser Darstellung im Kollegium eine heftige Diskussion gegeben. Das Protokoll berichtet: ‚… wird vom Kollegium der Versuch gemacht, die Schule zu erhalten. Der Verwaltungsrat ist wohl nicht umzustimmen, auch will der Staat nicht enteignen. Kollege Reimers hat mit dem Kreisleiter Rücksprache genommen und wird als Letztes eine Petition an den Reichsstatthalter vorbereiten. Alles das ist Privatinitiative.“16

Hier erwies es sich offenbar als hilfreich, dass Hans Reimers über gute Kontakte zum Parteiapparat und zur Schulverwaltung verfügte. „In den nächsten Tagen zeigt sich, wie im Dritten Reich Staat und Partei miteinander verflochten sind. Nachdem also der Staat durch die Schulverwaltung als Teil der Gemeindeverwaltung der Hansestadt Hamburg eine Entscheidung getroffen hat, versuchte Dr. Reimers – nicht als angestellter stellvertretender Schulleiter, sondern als Parteigenosse – über die Parteischiene, diese Entscheidung wieder rückgängig zu machen. Er muß am Wochenende bei dem Kreisleiter der NSDAP des Kreises 5, Pg. Amandus Brandt, vorstellig geworden sein und ihn um Unterstützung gebeten haben. Denn am Montag, dem 18. September 1939, wendet sich der an den Reichsstatthalter und Gauleiter Pg. Karl Kaufmann mit der dringenden Bitte, ‚mit allen Mitteln die Schule, wenn es sein muß, zwangsweise für ihre außerordentlich umfangreichen und wichtigen Aufgaben nicht nur im Interesse der Hamburgischen Bevölkerung, sondern auch der Auslandsdeutschen zu erhalten‘.“17

NSDAP-Kreisleiter Amandus Brandt argumentierte, dass aus staatspolitischen Gründen die besonderen Aufgaben der Wichernschule gerade in Kriegszeiten nicht eingeschränkt werden dürften, „besonders die Erziehung der Kinder, deren Väter im Felde ständen und deren Mütter in der Industrie arbeiteten, und die Unterbringung von Kindern aus Hamburger Familien, die durch den Tod des Vaters besonders hart getroffen wären“.18

Dass Hans Reimers mit dem NSDAP-Kreisleiter gesprochen hatte, ging auch daraus hervor, dass dieser besonders die Bedeutung des Schülerheims betont hatte. Außerdem war dem Schreiben von Brandt eine ausführliche Stellungnahme von Hans Reimers beigefügt.19 Reichsstatthalter Kaufmann reagierte sofort, forderte Senator Karl Witt auf, dazu einen Bericht abzugeben, OSR Wilhelm Oberdörffer wurde eingeschaltet und auch Schulleiter Richard Ackermann, als Offizier an der Front, telegrafierte aus Brest-Litowsk: „Die Wichernschule zu schließen während ich vor dem Feind stehe ist völlig unmöglich. Ich bitte von allen Maßnahmen Abstand zu nehmen.“20 Als Richard Ackermann kurzfristigen Fronturlaub bekommen hatte, um an den Verhandlungen um die Zukunft der Wichernschule teilnehmen zu können, gab es schnell ein Ergebnis. Auf der Konferenz, der letzten, die Ackermann leiten konnte, wurde das Ergebnis verkündet: „Ab 1. Oktober 1939 wird die Wichernschule und Internat ein Staatsbetrieb. Die Unterzeichnung der Übernahme ist bereits vollzogen durch Vertreter des Rauhen Hauses, der Schulverwaltung, Herrn Direktor Ackermann und durch den Reichsstatthalter.“21

Der Beitrag von Hans Reimers für das Gelingen war aber auch nicht unerheblich. Und Reimers übernahm auch gleich wieder die Leitung der Schule.

Hildegard Thevs wies darauf hin, dass Hans Reimers sich noch andere Verdienste um die Schule erworben hatte: „Er organisierte im Herbst 1940 die Verlegung des Schülerheims und freiwilliger Externer, ca. 130 Jungen, in ein „luftsicheres“ Gebiet, und zwar in das Schloss Kranzbach in Oberbayern (nahe von Schloss Elmau gelegen und gleichzeitig mit ihm gebaut, aber nie als Schloss genutzt. Ob die Wahl des Ortes auf seine Initiative oder auf Weisung einer der an der KLV beteiligten Einrichtungen geschah, ist bisher nicht geklärt). Ab 1932 diente Schloß Kranzbach als „Hochgebirgsheim der Inneren Mission“ zur Erholung. Die Vermutung, dass es trotz der Verstaatlichung der Wichernschule die Verbindungen innerhalb der Inneren Mission Hans Reimers ermöglichten, das Schülerheim in eine Einrichtung der Inneren Mission zu verlegen, wird dadurch gestützt, dass neben dem KLV-Lager der Erholungsbetrieb weiter lief.

Das Lagerleben war einerseits durch die Strukturen der KLV bestimmt, aber auch durch Hans Reimers’ Fortführung der Prinzipien der Erziehung im Schülerheim. Entgegen den Vorgaben von Baldur von Schirach für die Durchführung der KLV, setzte Hans Reimers HJ-Führer aus der eigenen Schule ein, gab ihnen Unterricht, beschäftigte eine höhere Zahl von Lehrkräften und Erzieherinnen als vorgeschrieben und orientierte die Aufenthaltsdauer der Schüler an ihren bzw. ihrer Eltern Bedürfnissen und den Unterrichtsmöglichkeiten der Wichernschule in Hamburg. Bei den Ehemaligen hat die Erinnerung an Schloß Kranzbach einen hohen Stellenwert, ausgenommen bei denjenigen, die Schnee hassten.

Am 13.4.1942 mussten die 85 in Schloß Kranzbach verbliebenen Schüler umziehen, weil kein Dieselkraftstoff mehr geliefert wurde. Auf die Wahl aller weiteren KLV-Stätten hatte Hans Reimers keinen direkten (indirekt über die Lagerleiterlehrer) Einfluss mehr.“22

Die Schulverwaltung hatte langfristig andere Pläne mit der Wichernschule, deren Schüler zu einem großen Teil während des Krieges in der Kinderlandverschickung waren oder 1943 als Luftwaffenhelfer eingezogen wurden. „Entscheidend für die weitere Entwicklung der Wichernschule war im Mai 1943 die Teilung der bisherigen Wichernschule in eine Internatsschule, die der Inspektion der Deutschen Heimschulen unterstellt werden sollte, und in eine bezirksmäßig gebundene öffentliche Oberschule, die mit Beginn des neuen Schuljahres im September 1943 die Arbeit aufnehmen sollte. Als Direktor für die Internatsschule, die spätere Heimschule, ist der bisherige stellvertretende Schulleiter Dr. Reimers in Aussicht genommen. Sein Auftrag umfasste sowohl die Schulleitung als auch die Internatsangelegenheiten. Für die abzutrennende Oberschule ist der Studienrat Dr. Jünemann als späterer Direktor in Aussicht genommen.“23

 

Soweit kam es für Hans Reimers nicht. Am 15.4.1943 wurde er zur Dolmetscher-Kompanie einberufen. 1944 war Reimers Sonderführer einer Dolmetscher-Kompanie in der Lettow-Vorbeck-Kaserne, wurde am 1.4.1944 zum Oberstudienrat befördert und zum 1.9.1944 nach Berlin versetzt. Seine Entlassung aus der Wehrmacht erfolgte am 7.5.1945.24

Der Ruf von Hans Reimers an der Wichernschule war nicht unumstritten. Positiv sahen einige Schüler, dass Reimers Brieffreundschaften mit englischen Jugendlichen initiiert hatte, die bis 1939 andauerten.25

Wichtiger aber war, dass sie durch die Verstaatlichung keinen Bruch mit ihrem vorherigen reformpädagogisch orientierten Unterricht erfuhren. Dieser kam aber auch: „1942 hörten etliche Schüler gerüchteweise, daß die Wichernschule in eine Napola, eine nationalpolitische Erziehungs- bzw. Aufbauanstalt umgewandelt werden sollte und daß Herr Dr. Reimers als der damalige stellvertretende Direktor dieses betreibe. Im Gegensatz zu Ackermann habe er Uniform getragen, einige charakterisieren sie als die der SS, jemand erinnert noch das Schaudern, mit dem er die SS-Runen auf dem Revers wahrgenommen habe. Mit Dr. Reimers seien auch Flaggenappelle mit Horst-Wessel- und Deutschlandlied häufiger geworden; er habe ganz und gar Parteilinie vertreten und sei merkwürdigerweise nicht eingezogen worden. Gegen Dr. Reimers opponierten Eltern und erreichten, daß er mit seinen Plänen scheiterte.“26 Was die vermeintliche SS-Mitgliedschaft von Hans Reimers betraf, lag hier offensichtlich eine Verwechslung vor, wie auch andere ehemalige Schüler berichteten: „Zweifellos war Dr. Reimers ein strammer Pg, aber nicht in der SS, und es war SS-Sturmbannführer Prof. Dr. Pein, der, 1942 als Direktor eingesetzt, die Wichernschule zusammen mit dem Rauhen Haus dazu ausersehen hatte, als SS-Heimschule/deutsche Heimschule vor der Partei zu rangieren.“27

An der Wichernschule gab es auch einige Schüler, die der Swing-Jugend angehörten. Laut Festschrift der Wichernschule fühlte sich mindestens einer dieser Swing-Jugendlichen, Bruno Himpkamp, von Dr. Reimers denunziert.28 (Er wurde später als Mitglied der Weißen Rose inhaftiert und vor den Volksgerichtshof zitiert.) Reimers hatte am 31.1.1942 die Lehrerkonferenz darüber informiert, dass es „Swing-Neigungen in der Schule, besonders in den Klassen 5 gebe, vier Schüler müssen die Schule verlassen. Die Klassenlehrer werden gebeten, sich über die Freizeitgestaltung ihrer Schüler an den Nachmittagen zu informieren. Die Kollegen werden ersucht, bei den Schülern auf anständiges äußeres Auftreten, Haarschnitt, Huttracht usw. zu achten.“29

Irritationen löst aus, dass Hans Reimers die Gestapo ins Haus holte, um u.a. Mitgliedschaften im „Penny-Club“ und das Tragen von alliierten, insbesondere sowjetischen Truppenabzeichen, zu kontrollieren. Konsequenzen folgten nicht, weil ein hochdekorierter Vater intervenierte (Mauss). Auch Eltern hatten sich über Hans Reimers bei der Schulverwaltung beschwert: „Seit letzter Zeit häufen sich die Klagen aus dem Kreise der Elternschaft gegen den Leiter der Schule und auch gegen verschiedene Lehrer. Da ich seinerzeit, als die Wichernschule noch Privatschule war, dem Vorschlage des damaligen Leiters, Herr Oberstudiendirektor Ackermann, Herrn Dr. Reimers zu seinem Stellvertreter zu ernennen, zustimmte, fühle ich mich in gewisser Hinsicht der Elternschaft gegenüber für die Handlungen des Herrn Dr. Reimers moralisch verantwortlich. Die Klagen über Herrn Dr. Reimers und verschiedene andere Lehrer bestehen schon seit langem, trotzdem habe ich geschwiegen in der Hoffnung, dass Herr Dr. Reimers sich mit der Zeit in sein Amt einfinden würde. Leider ist aber gerade das Gegenteil der Fall, und das letzte Vorkommnis, das sich mit einem meiner Söhne ereignete, hat mich jetzt bewogen, die Schulverwaltung anzurufen, damit sie Gelegenheit nehmen kann, sich über die wahren Verhältnisse, die in der Wichernschule herrschen, ein genaues Bild zu machen. Herr Dr. Reimers besitzt nicht die Fähigkeiten eines Schulleiters, wie ihn der nationalsozialistische Staat verlangen muss. Er ist überheblich, anmaßend und im höchsten Grade unhöflich sowohl gegenüber den Schülern als auch den Eltern. Gerade über die Unhöflichkeit gegenüber den Eltern liegen verschiedene Beweise vor. Es kann wohl nicht gutgeheißen werden, wenn sich ein Lehrer, der stellvertretend mit der Schulleitung betraut ist, aus falsch verstandenem nationalsozialistischen Führerprinzip heraus zu einem Autokraten entwickelt, der gegenüber den Schülern und der Elternschaft einen höchst unversöhnlichen Ton anschlägt.“

Auf dem Schreiben des Vaters Hans Zuschlag ist von OSR Albert Henze vermerkt: „Nach telefonischer Rücksprache mit Herrn Zuschlag erledigt.“30

Persönlich hatte das Mitglied des Elternrats der Wichernschule, Hans Zuschlag, an Reimers am 19.3.1942 geschrieben: „Mit Bedauern habe ich schon seit langer Zeit Beschwerden vieler Eltern über Ihre Leitung der Schule gehört. Ich habe Sie wiederholt sprechen wollen. Wenn ich in Ihrem Büro eine Nachricht hinterließ, dass Sie mich einmal anrufen möchten, ist ein solcher Anruf niemals erfolgt. Es ist festgestellt, dass Sie als Schulleiter den Kontakt mit der Elternschaft vollkommen verloren haben, wie Sie es auch nicht für nötig erachtet haben, den Elternverein zusammenrufen zu lassen, um die Eltern über alles zu unterrichten, was von gemeinsamem Interesse ist. Sie haben jetzt seit zweieinhalb Jahren die stellvertretende Leitung der Schule, aber es ist eine allgemeine Ansicht, dass Sie die Schule nicht so geführt haben, wie es im Sinne unseres unvergesslichen Oberstudiendirektors Ackermann war. Da ich seinerzeit dem Vorschlag des Herrn Ackermann, Sie zu seinem Stellvertreter zu ernennen, zustimmte, schmerzt mich diese Feststellung heute umso mehr.“31

Die Nachkriegskarriere von Hans Reimers ist bemerkenswert und erstaunlich. Seit Juni 1945 war er persönlicher Mitarbeiter von Senator Heinrich Landahl. Möglicherweise hatte Wilhelm Oberdörffer, der selbst kurz als Leiter der Schulverwaltung im Gespräch war und der als Oberschulrat für die Privatschulen einen engen Kontakt zu Reimers gehabt hatte, als dieser faktisch die Wichernschule leitete, Verbindungen hergestellt. Bemerkenswert ist auch, dass Hans Reimers einen sehr guten Kontakt zu dem ehemaligen Vorsitzenden der Gesellschaft der Freunde und Schulrat vor 1933, Kurt Zeidler, hatte. Zeidler war nach 1945 wieder Schulrat für die Volksschulen geworden und eine entscheidende Person in den Entnazifizierungsverfahren. Zeidler hatte gemeinsam mit Hans Reimers mehrere Bände englischer Schulbücher produziert: „Come along“, Lehrgang in englischer Sprache, Bände I bis IV, die vom Westermann Verlag vertrieben wurden. Ein anderer Band war der „Kernwortschatz englischer Sprache“, ebenfalls von Kurt Zeidler und Hans Reimers gemeinsam herausgegeben. Es gehörte offenbar zu den besonderen Stärken von Hans Reimers, die richtigen Kontakte herzustellen und zu pflegen.

In seinen Erinnerungen hatte Kurt Zeidler 1975 den Kontakt zu Hans Reimers beschrieben und seine Wertschätzung für diesen deutlich gemacht:

„Kaum war der Unterricht wieder aufgenommen worden, da wurde der Schulbuchmangel empfindlich spürbar. Die bisher benutzten Bücher wurden verboten, da sie vom Nazigeist durchsetzt waren. Die Militärregierung forderte dazu auf, Entwürfe für Schulbücher zur Lizenzierung einzureichen. Ich hielt den Augenblick für gekommen, mein Manuskript ‚Fundamental English‘, das ich seit Jahren bereithielt, aus der Schublade zu holen. Da ich die englische Sprache nicht als Linguist, sondern als Lehrer lediglich von der didaktisch-methodischen Seite her angepackt hatte, war mir von vornherein klar gewesen, dass ich für den Fall einer Veröffentlichung einen Anglisten als Mitarbeiter gewinnen müsse. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Der damalige Oberstudienrat Dr. Hans Reimers war der gegebene Mann für die Aufgabe, zumal wir uns auch in unseren pädagogischen Auffassungen nahestanden. Senator Landahl hatte ihn als Dolmetscher in die Behörde geholt. Wenn auch in Hamburg, wo schon von altersher jeder Volksschüler Englisch lernt, sich jeder Engländer darauf verlassen kann, sich mit den meisten Hamburger verständigen zu können, war doch für den amtlichen Verkehr zwischen den deutschen und den britischen Stellen, für Besprechungen in größerem Rahmen sowie für den Schriftwechsel und für die Herstellung authentischer zweisprachiger Texte wichtiger amtlicher Verlautbarungen ein kompetenter Mittelsmann erforderlich. Dr. Reimers war längere Zeit als Lehrer an einer englischen Schule tätig gewesen und beherrschte das Englische wie seine Muttersprache. Ihm zuzuhören, wenn er in gemischtsprachigen Sitzungen gewandt und treffsicher dolmetschte, war ein reines Vergnügen. Außerdem war er ein gewandter Unterhändler. Wie sehr es in gewissen Situationen auf die Wendigkeit, Schlagfertigkeit und den guten Stil ankommt, hatte ich bei abendlichen Arbeitssitzungen im Zimmer von Dr. Reimers häufig Gelegenheit zu beobachten, wenn von britischer Seite angerufen wurde, um Rückfrage zu halten, Missverständnisse aufzuklären, Zweifel auszuräumen, Einwendungen zu begegnen, Bedenken zu zerstreuen. Hier kam Dr. Reimers seine Vertrautheit mit dem englischen Lebensstil und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten des Briten zustatten, und oft konnte er durch ein Scherzwort, eine persönliche Wendung des Gesprächs schwebende Angelegenheiten, deren Bereinigung sich unter anderen Umständen lange hingezogen hätten im Handumdrehen regeln. Seinem stillen Wirken ist es weitgehend zu verdanken, dass wir im Hamburger Schulwesen nach dem Zusammenbruch in mancher Hinsicht schneller voran kamen als andere deutsche Länder. Nach gemeinsamer Durcharbeitung meines Entwurfs zu ‚Fundamental English‘ erklärte Dr. Reimers sich bereit, die Mitverantwortung für das Lehrbuch zu übernehmen. Auch Senator Landahl nahm Einsicht in das Manuskript und ermutigte mich. So reichte ich es der Erziehungsabteilung der Militärregierung ein und hatte die Genugtuung, mit ‚Fundamental English‘ die britische Schulbuchlizenz Nr. 1 zu erhalten.“32

Nach dieser Beschreibung ist deutlicher, warum Hans Reimers die Unterstützung zweier entscheidender Männer im Hamburger Schulwesen so kurz nach Ende der NS-Herrschaft errungen hatte.

Am 30.8.1945, also drei Monate, nachdem Senator Heinrich Landahl Hans Reimers mit seinen vorzüglichen englischen Sprachkenntnissen an seine Seite geholt hatte, erhielt Reimers die Bestätigung durch die britische Militärregierung. Er wurde in Kategorie V, Entlasteter, eingruppiert. Neben den Leumundszeugen im unmittelbaren Umfeld von Senator Landahl hatte sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass Reimers erst zum 1.5.1937 in die NSDAP eingetreten war und seine Mitgliedschaft in der SA als notwendiger Opportunismus eines in der Ausbildung Befindlichen interpretiert werden konnte, der kaum eine Chance hatte, zu diesem Zeitpunkt als Lehrer für das höhere Lehramt in den öffentlichen Schuldienst zu kommen.

Als Heinrich Schröder, der unbestechliche Vertreter als Oberschulrat für die höheren Schulen in allen Entnazifizierungsverfahren, überraschend starb, wurde Hans Reimers am 1.2.1950 zum kommissarischen Oberschulrat ernannt, am 1.4.1955 wurde er Leitender Regierungsdirektor, vertrat Hamburg im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz und spielte als Hamburger für Deutschland mit auf der internationalen Bildungsbühne.33

Hans Reimers gelang es nicht nur, Senator Landahl für sich einzunehmen. Die Begründung, ihn am 1.4.1955 zum Leitenden Regierungsdirektor zu befördern, wurde von Landahls Nachfolger, dem Schulsenator des konservativen Hamburg-Blocks vorgebracht, von Prof. Hans Wenke. Dieser schrieb:

„Herr Dr. Reimers war bisher als Personalreferent für die Wissenschaftlichen Oberschulen tätig; zugleich war er mit der Behandlung aller Fragen beauftragt, die die ständige Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland und das ausländische Schulwesen betreffen. Hierdurch ergab sich für mich eine regelmäßige Zusammenarbeit, in der die Klärung grundsätzlicher schulpolitischer Fragen im Mittelpunkt stand. Dabei hat sich mir folgendes Bild seiner fachlichen und persönlichen Eignung ergeben: er ist in ungewöhnlichem Maße befähigt, jedes einzelne Problem in die größeren Zusammenhänge des deutschen und ausländischen Schulwesens zu stellen. Er vereinigt eine solide und vielseitige Sachkenntnis mit durchaus selbständiger Urteilsfähigkeit und weiß, seine Überlegungen und Ratschläge in einer höchst präzisen und klaren Form in Wort und Schrift zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere ist er nicht den Schulfragen in engem Sinne verhaftet, er hat vielmehr einen weiten Blick für die allgemeinen Tatsachen des gesellschaftlichen und politischen Lebens und für die Anliegen und Interessen anderer Verwaltungsbereiche und Behörden. So vermag er auch schwierige Verhandlungen mit anderen Instanzen in der Absicht einer abwägenden sachgerechten Verständigung bestimmt und zugleich unaufdringlich zu führen. Die Überzeugungskraft liegt stets in der Darlegung wohldurchdachter Argumente, niemals im Versuch zu billiger Überredung. Sehr nützlich wirkt sich seine Fähigkeit aus, sich ungewöhnlich schnell in neue Aufgaben und Probleme hineinzudenken und sie gründlich zu durchleuchten. Einen Beweis für die Richtigkeit meiner Beurteilung wird man darin sehen dürfen, daß die Ständige Konferenz der Kultusminister ihn kürzlich auf Vorschlag des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen mit einstimmigem Beschluss zum Vorsitzenden ihres Schulausschusses als Nachfolger von Präsident Dr. Löffler, der seit vier Jahrzehnten in der Schulverwaltung steht, gewählt hat. Aus allen diesen Gründen schlage ich die Ernennung des Herrn Dr. Reimers zum leitenden Fachbeamten vor.“34

Mit seinen Sprachkompetenzen und den Erfahrungen in der Kultusministerkonferenz trat Hans Reimers sehr schnell auch auf die internationale Bühne. So ernannte ihn Außenminister Clemens von Brentano am 8.9.1958 nach dem Kulturabkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Spanien zum Mitglied des deutsch-spanischen gemischten ständigen Ausschusses.35 Im Jahr darauf schickte ihn von Brentano auch in den entsprechenden deutsch-englischen Ausschuss,36 er wurde berufen, die Reifeprüfungen in Teheran, Beirut, Bagdad und Kabul abzunehmen, ebenso wie in Italien.37 Dann wurde er für die Kultusministerkonferenz in den nächsten Jahren zu Konferenzen nach Mailand, Genua, Rom, Amsterdam, Genf, Teheran, Straßburg, zur UNESCO nach Paris, nach Washington, zu mehreren Tagungen in verschiedenen amerikanischen Städten vom 15.2. bis zum 31.3.1961 in die USA geschickt.38 Wozu umfassende Sprachkenntnisse gut sein können.

1968 wurde Hans Reimers in den Exekutivrat der UNESCO gewählt, er war zu diesem Zeitpunkt immer noch Vorsitzender des Schulausschusses der KMK.39

An 30.4.1973 trat Hans Reimers in den Ruhestand. Die staatliche Pressestelle veröffentlichte dazu eine Erklärung, in der noch einmal auf die Anfangstätigkeit von Hans Reimers rekurriert wurde, mit Hinweis darauf, warum er nach 1945 auch für die britische Militärregierung ein wichtiger Mann gewesen war:

„Seine ersten Verdienste erwarb sich Dr. Reimers in den Nachkriegsjahren, als er mit der Militärregierung über die Freigabe von Schulen über Reparaturen und Versorgung, über die Unterrichtserlaubnis für Lehrer, die Genehmigung von Lehrplänen und Unterrichtsmaterial verhandelte. An der Vorbereitung des ersten Schulgesetzes, das 1949 in Kraft trat, war er neben Landesschulrat Matthewes und Oberschulrat Schröder maßgeblich beteiligt.“40

Auch der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wandte sich zu diesem Anlass mit einem veröffentlichten Schreiben an Hans Reimers: „Der Pressemitteilung aus Anlass der 156. Plenarsitzung der KMK verdanke ich die Nachricht, daß Sie mit Erreichen der Altersgrenze aus dem aktiven Hamburger Staatsdienst ausscheiden. Die Nachricht verblüffte, man war darauf nicht gefaßt, und es fällt auch schwer, sich den Schulausschuss der KMK und die vielfältige internationale Vertretung der deutschen Kulturpolitik ohne Dr. Hans Reimers vorzustellen. Ich bitte Sie, aus diesem Anlass alle guten Wünsche der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft für den neuen, sicher nicht minder aktiven Lebensabschnitt entgegenzunehmen. Dies verbindet sich mit dem Dank für die meist sehr unauffällige, weltmännische, aber wirkungsvolle Arbeit, die sie in die mühsame Aufgabe des Koordinierens der föderalistischen Schulsituation der Bundesrepublik gesteckt haben. Ich freue mich, daß Sie den Vorsitz des Auslandsschulausschusses als Sonderauftrag der Kultusministerkonferenz beibehalten, und bin sicher, daß die Zusammenarbeit zwischen den Repräsentanten des Auslandsschulwesens in der GEW und Ihnen nun noch intensiver werden kann. Mit sehr freundlichen Grüßen, Ihr Erich Frister.“41

Hans Reimers starb am 6.10.1989.42

Das Profil ist nachzulesen in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile, Band 2. Hamburg 2017. Das Buch ist erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg.

Anmerkungen
1 Alle Angaben nach der Personalakte Sahrhage, StA HH, 361-3_A 2626.
2 Ebd.
3 Hildegard Milberg: Oberlehrer und höhere Schulen, in: Reiner Lehberger/Hans-Peter de Lorent (Hg.): „Die Fahne hoch“. Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz, Hamburg 1986, S. 197f.
4 Tobias Mittag: Zur Geschichte der deutschen Schullandheimbewegung von den Anfängen in der Weimarer Republik bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung Heinrich Sahrhages. Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung, Hamburg 1994, S. 16.
5 Zitiert nach Mittag, ebd.
6 Mittag a.a.O., S. 20.
7 Zitiert nach Mittag, a.a.O., S. 21.
8 Heinrich Sahrhage: Schullandheim Hoisdorf der Thaer-Oberrealschule vor dem Holstentor in Hamburg, ein Film von neuzeitlicher Erziehungsarbeit, Hamburg 1928; zitiert nach Mittag, a.a.O., S. 19.
9 „Freie Presse“ vom 21.4.1952.
10 Siehe Personalakte Sahrhage, a.a.O.
11 Heinrich Sahrhage: Das Schullandheim – eine pädagogische Tat, ursprünglich Rundfunkvortrag, NORAG vom 27.8.1925, zitiert nach Mittag, a.a.O.; S. 27.
12 Mittag, a.a.O., S. 27f.
13 Siehe die Biografie Bruno Peyn, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile, Bd. 1, Hamburg 2016, S. 480ff.
14 Zitiert nach Mittag a.a.O., S. 22.
15 Mittag a.a.O., S. 23.
16 Ebd.
17 Mittag a.a.O., S. 37.
18 Mittag a.a.O., S. 38.
19 Siehe Mittag a.a.O., S. 40.
20 Zitiert nach Mittag a.a.O., S. 45.
21 Zitiert nach Mittag a.a.O., S. 46.
22 Siehe Reiner Lehberger: Kinderlandverschickung, in: Lehberger/de Lorent 1986, S. 370ff.
23 Sahrhage, zitiert in: 75 Jahre Schullandheim Hoisdorf, Festschrift zum Jubiläum 1922–1997, herausgegeben vom Verein der Freunde des Albrecht-Thaer Gymnasiums (Schullandheim Hoisdorf) e.V., Hamburg 1997, S. 40.
24 Mitteilungsblatt des NSLB, Gauwaltung Hamburg, Nr. 2/1941 S. 9.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Ebd., S. 10.
28 Ebd.
29 Alles BArch, NSDAP-Kartei Sahrhage, zitiert nach Mittag a.a.O., S. 8. Alle weiteren Dokumente ebd.
30 Heinrich Sahrhage: Die Schule im Grünen, in: Volk und Zeit, Nr. 17, Berlin 1931; siehe: Mittag a.a.O., S. 8f.
31 Heinrich Sahrhage: Jeder Schule ihr Schullandheim? In: HLZ 16/1934, S. 225.
32 HLZ 46/1935, S. 445.
33 Mitteilungsblatt des NSLB, November 1940, S. 87.
34 Personalakte a.a.O.
35 HLZ 16/1934, S. 225.
36 Schreiben Erwin Zindlers an Wolf vom 10.9.1943, StA HH 361-10 KLV_15. Siehe auch Biografie Zindler in: de Lorent 2016, S. 538ff.
37 Personalakte, a.a.O.
38 Ebd.
39 Schulleiter Karl Heinz Wilgalis: Erinnerungen an Dr. Sahrhage, in: Holstentorwarte (HTW) 47/1972,
S. 13ff.; zitiert nach Mittag, a.a.O., S. 12f.
40 Tobias Mittag bezifferte das von Heinrich Sahrhage produzierte und hinterlassene Archiv, das 1994 noch weitestgehend ungeordnet war und für das Mittag eine erste Ordnung vorlegte, auf einen Umfang von 10,7 laufende Meter. Ein Teil der Unterlagen ist auch aufbereitet im Hamburger Staatsarchiv. Siehe Mittag, a.a.O., S. 62ff.
41 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg. Geschichte ihrer Entwicklung und Durchführung während des Krieges 1939/45, StA HH, 361-2 VI, OSB VI_1547.
42 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 2.
43 Ebd.
44 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 3.
45 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 4.
46 Ebd.
47 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 12.
48 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 13.
49 Heinrich Sahrhage: Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hamburg, a.a.O., S. 22.
50 StA HH, 361-10_53 Bd. 4.
51 Entnazifizierungsakte Sahrhage, StA HH, 221-11_Ed 1154
52 StA HH, 362-2/22_P 7
53 Entnazifizierungsakte Sahrhage, a.a.O.
54 Stellungnahme vom 13.2.1947 und 29.4.1947, ebd.
55 Ebd.
56 Mittag a.a.O., S. 51.
57 Landesschulrat Matthewes hatte mit Einverständnis von Senator Landahl 12 Stunden Entlastung vorgeschlagen. Am Ende wurde er für einen Schultag vom Unterricht befreit. Siehe Personalakte, a.a.O.
58 Ebd.
59 „Hamburger Echo“ vom 19.4.1952.
60 „Hamburger Freie Presse“ vom 21.4.1950.
61 Personalakte, a.a.O.
62 Siehe: Hamburgische Biografie, Personenlexikon Bd. 1, Hamburg 2001, S. 262.
63 Ebd.
64 Mittag a.a.O., S. 58f.
 

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NS-Dabeigewesene

Aufsätze

Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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