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Heinrich Hehn

(1.9.1893 Hamburg – 21.8.1977)
Werklehrer an der Oberrealschule Eimsbüttel
Fuhlsbüttler Straße 683 (Wohnadresse, 1935)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat das Portrait über Heinrich Hehn verfasst und in seinem Buch „Täterprofile Band 2“ veröffentlicht.

Heinrich Hehn gehörte im Hamburger NSLB zu den Funktionären um Hinrich von der Lieth, die schon vor der nationalsozialistischen Herrschaft in Hamburg in der Lehrerschaft agitierten. Freilich blieb der NSLB vor dem März 1933 ohne große Resonanz. Das lag auch an dem Personal, das den NSLB repräsentierte. Hehn, seit 1932 Kassenwart im NSLB, führte mit einer kleinen Gruppe „alter Kämpfer“ aus dem Kreis der NSLB-Funktionäre in der Folge einen unerbittlichen Kampf gegen den von NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann etablierten neuen NSLB-Gauamtsleiter Willi Schulz, seinen Stellvertreter, Albert Mansfeld und den Mann für die sozialen Kassen im NSLB, Kurt Holm. Diese Auseinandersetzung machte deutlich, dass es neben der vergleichsweise moderaten Linie der Gruppe um Schulz und Mansfeld eine weitere Gruppe fanatischer und antisemitischer Aktivisten gab, die sich mit der neuen NSLB-Führung nicht abfinden mochte. Ein Kampf, der zwar die Parteigerichte beschäftigte, letztlich allerdings nicht zu gewinnen war, aber immerhin zeigte, warum in Entnazifizierungsverfahren immer wieder darauf verwiesen wurde, „es habe noch Schlimmere gegeben“.

Heinrich Hehn war am 1.9.1893 in Hamburg geboren worden.1 Er arbeitete an verschiedenen höheren Schulen als Werk- oder Zeichenlehrer. Gerhard Nöthlich erlebte ihn als Schüler an der Oberrealschule Eimsbüttel am Kaiser-Friedrich-Ufer : „,Vorrrdermann! Heil Hitler!! Setzen!!!‘ So pflegte einer unserer Lehrer seinen Unterricht zu eröffnen, den wir allerdings nur einmal pro Woche erlebten, denn es betraf das Fach ‚Werken‘. Wir stellten Linolschnitte her oder fertigten allerlei aus heutiger Sicht unnützes Gerät an, zum Beispiel einen kleinen Ständer aus dünnem Sperrholz, auf dessen schräg geneigter, am oberen Ende halbrund gesägter Fläche Vaters Taschenuhr zu hängen kam – zur besseren nächtlichen Beobachtung, wenn die Sirenen heulten, was in Hamburg ab 1940/41 regelmäßig der Fall war, mit der Folge, daß Vormittagsstunden ‚wegen Fliegeralarms‘ ausfielen, je nach Zeitpunkt und Dauer des nächtlichen Luftangriffs.“2

Und etwas später beschrieb er den „zackigen Werklehrer“ noch genauer: „Er war einer der wenigen auf den ersten Blick erkennbaren ‚Nazis‘, die ich in jener Zeit am Kaifu erlebte. Zumindest durch seine Reden wies er sich als solcher aus, indem er, während wir sägten, raspelten und hämmerten, aus der ‚Kampfzeit‘ berichtete. Damit meinte er die Zeit vor 1933, in der um den Sieg noch gekämpft wurde. Er sprach davon vorgeschobenen Kinns und mit fast bebender Stimme: ‚Junge! Da ha’m wir so manchmal gekämpft, mit dem Revolver in der Faust und mit der Faust in der Tasche‘ und was dergleichen Unsinn mehr war. Er beeindruckte die meisten von uns nicht. Etliche Gleichgesinnte unserer Klasse fanden ihn, und was er sagte, lustig, und wir nahmen ihn auf unsere Eimsbütteler Schippe, so gut wir konnten.“3

Dass Heinrich Hehn Antisemit war, musste nicht nur Gerhard Nöthlich erleben: „Hehn war der Typ des Nazis übelster Sorte, wie wir, meine Freunde und ich, ihn empfanden. Mehrfach wies er sich in markigen Worten als ‚alter Kämpfer‘ aus. Mich hatte er eine Zeit lang besonders im Visier. Zu jener Zeit entsprach ich dem äußeren Erscheinungsbild eines jüdischen Jugendlichen, wie es vor allem durch Julius Streichers Hetzblatt ‚Der Stürmer‘ verbreitet wurde (Schaukästen an jeder zweiten Straßenecke). Ich hatte weiches, welliges Haar, eine (bis heute) ausgeprägte, gebogene Nase, eben eine ‚Juden-Nase‘. Der Werklehrer Hehn sprach mich im Zusammenhang mit einem Pogromthema, wahrscheinlich mit dem 9. November 1938, in der folgenden Weise an: ‚Na, wenn sie dich gesehen hätten – dich hätten sie gleich mitgenommen!‘ Zu Hause erzählte ich von dem Vorfall, den ich als 13-jähriger im damaligen politischen Kontext als beleidigend empfinden musste. Mein Vater machte sich, Beschwerde führend, auf den Weg zur Schulleitung, woraufhin Hehn sich zurückhielt. Mein Vater hatte lediglich auf seinen ‚arischen Nachweis‘ hingewiesen. Aus heutiger Sicht: eine Schande, zu dergleichen gezwungen gewesen zu sein!

Wir Schüler sahen in Hehn einen Dummkopf. Immer wieder baten wir ihn, uns Exemplare ‚aus seinen Werken‘ vorzuführen. Es blieb bei der Bitte. Hehn hatte nichts zu bieten.“4

Im Lehrerzimmer der Oberrealschule Eimsbüttel war Hehn als Denunziant aufgetreten, wie Kurt Minners im Entnazifizierungsverfahren des damaligen Schulleiters Ernst Dätz bekundete: „Am Tage nach der Zerstörung der Hamburger Synagogen äußerten sich zwei Kollegen im Lehrerzimmer, diese Zerstörung sei zu verurteilen, die Synagogen seien Gotteshäuser. Diese Äußerungen zeigte der damalige Zeichenlehrer Hehn bei Dir. Dätz an, in der Absicht, die beiden Kollegen wegen ihrer Äußerungen zu belangen. Es verdient betont zu werden, dass Dir. Dätz sich schützend vor die beiden Kollegen stellte und es mit großer Mühe schließlich erreichte, dass Hehn seine Anzeige zurückzog.“5

Heinrich Hehn war vorher an der Klosterschule tätig gewesen. Seit dem 1.12.1931 gehörte er der NSDAP an. Seit dem 12.2.1932 war er Mitglied im NSLB. Er rühmte sich in einem Schreiben an den Senator für Kulturangelegenheiten, „sehr geehrter Parteigenosse von Allwörden“, damit, dass die Klosterschule „die älteste nationalsozialistische Zelle an den höheren Schulen Hamburgs überhaupt“ besessen hätte.6 Hehn nannte auch stolz die Namen der Parteigenossen dieser Zelle: „Hehn, Gottsleben, Schwabe, Löhr, Henningsen.“7

Diese Gruppe war dann auch verantwortlich für die Suspendierung und Entlassung ihres jüdischen Kollegen, Walter Bacher, der seit 1927 Lehrer an der Klosterschule gewesen war. „Am 26.5.1933 wurde Dr. Bacher auf Drängen antisemitischer Kollegen beurlaubt. Nach neunwöchiger Wartezeit, in der es ihm trotz mehrfacher Eingaben nicht gelang, persönlich gehört zu werden oder die Gründe für die plötzliche Beurlaubung zu erfahren, erfolgte unter dem 29. Juli seine Entlassung.“8

Heinrich Hehn hatte von 1900 bis 1908 in Hamburg die Volksschule besucht, danach die Landeskunstschule bis 1914, ebenfalls in Hamburg. Von 1914 bis 1918 war er im Kriegsdienst und kehrte dekoriert mit dem EK II zurück. Mit der Hitler-Bewegung war er möglicherweise in Kontakt geraten, als er von 1920 bis 1923 in München an der Kunstakademie studiert hatte.9

Charakteristisch für Heinrich Hehn war auch seine Arbeit im NSLB und insbesondere die Art und Form der Auseinandersetzung innerhalb der Organisationen mit Willi Schulz und dessen Gruppe. Schlecht für Hehn, dass er und seine „alte Garde“ mit Guido Höller und Erwin Gottsleben den Kampf verloren. Die Form und die Argumente ihrer Anschuldigungen gegen die neue NSLB-Führung zeigten, welch Geistes Kinder Hehn und seine Gruppe waren und dass sie für politische Führungsfunktionen auch in NS-Organisationen nicht geeignet waren. Der Machtkampf im NSLB ist von mir in der Biografie Willi Schulz im ersten Band der „Täterprofile“ beschrieben worden.10 Auch Uwe Schmidt hatte sich ausführlich damit beschäftigt und die Geschichte des NSLB nachgezeichnet.11

Auffällig war bei Hehn, Gottsleben und Höller neben ihrer dogmatischen nationalsozialistischen Überzeugung die mangelnde Sensibilität in der Übergangssituation im April 1933, bei dem Versuch, die Mitgliedschaft der „Gesellschaft der Freunde“ auf den Weg in den NSLB mitzunehmen. Gleichzeitig ging es ihnen nicht zuletzt um persönliche Interessen. Hehn wollte Funktionsträger (Kassenverwalter) im NSLB bleiben, Gottsleben strebte nach Festanstellung und Höller wollte als Schriftsteller anerkannt und nicht in den Ruhestand versetzt werden.

Besonders Heinrich Hehn und Guido Höller eröffneten eine „Schlammschlacht“ gegen Willi Schulz und Albert Mansfeld, die neuen Führer des NSLB. Ihr Ziel war die Verhinderung der Übernahme des NSLB durch Schulz und Mansfeld. Während Mansfeld Gründungsmitglied des Hamburger NSLB gewesen war12, bezichtigten sie Schulz, der erst Ende 1932 dem NSLB beigetreten war, ein Karrierist zu sein. Die „alten Kämpfer“ des NSLB strengten ein Parteiausschlussverfahren gegen Schulz an, aber auch gegen den neuen Verantwortlichen der Kassen des NSLB, Kurt Holm.13

Um den Charakter und das politische Verständnis von Heinrich Hehn zu kennzeichnen, sollen die von ihm vorgebrachten Argumente vorgestellt werden.14 Am 9.12.1934 untermauerte Hehn seinen Antrag auf Ausschluss des Gauamtsleiters des NSLB und Landesschulrat Willi Schulz aus der NSDAP „wegen parteischädigenden Verhaltens. Als verantwortlicher Herausgeber der Hamburger Lehrerzeitung tat er folgendes: a.) Er besetzte die führenden Posten mit aktiven Mitgliedern des marxistisch verseuchten Genitivvereins; b.) Er lässt seit Übernahme der Zeitung Anzeigen jüdischer Firmen zu; c.) Er duldete, dass auf Beschwerden von Firmen und Parteigenossen Antworten erteilt wurden, die das Ansehen der Partei untergraben müssen.“15

Form und Diktion seiner Schreiben zeigen, dass Heinrich Hehn für die Funktionärstätigkeit des NSLB tatsächlich nicht das notwendige Format besaß. In einem längeren Schriftsatz an das Gaugericht der NSDAP-Hamburg vom 3.1.1935 schrieb er, „dass ich mit Pg. Mansfeld, nachdem ich ihm, etwa Ende Mai 33, als er uns in unserer Arbeit stören wollte, ziemlich deutlich die Türe wies, kaum mehr gesprochen habe. Es muss hier unbedingt eine denkwürdige Versammlung rekonstruiert werden. Es wird ein sehr interessantes Licht in dieses Dunkel kommen, was außerordentlich aufschlussreich sein wird. Ich beantrage dringend, hierzu die Zeugen zu laden. (…) Im März 33 erfuhren wir zufällig, dass Pg. Schulz wieder unterwegs war, um unsere Absetzung zu erreichen. Von der Lieth und ich fuhren ihm sofort nach. In Berlin erreichten wir ihn. Er war im ersten Augenblick sehr erschrocken; aber trotzdem sehr freundlich. Pg. Schulz sagte uns nichts über den Zweck seiner Reise. Am nächsten Morgen erfuhren wir dann, dass er nach München weitergereist wäre. Von der Lieth und ich fuhren sofort auf den Flugplatz Tempelhof; aber das Flugzeug nach München startete vor unseren Augen. Wir mussten nun den Zug nach München benutzen und kamen dort an, als Pg. Schulz bereits wieder abgereist war. Pg. Schemm (Führer der NSLB-Reichsorganisation, Anm. de.L.) gab uns einen offenen Brief an Pg. Kaufmann mit, der nach einer langen Besprechung mit uns in unserem Beisein diktiert worden war. In Berlin erreichten wir Pg. Schulz wieder. Es war spät abends, als wir dort zusammentrafen. Pg. Schulz war wieder sehr aufgeräumt, sagte uns aber nichts über den Erfolg seiner Reise. (…) Nachdem wir einige Herren der neuen Gauführung des NSLB Hamburg bei einem ‚Poularden­essen’ im Ratsweinkeller gestört hatten, und ich mit Holm, Schlorf im Beisein von Höller die sehr erregte Auseinandersetzung auf der Straße fortsetzte, bestätigte mir Holm noch einmal, nach deutlicher Vorhaltung meinerseits, dass auch er Schulz für einen zu weichen Charakter halte.“16

Es war eine schwierige Zeit für Willi Schulz, der für die Neuaufstellung des NSLB den Auftrag von Gauleiter Karl Kaufmann hatte.17

Die Schlichtheit von Heinrich Hehn wurde auch in seinen weiteren Ausführungen deutlich: „Mein Absetzungsschreiben habe ich, ohne mich irgendwie aufzuregen, in den Papierkorb getan. Einige Tage darauf erschien Pg. Schulz mit unserer Ablösung in der Geschäftsstelle. Als zweiter, mit einem verlegenen Grinsen, unser ‚Mitarbeiter Denys‘. Ohne viel Federlesens wurde, zur Hauptsache von mir, die ganze Gesellschaft, Mansfeld war auch mit dabei, an die frische Luft befördert. Von der Lieth rief verschiedentlich, laut durchs Treppenhaus nach Pg. Schulz. Er aber hatte es vorgezogen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Dem Denys versuchte ich das Hakenkreuz abzunehmen, was auch Pg. Kaufmann gemeldet wurde. Denys flog ziemlich unsanft hinaus. Pg. Mansfeld versuchte schnellstens zu entkommen, indem er fortwährend rief: ‚Fassen Sie mich nicht an! Ich gehe schon! Fassen Sie mich nicht an!‘ usw. (…) Pg. Schulz ganzes Sinnen und Trachten aber ging trotzdem darauf hinaus, uns auf irgendeine Art loszuwerden. Er hielt sein dem Gauleiter und uns gegebenes Wort nicht und machte sich wortbrüchig. Pg. Schulz trieb eine jammervolle Kompromisspolitik. Alles blieb, wie es war, nur die NSLB-Front aus der Kampfzeit versuchte er zu zerschlagen. Während der Kampfzeit hat er in unserem Kreise nie etwas bedeutet. Er passte zu uns so wenig wie Feuer zum Wasser.“18

Für Hehn und seine „alte Garde“ schien das wirkungsvollste Argument, dass Schulz mit der alten „Gesellschaft der Freunde“ zusammenarbeitete. Aber darin bestand gerade der Coup der Gleichschaltung, in einem gemeinsamen Vorstand fast zur Hälfte Vertreter der bisherigen „Gesellschaft der Freunde“ einzubeziehen. Bei Hehn las sich das so: „Pg. Schulz hat nicht dem NSLB gedient, sondern dem alten ehemals rotverseuchten Genitivverein. Pg. Schulz hat dessen wirtschaftliches und geistiges Erbe verwaltet wie er es in der Wahl seiner Mitarbeiter, in der Haltung der Hamburger Lehrerzeitung und in der Verwaltung des Curiohauses bekundet hat. Über die Judenanzeigen unter dem Hakenkreuz in der NS-Lehrerzeitung habe ich in meinem Schreiben vom 20. Februar 1935 dem Obersten Parteigericht einiges Material zugeleitet. Dass aber das Curiohaus als die Geschäftsstelle des NS-Lehrerbundes, sich bis auf den heutigen Tag, seiner Überlieferung gemäß, als ‚Hilfssynagoge‘ der Hamburger Judenschaft erhalten hat, mag Anlage 10 unter Beweis stellen.“19

Eine groß angelegte Dokumentation zu den „Judenanzeigen“ in der HLZ unterm Hakenkreuz wurde vorgelegt. Hehn und seine Leute übten erheblichen Druck aus, Anzeigen von jüdischen Firmen nicht länger entgegenzunehmen. In der Anlage fügte Heinrich Hehn auch ein Schreiben des Schulleiters der Volksschule Lutterothstraße 34, Otto Gerhard an, der auch zu den „alten Kämpfern“ gezählt wurde. Gerhard schrieb am 10.10.1934 an den stellvertretenden NSLB-Gauamtsleiter und Personalverantwortlichen im NSLB, gleichzeitig Oberschulrat für die Volksschulen, Albert Mansfeld: „Ich wende mich persönlich an Sie, nachdem ich erfolglos an den Lehrerbund geschrieben habe. Es betrifft die Daueranzeigen jüdischer Firmen in der Lehrerzeitung. Vor den großen Ferien schrieb ich an den Lehrerbund, dass dauernd jüdische Anzeigen in der Lehrerzeitung erschienen, es handele sich hier wohl um einen Irrtum, und ich bitte um Abstellung. Ich erhielt keine Antwort, und hatte erst recht damit keinen Erfolg, denn in jeder Nummer erschienen wieder jüdische Anzeigen, in der letzten sogar vier. Sie können sich wohl vorstellen, dass mir dies Verfahren als Hohn erscheint, zumal wenn zwischen den Anzeigen noch der echt jüdische Wahlspruch steht: Eine Hand wäscht die andere. Ich könnte nun kurzerhand die Lehrerzeitung abbestellen, um mich nicht dauernd ärgern zu müssen, aber da ich damit der Sache nicht diene, wende ich mich an Sie, und bitte Sie, die Aufnahme von Anzeigen jüdischer Firmen endgültig zu unterbinden.“20

Hehn, Gottsleben und Höller erreichten, dass Anzeigen jüdischer Firmen nicht mehr abgedruckt wurden, ihr Hauptziel verfehlten sie allerdings. Willi Schulz setzte sich durch. Der ehemalige Vorsitzende des NSLB, Hinrich von der Lieth, fand seinen Frieden mit Willi Schulz.21 Heinrich Hehn hingegen wurde am 4.9.1934 aus dem NSLB ausgeschlossen.22 Am 4.2.1935 teilte das Gaugericht der NSDAP Hehn dann auch den Ausschluss aus der Partei mit.23 Nachdem Hehn dagegen Beschwerde eingelegt hatte, entschied die II. Kammer des Obersten Parteigerichts in der Sitzung vom 20.3.1936: „Das Oberste Parteigericht erteilt dem Angeschuldigten in Abänderung des Gaubeschlusses eine Verwarnung und erkennt ihm die Fähigkeit zur Bekleidung eines Parteiamtes bis zum 20.3.1939 ab.“24

Heinrich Hehn wohnte bis Ende 1936 in Hamburg und zog dann mit seiner Frau und zwei Kindern nach Stormarn, ab 1939 lebte er in Glashütte. Aus dem Hamburger Schuldienst wurde er am 20.6.1945 entlassen. Danach verbrachte er 15 Monate in einem Internierungslager.25

Weil sein Wohnort in Stormarn lag, ließ sich Hehn dort auch entnazifizieren. Wie argumentierte nun der „Nazi übelster Sorte“, wie sein ehemaliger Schüler, Gerhard Nöthlich, ihn charakterisierte. Natürlich stellte er seine „Kämpfe“ im NSLB und die Parteiordnungsverfahren als „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ dar. Er gab zwar seine Mitgliedschaften von 1931 bis 1945 in der NSDAP an, schrieb aber in dem ausführlichen Entnazifizierungsfragebogen am 2.6.1945 doch tatsächlich bei Frage 110: „Waren sie seit 1933 Mitglied einer verbotenen Oppositionspartei oder Gruppe?“: „Ja.“ Frage 111: „Welcher?“: „Ohne Namen.“ Frage 112: „Seit wann?“: „Von Sommer 1933 an.“26

Da war es schon hilfreich für ihn, im Entnazifizierungsausschuss in Stormarn niemanden mit Hamburger Innensichten dabei zu haben. Allerdings fielen auch dort manche Ungereimtheiten in Hehns Erklärungen auf, so dass er zusätzliche Fragen beantworten musste: „Wie ist es zu erklären, dass Sie laut dem politischen Fragebogen einmal vom 1.12.1931 bis 45 der NSDAP angehört haben und zum anderen wollen Sie 1934 aus der Partei ausgeschlossen worden sein?“ Hehn notierte in seiner Antwort die Daten des Gaugerichts und die Aufhebung des Ausschlusses durch das Oberste Parteigericht. Er ergänzte, wahrheitswidrig: „In dem Fragebogen wollte ich zum Ausdruck bringen, dass ich in Hamburg aus der Partei ausgeschlossen wurde. Nach dem Ausschluss bin ich nach Stormarn verzogen und habe mich von der Partei zurückgezogen.“27

Auf die Frage: „Welches sind die Gründe, die zu Ihrem Ausschluss aus der Partei, dem NS-Lehrerbund und Beurlaubung aus dem Schuldienst geführt haben?“, schrieb er: „Ich sah nach der Machtübernahme manche meiner Ideale nicht mehr oder wenig verwirklicht. Besonders die zunehmende Bekämpfung des Christentums machte mir Sorge. Ich trat öffentlich gegen Korruption und Bonzentum auf.“28

Von außen betrachtet hätte die Antwort heißen müssen: „Ich ertrug es schwer, nicht länger einer der Bonzen im NSLB sein zu dürfen.“

Heinrich Hehn gab noch eine Zusatzerklärung zu seinem Fragebogen ab. Seine Begründung, er wolle „so erscheinen, wie ich gekämpft und auch gelitten habe, um die Sauberkeit in der Bewegung, gegen Korruption und Engstirnigkeit, für die Gesetze der Menschlichkeit.“29

Der Antisemit Heinrich Hehn, der gegen NSLB-Gauleiter Willi Schulz vor das Parteigericht zog, weil dieser „zu weich und kompromissbereit“ gewesen war und „jüdische Anzeigen“ in der HLZ gestattet hatte. Aber davon wusste man nichts bei der Entnazifizierung in Stormarn.

Die Gründe seines NSDAP-Eintritts beschrieb Hehn so:

„Als Künstler bin ich zur Partei gekommen, weil ich vor der Machtübernahme, in der Zeit des sogenannten ‚Expressionismus‘ – den ich aus tiefstem Herzen ablehnte – keine Möglichkeit fand, mit meinen Bildern, die in einer feinen, sauberen Manier gemalt waren, an die Öffentlichkeit zu kommen. Einmal in der Partei, kämpfte ich als Idealist gegen alle Auswüchse, die meiner Meinung nach dazu angetan schienen, das Ansehen der Partei zu untergraben. Ich bekämpfte die Korruption und setzte mich ein für die Gesetze der Menschlichkeit, gegen die Engstirnigkeit und für die Sauberkeit. Aus tiefster Überzeugung stand ich auf dem Boden des positiven Christentums. Die Judenfrage wollte ich gelöst wissen im Sinne der Zionisten, wie eines Martin Buber und eines Jakob Goldschmidt.“29

Es war bei der Entnazifizierung von Vorteil, auf Parteiordnungsverfahren hinweisen zu können, weil man verdächtigt wurde, „Zersetzungsarbeit“ geleistet und eine Parteiorganisation als „Parteisumpf“ bezeichnet zu haben.30

Heinrich Hehn und seiner Tochter waren 1943 auch in Glashütte Schwierigkeiten erwachsen, weil die Tochter, aus welchen Motiven auch immer, Kontakte zu französischen Zwangsarbeitern aufgenommen hatte, die nach den Bombenabwürfen auf Hamburg nach Stormarn gekommen waren.

Bei so viel demonstriertem „Widerstand“ gegen die Nationalsozialisten wurde Heinrich Hehn von dem Ausschuss in Stormarn am 24.11.1948 in Kategorie V als Entlasteter eingruppiert. Unmittelbar danach stellte er in Hamburg einen Antrag auf Wiedereinstellung. Kurt Zeidler, ehemaliger Vorsitzender (Proponent) der Gesellschaft der Freunde und Schulrat bis 1933, nach 1945 wieder in der Schulbehörde und Mitglied des Fachausschusses für die Entnazifizierung, kannte Hehn natürlich aus dessen öffentlich demonstrierter Kampfzeit. Er schrieb an den für das ­höhere Schulwesen zuständigen Oberschulrat Heinrich Schröder am 16.12.1948: „Dem schleswig-holsteinischen Entnazifizierungsausschuss kann das Recht, den früheren technischen Oberlehrer Heinrich Hehn zu kategorisieren, nicht abgesprochen werden, da Hehn auf schleswig-holsteinischem Gebiete wohnt. Nach Auffassung des Fachausschusses schließt die vorgenommene Einstufung in Kategorie V jedoch nicht die Aufhebung der durch die zuständigen Stellen in Hamburg entschiedenen Entlassung aus dem Schuldienst ein. Diese kann gegebenenfalls nur durch einen hamburgischen Berufungsausschuss vorgenommen werden. Es wäre dem Antragsteller anheim zu geben, einen dahingehenden Antrag zu stellen.“31

Das nun wollte Hehn auf keinen Fall. Aus nachvollziehbaren Gründen. Hehn argumentierte am 24.1.1949, sicherlich juristisch beraten:
„1. Es widerstrebt mir, mich zweimal entnazifizieren zu lassen. §24 Abs. 3 des Entnazifizierungsgesetzes besagt: ‚Gegen den Betroffenen findet nur ein Verfahren statt.‘

2. Seit dem 24.12.1948 ist die Entscheidung in meiner Entnazifizierungssache vor dem Spruchgericht Ahrensburg nach Gruppe V rechtskräftig geworden.

3. §50 des Entnazifizierungsgesetzes vom 10.2.1948 erklärt: ‚Rechtskräftige Entscheidungen der Entnazifizierungsausschüsse anderer Länder werden anerkannt.‘

4. Da ich seit 1937 in Stormarn wohne, musste ich nach dem Gesetz in Ahrensburg entnazifiziert werden. §24 Abs.1: „Die örtliche Zuständigkeit des Ausschusses wird durch den gegenwärtigen Wohnsitz des Betroffenen begründet.‘

5. Auf der Konferenz der Länderchefs am 9. Juni 1948 in Hannover wurde ein Übereinkommen getroffen hinsichtlich der Anerkennung der Entscheidungen der Spruchgerichte, dahingehend, daß diese Entscheidungen grundsätzlich anerkannt werden.“32

Das war sicherlich ein wesentlicher Teil der Rechtslage. Für Heinrich Hehn ging es aber auch um den Widerspruch gegen die Entlassung aus dem Hamburger Schuldienst und dafür war ein Berufungsverfahren in Hamburg unabweislich. Das wurde Hehn am 25.1.1949 unmissverständlich mitgeteilt.33

Daraufhin stellte sich Heinrich Hehn dem Verfahren. Am 20.4.1949 befasste sich der Beratende Ausschuss für die Entnazifizierung mit Hehn und entschied unter Vorsitz von Johann Helbig:
„Hehn erscheint uns als politischer Wirrkopf, der etwa 1938 im Kollegium der Oberschule Eimsbüttel gegenüber Herrn Rudolf Jacobs offen die Brandstiftungen an jüdischen Gotteshäusern verteidigte, der andererseits aber nach der Katastrophe 1943 sich für ausländische Zwangsarbeiter einsetzte, so dass er wie seine Tochter kriegsgerichtlich verfolgt worden. Eine Wiederbeschäftigung kommt nach unserer Ansicht keineswegs infrage. Wir befürworten aber die Gewährung eines größeren Prozentsatzes der Pension, umso mehr als er bereits in Schleswig- Holstein in die Kategorie V eingestuft ist.“34

Der Berufungsausschuss befasste sich am 7.5.1949 mit der Angelegenheit Hehn. Dieser bestritt dabei, in dem Gespräch mit Rudolf Jacobs die Brandstiftung der jüdischen Synagogen begrüßt zu haben: „Ich habe 1938 beim Gespräch mit Dr. Jacobs gar nicht gewusst, dass in der Nacht vorher jüdische Gotteshäuser in Brand gesetzt waren. Am Morgen ist ein Gespräch zwischen mir und einem Dritten aufgekommen, in dem über jüdische Gotteshäuser gesprochen wurde. Über dieses Gespräch ist Dr. Jacobs hinzugekommen und ich habe mich mit ihm über den Begriff ‚Gotteshaus‘ unterhalten, wobei ich ihm meine Auffassung mitgeteilt habe. Diese Unterhaltung betraf rein die christliche Ideologie, bezog sich jedoch nicht auf irgendeinen konkreten Fall einer Brandstiftung von Gotteshäusern. Ich bestreite, seinerzeit die Brandstiftung der Synagogen gutgeheißen zu haben.“35

Diese Erklärung ließ der Ausschuss nicht gelten. „Hehn ist durch seinen frühen Parteieintritt erheblich belastet. Er hat auch 1938 im Kollegium gegenüber Dr. Jacobs eine Bemerkung über die Brandstiftung an jüdischen Gotteshäusern gemacht, die ihn belastet.“ Allerdings: „Dagegen hat er 1934 und nach der Katastrophe 1943 sich in scharfem Widerspruch zu den Auffassungen der NSDAP gesetzt und ist deswegen Anfeindungen seitens der NSDAP resp. anderer Behörden ausgesetzt gewesen. Der Berufungsausschuss ist daher der Auffassung, dass Hehn als Zeichenlehrer tragbar ist. Seine Einstufung in die Kategorie V erscheint berechtigt, da Hehn durch seine bisherige Ausschaltung seine politische Belastung gesühnt hat.“36

Hehn wurde nicht wieder in den Hamburger Schuldienst eingestellt. Im weiteren Verfahren ging es dann um die Gewährung der Pension für die Zeit von 1923 bis 1945, während der Hehn technischer Oberschullehrer in Hamburg gewesen war.

1950 wurde er in den Ruhestand gesetzt.

Heinrich Hehn starb am 21.8.1977.37

Das Buch „Täterprofile, Band 2, Hamburg 2017“ ist erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg.

Anmerkungen
1 Von Heinrich Hehn liegt keine Personalakte vor im Staatsarchiv Hamburg, lediglich seine Entnazifizierungsakte, StA HH, 221-11_Ed 7789
2 Gerhard Nöthlich: Am Kaifu im Dritten Reich, in: 100 Jahre Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer , Festschrift, Hamburg 1992, S. 63.
3 Am Kaifu im Dritten Reich, a.a.O., S. 65.
4 In einem Schreiben an mich vom 29.5.2016.
5 Entnazifizierungsakte Ernst Dätz, StA HH, 221-11_Ed 1053
6 Barbara Brix: „Land, mein Land, wie leb’ ich tief in dir“. Dr. Walter Bacher – Jude, Sozialdemokrat, Lehrer an der Klosterschule, Hamburg 1997, S. 20.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
10 Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 99ff. Siehe auch die Biografie Kurt Holm, S. 701ff. im selben Band. Siehe auch: Hans-Peter de Lorent: Der Nationalsozialistische Lehrerbund, in: Reiner Lehberger/Hans-Peter de Lorent (Hg.): „Die Fahne hoch“. Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz, Hamburg 1986, S. 119ff.
11 Uwe Schmidt: Lehrer im Gleichschritt: Der Nationalsozialistische Lehrerbund Hamburg, Hamburg 2006.
12 de Lorent 1986, S. 119ff. Siehe auch die Biografie Albert Mansfeld in: de Lorent 2016, S. 118ff.
13 Siehe die Biografie Kurt Holm in: de Lorent 2016, S. 701ff.
14 Dieses Schreiben und alle weiteren Unterlagen aus dem Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 1026
15 Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 1030
16 Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 1032 und Bl. 1034
17 Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 1036 und Bl. 1038
18 Siehe Biografie Willi Schulz, in: de Lorent 2016, S. 99ff.
19 Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 0876
20 Berlin Document Center (BDC), OPG I 83_Bl. 808
21 Siehe auch die Biografie Hinrich von der Lieth, in: de Lorent 2016, S. 717ff.
22 Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
23 Ebd.
24 Ebd.
25 Schreiben von Heinrich Hehn an die Hamburger Schulbehörde vom 1.12.1948, Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd.
31 Ebd. Siehe auch zur Entnazifizierungspraxis: Die unvollendete Entnazifizierung, in: de Lorent 2016, S. 38ff.
32 Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
33 Aktenvermerk von Regierungsamtmann Werber vom 25.1.1949, Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
34 Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
35 Entnazifizierungsakte Hehn a.a.O.
36 Ebd.
37 Laut Auskunft der Altregistratur der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg vom 8.6.2016.
 

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muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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