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Hans Muchow

(3.4.1900 Hamburg – 30.11.1981)
Lehrer: Walddörferschule, Gymnasium Eppendorf
Wiesendamm 142 (Wohnadresse 1955)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Hans Muchow ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  
Ein Mann mit zwei Gesichtern. Ein Scharlatan
„Er war vor 1933 ausgesprochen linksorientiert, so dass seine nach der sogenannten Machtübernahme festzustellende Gesinnungsänderung eine starke Verwunderung bei seinen antinationalsozialistischen Freunden und Bekannten hervorrief. Man sah in ihm einen Renegaten, dessen deutlich erkennbarer Ehrgeiz die Triebfeder seines Handelns war, und man distanzierte sich von ihm.“

Hans Muchow war während der Weimarer Republik ein aufstrebender, ambitionierter Pädagoge gewesen, der als besonders fortschrittlich galt. Er war der jüngere Bruder von Martha Muchow, einer engen Mitarbeiterin des jüdischen Psychologieprofessors William Stern, der von den Nationalsozialisten 1933 entlassen wurde und in die Emigration flüchtete. Martha Muchow nahm sich 1933 verzweifelt das Leben und ihr Bruder Hans Muchow verwaltete danach ihr schriftstellerisches Erbe. In den 1950er Jahren baute er darauf eigene jugendpsychologische Schriften auf, die eine große Verbreitung fanden. Wie passt das zusammen mit der Rolle, die Hans Muchow von 1940 bis Ende des Krieges im „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ spielte, wo er, wie meine Recherchen ergeben haben, an führender Stelle tätig war? Nach 1945 versuchte er erfolgreich, sein Wirken in Rosenbergs Rauborganisation zu verschleiern.
Er war offenbar ein Mann mit zwei Gesichtern. Ein Scharlatan.

Hans Muchow wurde am 3.4.1900 in Hamburg als Sohn des Zollinspektors Johannes Muchow und dessen Frau Dorothee (Dora) geboren. Nach Besuch der Volksschule wechselte er auf die Oberrealschule an der Bogenstraße , anschließend an das Heinrich-Hertz-Realgymnasium, wo er 1919 Abitur machte. Er hatte denselben Schulbildungsweg wie sein Freund Adolf Vogel, mit dem ihn später eine dunkle Geschichte verband.[1] Anschließend studierte er an den Universitäten Hamburg und München Deutsch und Geschichte für das höhere Lehramt. Die erste Lehrerprüfung bestand er in Hamburg am 7.3.1923, um danach in den Vorbereitungsdienst zu wechseln, den er an der Oberrealschule Eimsbüttel absolvierte und am 22.9.1924 „mit Auszeichnung“ bestand.[2]
Hans Muchow gehörte zu der Lehrergeneration, die ihre Ausbildung beendeten, als die ökonomische Situation sich verschlechterte und die Einstellungsmöglichkeiten auf feste Stellen begrenzt waren. Das mag zu der schwankenden Haltung und dem Opportunismus bei vielen, wie auch bei ihm, beigetragen haben.
Muchow erwies sich als ambitionierter Lehrer, aber auch als jemand, der seine Lebensgeschichte je nach Bedarf anders akzentuierte und neu schrieb. In einem Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker erklärte Muchow 1978, aus einem jugendbewegten und reformorientierten Jugendmilieu zu stammen. Zinnecker hatte die Aussagen von Hans Muchow über seinen Zugang zum Psychologischen Laboratorium von Professor William Stern und Martha Muchow notiert:
„Als Oberschüler gehörte ich zu den ersten Versuchspersonen. Ich musste die Begabungsprüfungen für intelligente Volksschüler als Primaner ausprobieren. Das ging nicht gut, ich habe das alles zu ernst genommen und mir zu viel dabei gedacht. Auch in den Prüfstand für Hamburger Straße nbahnschaffner, der im Institut aufgebaut war, bin ich eingestiegen. Mit den vielen Lichtern und Zeichen kam ich nicht zurecht. Ich habe gesagt: ‚Wenn ein Kind oder ein Tier die Straße überquert, weiß ich, was ich zu tun habe. Aber bei diesen Blinkzeichen hier …!‘
Ich stand der Testpsychologie skeptisch gegenüber. Später habe ich als Lehrerstudent bei Professor Stern im Seminar gesessen, um Psychologie zu studieren. Meine Examensarbeit als Lehrerstudent handelte vom Begriff des Unbewussten bei Freud. Aber an eine Doktorarbeit habe ich nicht gedacht. Das lehnten wir von der Jugendbewegung her ab. Wir sagten, wenn einer etwas kann, dann muss er das auch ohne Prüfungen zeigen können. Bei wissenschaftlichen Zeitschriften, die sehr auf akademische Titel schauten, hat mir das später oft geschadet, wenn ich einen Artikel unterbringen wollte.“[3] Interessant ist, dass Hans Muchow diese Aufzeichnungen nicht autorisiert hatte und für die erste Wieder-Veröffentlichung des von ihm herausgegebenen Buches seiner Schwester Martha Muchow streichen ließ mit der Bemerkung: „Zu anekdotisch und für wissenschaftliche Einleitung nicht geeignet.“[4] Das Anekdotische war nicht das Problem, glaube ich, sondern der Versuch von Hans Muchow, sein Leben neu zu interpretieren und anders darzustellen. So wird er in den Autorenbeschreibungen von Verlagen seiner Bücher und bei Wikipedia stets als Psychologe bezeichnet[5], der er nie war. Er hatte vielleicht Vorlesungen von Prof. William Stern gehört, sein Beruf war der des Lehrers gewesen mit den Studienfächern Deutsch und Geschichte, auch wenn er später Bücher zu jugendpsychologischen Themen veröffentlichte.
Weiter, ebenfalls 1978 nicht zur Veröffentlichung autorisiert, sagte Muchow:
„Als junger Lehrer am Gymnasium war ich engagierter Vertreter der Arbeitsschule von Hugo Gaudig. Kulturpolitisch wussten die Hamburger Nazis am Anfang noch nicht so recht, welche Linie zu fahren sei. So kam es, dass meine Gerhart-Hauptmann-Schule in Richard-Wagner-Schule umbenannt wurde – an dem Tag, als Goebbels Hauptmann feiern ließ. Als der Vorsitzende des NS-Lehrerbundes meinen Unterricht nach den Grundsätzen der Arbeitsschule von Gaudig besuchte, sagte er doch tatsächlich: ‚Das ist der Unterricht, den die nationalsozialistische Schule braucht!‘“[6]
Auch hier suggerierte Hans Muchow, dass er mit den Nationalsozialisten nun überhaupt nichts zu tun hatte, das machte gerade die Pointe aus.
Bevor ich beschreibe, dass die falsche Spurenlegung sich fortsetzte, soll kurz der weitere berufliche Werdegang von Hans Muchow beschrieben werden.
Nach seiner zweiten Lehrerprüfung bemühte sich der Studienassessor Muchow um eine feste Anstellung, was ihm und seiner Generation an den höheren Schulen schwer gelang. Er bekam Lehraufträge, erst an der Oberrealschule Eimsbüttel, wo er den fast gleichaltrigen Dr. Adolf Vogel wiedertraf, den die gleichen ungesicherten Arbeitsverhältnisse drückten.[7]
Anschließend hatte er 1927 einen sechsmonatigen Lehrauftrag an der Walddörferschule und danach an der Aufbauschule, einer 1922 gegründeten Oberschule für Absolventen der Volksschule, die nach der siebten Klasse auf die höhere Schule übertreten wollten. Diese Schule war 1932 in Gerhart-Hauptmann-Schule umbenannt worden und 1933 in Richard-Wagner-Schule. 1939 wurde sie geschlossen.[8] An dieser Schule blieb Hans Muchow bis zum 31.3.1939, erst am 1.6.1930 war er fest angestellter Studienrat, zwei Jahre später, zum 31.8.1932 wurde er mit acht Stunden für Kurse am Institut für Lehrerfortbildung eingesetzt.[9]
In der Zeit seiner langjährigen Bemühungen um Festanstellung und für die Verbesserung der Lage der Assessoren hatte sich Muchow politisch engagiert. In der Zeit von 1928 an arbeitete Muchow laut Uwe Schmidt mit in einem Ausschuss des Hamburger Philologenvereins, um die materielle Absicherung der jungen Lehrer an höheren Schulen zu erreichen. Zusammen mit seinem Kollegen Adolf Vogel engagierte er sich auch in dem Pädagogischen Ausschuss des Hamburger Philologenvereins, der in „seinem pädagogischen Denken und Handeln von der Jugendbewegung beeinflusst wurde“, wie Uwe Schmidt schrieb.[10] Insbesondere für Hans Muchow sei dies nachweisbar, belegte Schmidt diese Aussage und verwies auf einen Aufsatz, den Muchow über seinen beruflichen Weg in der Schulzeitschrift der Walddörferschule geschrieben hatte unter der Überschrift „Wie ich Schulmeister wurde“. Darin hieß es:
„1916: ‚Ich gerate in den Wandervogel‘, 1919 orientiert an Fritz Köhne, Aufbau einer ‚Volksjugendbewegung‘. Die Jugendbewegung habe seine Auffassungen von Heimat und Gemeinschaft und sein Bild vom Menschen entscheidend geprägt.“[11]
Ganz eindeutig war die Orientierung von Hans Muchow auf den Hamburger Philologenverein offenbar nicht. Er wird in den Jahren 1930 bis 1933 auch als Mitglied der „Gesellschaft der Freunde“ verzeichnet.[12]
Dass Hans Muchow zweigleisig fuhr, hängt vermutlich mit der ungesicherten Berufsperspektive zusammen. Zusammen mit seinem Entnazifizierungsfragebogen gab er 1945 ein Schreiben an den Sprecher der Hamburger Lehrerkammer für die „Gesellschaft der Freunde“, Hans Brunckhorst, vom 11.5.1928, als Anlage mit ab, in der Muchow sich bereit erklärte, auf der Liste der „Gesellschaft der Freunde“ für die Lehrerkammer als Kandidat zur Verfügung zu stehen. Er schrieb:
„Nach einigen Besprechungen mit befreundeten Kollegen habe jetzt auch ich den Eindruck, dass meine Aufstellung auf dem Wahlvorschlag der Gesellschaft unter den jüngeren Philologen werbend wirken könnte, und ich glaube daher, mich der Aufforderung nicht entziehen zu sollen. Ich übersehe natürlich nicht, welche wahltaktischen und wahlarithmetischen Erwägungen noch in die Listenaufstellung hinein spielen, möchte aber doch gleich hier betonen, dass meine Freunde (wie ich selbst) eine Platzierung an ‚aussichtsreicher‘ Stelle erwarten, damit dann auch wirklich ein Vertreter der jüngsten Generation in die Lehrerkammer einrückt. Zur Klarstellung meiner persönlichen Auffassung möchte ich bemerken, dass mir, wenn ich mich nun einmal öffentlich schulpolitisch festlege, natürlich daran liegt, mich nutzbringend zu betätigen.“[13]
Muchow war zweifellos rührig in dieser Zeit. So beantragte er Dienstbefreiung für den Besuch der 57. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Salzburg in der Zeit vom 24.9. bis zum 1.10.1929. Zur Begründung hatte er geschrieben: „Infolge der starken Belastung der Philologen und angesichts der dauernden tiefgreifenden Wandlungen, die sich heute im System und Methodik der Wissenschaft vollziehen, ist es nahezu unmöglich geworden, sich neben der Schularbeit intensiv wissenschaftlich zu betätigen. Und doch ist gerade die unterrichtliche Arbeit des Philologen in Gefahr, wenn sich die Fühlung mit der Wissenschaft lockert.“[14] Der Antrag wurde genehmigt.
Bedeutsamer für einen späteren wichtigen Abschnitt im Leben von Hans Muchow war ein Antrag, den er am 12.2.1928 an die Schulverwaltung schickte:
„Ich beabsichtige, im Laufe des Sommersemesters 1928 eine vierwöchige Studienreise nach Holland, Belgien und Nordfrankreich zu unternehmen. Aufgabe dieser Reise ist es einmal, die alten niederländischen und flämischen Kulturstätten kennenzulernen. Zum anderen sollen die altniederländische Malerei und die Werke des 17. Jahrhunderts in den reichen Sammlungen Hollands und Belgiens studiert werden. Endlich ist geplant, den nordfranzösischen gotischen Kirchenbau in seinen reichsten Erzeugnissen und die modernste holländische Profanarchitektur kennenzulernen. Die Reise, auf etwa einen Monat berechnet, soll meiner wissenschaftlichen Fortbildung und damit der Vertiefung meines kulturkundlichen Unterrichts dienen. Ich bitte die Oberschulbehörde, dieses Bestreben durch Gewährung eines Reisestipendiums zu unterstützen und zu ermöglichen.“[15]
Bis 1933 war Hans Muchow im Hamburger Schulwesen nicht besonders hervorgetreten. Aufgrund der geschilderten materiellen und Anstellungs-Situation auch nicht verwunderlich.
An dieser Stelle muss jetzt die Schwester von Hans Muchow, Martha Muchow, ins Spiel gebracht werden. Martha Muchow war am 25.9.1892 geboren, hatte in Hamburg von 1899 bis 1912 die Volksschule besucht, danach eine private höhere Mädchenschule und anschließend das städtische Lyzeum in Altona, wo sie 1912 das Abitur machte. Sie konnte nach einer einjährigen Vorbereitungszeit 1913 die Lehramtsprüfung ablegen und arbeitete danach zuerst an einer höheren Mädchenschule in Tondern, anschließend an Hamburger Volksschulen. Parallel dazu besuchte sie Veranstaltungen des Psychologischen Laboratoriums, das bis 1915 von Prof. Ernst Meumann und nach dessen Tod ab 1916 von Prof. William Stern geleitet wurden. Martha Muchow beteiligte sich immer intensiver an der Arbeit und wurde nach der Neugründung der Hamburger Universität 1919 eine der ersten Studentinnen der Psychologie. William Stern bemühte sich darum, Martha Muchows Beurlaubung als Lehrerin zu erwirken und sie als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin am Psychologischen Laboratorium zu beschäftigten, wo sie Aufgaben einer Unterrichtsassistentin wahrnahm. 1923 wurde sie promoviert und übernahm wesentliche Aufgaben am Psychologischen Laboratorium und in der Lehrerausbildung der Hamburger Universität.[16]
William Stern war ein international anerkannter Psychologieprofessor, der Begründer der „Differenziellen Psychologie“ und ein äußerst geschätzter Hochschullehrer an der Universität. Nachdem die Nationalsozialisten auch in Hamburg die Macht übernahmen, wurde William Stern nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 fristlos entlassen und durfte mit sofortiger Wirkung das von ihm jahrelang aufgebaute und geleitete Institut nicht mehr betreten. Der ehemalige zweite Assistent, den William Stern über lange Zeit gefördert und der eng mit Martha Muchow zusammengearbeitet hatte, Paul Roloff, der aufgrund längerer krankheitsbedingter Ausfälle das Institut verlassen musste, war am 1.8.1932 in die NSDAP eingetreten und initiierte am 10.7.1933 ein Schreiben mit mehreren Unterschriften an die Hochschulbehörde, in dem es hieß:
„Mit dem Amtsantritt von Prof. Stern setzte erst langsam, dann immer stärker eine völlige Verjudung des Instituts ein. Deutschgesinnte Mitarbeiter wurden durch rassereine Juden oder durch Judengenossen ersetzt, die ganz im jüdisch-marxistischen Sinn arbeiteten. An Stelle von Prof. Anschütz wurde ein ungarischer Jude aus Wien, der sich den Namen Heinz Werner beilegte, gesetzt. Dr. Roloff, der zwölf Jahre lang die Abteilung Psychotechnik bearbeitete, wurde durch den Judengenossen Dr. Wunderlich und seine jüdische Assistentin Katzenstein ersetzt. (…) Dr. Wunderlich hat seine Stellung einzig dem Umstand zu verdanken, dass er sich von Anfang an bedingungslos an die Judenclique anschloss und gegen alle deutschgesinnten Mitarbeiter Stellung nahm. Fräulein Dr. Muchow, die engste Vertraute von Prof. Stern, die ihn auch heute täglich besucht und mit ihm alle Pläne ausarbeitet, ist die gefährlichste von allen dreien. Sie war aktives Mitglied des marxistischen ‚Weltbundes für Erneuerung der Erziehung‘, hat auf internationalen Tagungen, zum Beispiel Genf, in seinem Sinne gewirkt, und war von Oberschulrat Götze in dessen letztem Amtsjahr beauftragt, das Hamburgische Schulwesen ‚psychologisch‘ im marxistischen Sinne zu durchdringen. Ihr pädagogisch-psychologischer Einfluss ist unheilvoll und einer deutschen Staatsauffassung direkt zuwiderlaufend.“[17]
Paul Roloff hatte vorher noch ein anderes Schreiben an den neuen Direktor der Volkshochschule, Heinrich Haselmayer, gerichtet, mit ähnlicher Stoßrichtung gegen die „Judenclique“ und auch den Erziehungswissenschaftler Gustaf Deuchler mit einbezogen, der selbst Ambitionen auf die Leitung des Psychologischen Institutes hatte und der nach der Entlassung von William Stern tatsächlich kommissarischer Direktor des Psychologischen Institutes wurde. Martha Muchow sollte Deuchler das Institut übergeben. Danach wurde auch sie aus dem Institut entlassen und sollte zurück in den Schuldienst gehen. „Zwei Tage nach der Entlassung unternahm Martha Muchow am 27.9.1933 einen Selbstmordversuch, dem sie am 29.9.1933 erlag.“ Privat hatte ihr kurz zuvor auch der Tod ihrer Mutter am 9.3.1933 schwer zu schaffen gemacht.[18]
William Stern emigrierte 1934 zunächst nach Holland, später in die USA.[19]
Dies war nun auch für Hans Muchow ein einschneidendes Ereignis. Hannelore Faulstich-Wieland sagte in ihrer Laudatio zur Einweihung der Martha-Muchow-Bibliothek am 31.1.2007 in Hamburg: „Die Geschwister hatten bis zu Marthas Tod ein sehr enges Verhältnis, Hans Heinrich versuchte denn auch bis zu seinem Lebensende, das ‚Vermächtnis‘ seiner Schwester vor allem durch die Herausgabe ihrer Werke zu erfüllen.“[20]
Ich vermute, sie bezog sich mit dieser Aussage auf das, was Hans Muchow selbst 1978 in dem Gespräch mit Jürgen Zinnecker geäußert hatte:
„Nach dem erzwungenen Weggang William Sterns sah sich meine Schwester vielfachen persönlichen Verleumdungen ausgesetzt. Die Diffamierungen zielten auf ihre Mitarbeit am ‚jüdischen Institut‘, wo doch ‚alles verschwägert und versippt‘ sei. Als ich in einer Unterredung mit dem neuen nationalsozialistischen Institutsdirektor Deuchler diese Verleumdung und deren mögliche Quellen ansprach, tat dieser Herr ganz unwissend. Nachdem meine Schwester das Institut an Deuchler übergeben hatte, hat sie ganz schnell gehandelt. Wir erhielten noch einen Anruf von Professor Stern. Im letzten Gespräch, das er mit meiner Schwester geführt hat, hatte sie bereits Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Als wir zu ihrer Wohnung fuhren und schließlich die Tür aufbrechen ließen, lag sie zusammengebrochen beim Gasherd und hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.“[21]
Und Zinnecker ergänzte noch: „Als Heinrich Muchow am Begräbnistag die nationalsozialistische Fahne nicht hissen wollte, wurde er vom Blockwart dazu gezwungen. Und: ‚Professor Stern durfte am Grab meiner Schwester nicht sprechen.‘“[22]
Diese letzten Aussagen von Hans Muchow wollte dieser 1978 auf keinen Fall veröffentlicht sehen („fielen ebenfalls dem gestrengen Rotstift des alten Herrn zum Opfer – was der Herausgeber seinerzeit respektiert hatte“). In der Neuauflage 1998 hatte Jürgen Zinnecker diese dann veröffentlicht.[23] Hans Muchow war am 30.11.1981 gestorben.[24]
Ich bin von dem Wahrheitsgehalt der Aussagen Hans Muchows nicht überzeugt. Es könnte nicht nur daran gelegen haben, dass dieser seine Darstellung als „zu anekdotisch und für wissenschaftliche Einleitung nicht geeignet“ hielt. 1978 könnten noch Zeitzeugen gelebt haben, die generelle Zweifel an den Darstellungen von Hans Muchow hegen konnten, weil sie auch dessen zweites Gesicht kannten und ihn in der NS-Zeit ganz anders erlebt hatten. Das werde ich im Weiteren ausführlicher darstellen, nachdem ich einige Unterlagen gefunden habe, die diese Zweifel als mehr als berechtigt erscheinen lassen.
Erst einmal hatte Hans Muchow 1935 die Arbeit seiner Schwester Martha Muchow „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ im Hamburger Verlag Martin Riegel herausgegeben. Insgesamt 3000 Exemplare wurden gedruckt. Das Buch erschien in der Reihe „Der Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung“, von Dr. Julius Gebhardt herausgegeben und schon vor 1933 konzipiert. Hans Muchow hatte das Buch „dem Gedenken an Dora Muchow, gestorben am 9.4.1933 und Martha Muchow, gestorben am 29.9.1933“ gewidmet. Er schrieb im Vorwort, dass diese Arbeit zurückging auf einen Vortragszyklus, der von der Leitung des Hamburger Volksheims im Winter 1927/28 durchgeführt worden war, einer Leitung, der er auch angehörte. Weiter vermerkte er:
„Die Darstellung, zu der manche Vorarbeit schon bereit lag und aus der eine Reihe von Skizzen schon bekannt geworden waren, sollte von meiner Schwester voraussichtlich im Jahre 1934 veröffentlicht werden. Die Zeitereignisse des Jahres 1933 ließen die Arbeit an dem Werk zunächst zurücktreten, bis dann der Tod meiner Schwester die Feder aus der Hand nahm. Ich erfülle eine Ehrenpflicht und zugleich eine Dankesschuld, wenn ich das Werk, das ich von seinen Anfängen an in Gesprächen und Mitarbeit habe begleiten dürfen, weiterzuführen versuche und zum Druck befördere. Ob ich freilich überall die letzten Absichten meiner verstorbenen Schwester erfülle, ist mir zweifelhaft; dass ich der wissenschaftlichen und pädagogischen Welt nur ein Fragment überliefere, ist mir schmerzliche Gewissheit.“[25]
Hans Muchow wurde am 1.4.1939 an die Oberschule für Jungen in St. Georg versetzt, aber schon zum 28.3.1940 zum Kriegsdienst eingezogen, wo er bis zum 16.5.1941 als Unteroffizier tätig war. Anschließend erhielt er eine uk-Stellung für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, dessen Wirken er in seinem Entnazifizierungsfragebogen als „wissenschaftliche Bearbeitung von beschlagnahmten Büchern; Wehrbetreuung“ bezeichnete.[26]
Zum 1.5.1937 war Hans Muchow in die NSDAP eingetreten. Darüber hinaus war er seit 1935 in der NSV organisiert, seit 1934 im NSLB und der VDA und seit 1935 im NS-Reichskriegerbund.[27]
Der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) war die Rauborganisation der NSDAP für die Kulturgüter, die während des Zweiten Weltkrieges aus den besetzten Ländern des Westens und Ostens unter der Leitung des NS-Parteiideologen Alfred Rosenberg und des von ihm geführten Außenpolitischen Amtes der NSDAP stand. Ursprünglich hatte Alfred Rosenberg das Projekt der „Hohen Schule“ entwickelt, die eine „zentrale Stelle nationalsozialistischer Forschung“ werden sollte. Dafür wollte Rosenberg das Forschungsinstitut mit dem Material der „Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ versorgen, das er aus den Bibliotheken und Archiven von Juden, Freimaurern, und kommunistischen und demokratischen Organisationen in den besetzten Ländern in das Deutsche Reich transportieren lassen wollte. Aus diesem Grund wurde im Juli 1940 in Paris der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ mit der Gründung des „Amtes Westen“ beauftragt.
Mit der Durchführung dieser Aktionen wurden überzeugte Nationalsozialisten in den Führungsfunktionen installiert und zu einem großen Teil Lehrer und Wissenschaftler herangezogen, denen zugetraut wurde, die zu raubenden Objekte wissenschaftlich zu qualifizieren und zu dokumentieren. Der persönliche Reiz für die jeweiligen Mitarbeiter lag darin, nicht bei der Wehrmacht eingesetzt zu werden, möglicherweise im Osten. Für Hans Muchow gab es wohl noch den zusätzlichen Reiz, dass er sich, wie er 1928 geschrieben hatte, als er bei der Schulverwaltung ein Stipendium für die Studienreise nach Holland, Belgien und Nordfrankreich beantragte, „für die alten niederländischen und flämischen Kulturstätten und die reichen Sammlungen Hollands und Belgiens interessierte sowie den nordfranzösischen gotischen Kirchenbau“.[28]
Hans Muchow war wie sein Hamburger Studienratskollege Dr. Adolf Vogel seit Oktober 1940 bis zum Ende des Krieges Mitarbeiter dieses Einsatzstabes der Kunsträuber in Brüssel.[29] Muchow hatte darin sogar die exponierte Funktion des Leiters der Hauptarbeitsgruppe Belgien-Nordfrankreich.[30]
Wie passt das damit zusammen, dass er ein Bruder der engen Mitarbeiterin des jüdischen Psychologieprofessors William Stern, Martha Muchow, gewesen war, die nach der Entlassung von Prof. Stern und vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten in Hamburg Selbsttötung beging und deren Schriften Hans Muchow danach herausbrachte und später eine eigene Literatur darauf begründete? Es waren Bibliotheken in Häusern, die vorher von jüdischen Professoren, Industriellen oder Politikern bewohnt wurden, die sich vor den deutschen Besatzern und dem nationalsozialistischen Terror fürchten mussten und flüchteten oder deportiert worden waren.
Blicken wir jetzt einmal auf die Arbeit des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg (ERR) in Brüssel. Über dessen Tätigkeit gibt es eine aufschlussreiche Veröffentlichung des holländischen Fernsehredakteurs und Musikforschers Willem de Vries: „Kunstraub im Westen 1940–1945“.[31] Darin gibt es auch ein Kapitel über die Arbeit des ERR in Brüssel. Und in diesem Kapitel werden sowohl Hans Muchow als auch Adolf Vogel erwähnt. Hans Muchow wurde von Adolf Vogel in einer Erklärung als „Bekannter von einer Reise nach Schweden“ bezeichnet, der die zentrale Person im Einsatzstab in Brüssel gewesen sei, Hauptarbeitsgruppenführer seit 1942, auch für Holland und Nordfrankreich.[32]
In seiner Einleitung stellte Willem de Vries fest:
„Nie zuvor gab es in der Geschichte Europas eine größere Beschlagnahmung, Verschleppung und Zerstörung von Kulturgütern als im Zweiten Weltkrieg. Sogar Napoleons ausgedehnte Beutefeldzüge von Kunstgegenständen, denen Frankreich wertvolle Sammlungen in Museen und Galerien zu verdanken hat, sind nicht mit dem zu vergleichen, was die Nazis beschlagnahmten. Hunderttausende von Gegenständen wurden dabei konfisziert: Gemälde, Skulpturen, Teppiche, Juwelen, Gold, Silber, Bücher, Manuskripte, Kirchenschätze und Musikinstrumente. Die Nazis plünderten rund 16 Millionen Kunstwerke in ganz Europa. Nur wenig wurde danach wieder zurückgegeben.“[33]
Über die Ziele und den Aufbau des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg schrieb de Vries:
„Nach Beendigung des Westfeldzuges, genauer: dem Einmarsch und der Besetzung von Holland, Belgien und Frankreich im Mai und Juni 1940, gründete Alfred Rosenberg am 17. Juli 1940 den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR). Das Aufspüren von ‚verlassenen‘ (man nannte sie fortan ‚herrenlos‘) jüdischen Bibliotheken, Synagogen, Geschäften und Wohnsitzen in Paris, aber auch Freimaurerlogen in Frankreich wurde dabei zum direkten Anlass für diese Maßnahme genommen. Viele Juden und Freimaurer hatten den deutschen Einmarsch nicht erwartet, und nun waren sie plötzlich Feinde des Dritten Reiches. Rosenbergs ,Mission‘, besser ,Aktion zur geistigen und weltanschaulichen Überwachung‘, bestand zuerst in einer ‚Sicherung‘ aller verbleibenden ‚Materialien zu politischen Forschungszwecken‘ von Personen, die als anti-deutsch eingestuft wurden. Die Maßnahme wurde in enger Zusammenarbeit mit der Sicherheitspolizei und dem Sicherheitsamt – SiPo und SD – durchgeführt, die wiederum ‚polizeipolitisches Material‘ aufzuspüren hatten.“[34]
In dem Kapitel über die Arbeit des ERR in Belgien vermerkte de Vries, dass die „Arbeitsgruppe Belgien“, die auch für Nordfrankreich zuständig war, „am 1.9.1940 in der Rue de Chatelain Nr. 32 in Brüssel gegründet wurde“.[35]
Am 11.6.1942 übernahm Hans Muchow die Leitung der Arbeitsgruppe Belgien, weil Muchow zum Hauptarbeitsgruppenführer für Belgien und Nordfrankreich befördert worden war.[36]
De Vries stellte fest, dass in Belgien die Einsatzgruppe so eng mit der Militärverwaltung zusammenarbeitete, dass aufgrund der guten Beziehungen die ERR „in die Militärverwaltung mit eingebaut“ war.[37]
„Auch die ERR-Aktionen in Belgien beriefen sich auf die sogenannten Führerbefehle, die bereits in Frankreich angewendet wurden. In Belgien arbeitete der ERR auch eng mit Sicherheitspolizei/Sicherheitsdienst zusammen, wenngleich unter der Führung der Militärbefehlshaber der Militärverwaltung. Für jede Beschlagnahmung musste also erst die Zustimmung der Militärverwaltung eingeholt werden; außerdem mussten regelmäßig Arbeitsberichte mit einer Inventarliste der beschlagnahmten Güter vorgelegt werden.“[38]
Zu Anfang erhielt der ERR den Auftrag, „herrenlose Bibliotheken weltanschaulicher Gegner“ sicherzustellen. Und Hauptarbeitsgruppenführer Hans Muchow erklärte, dass der Einsatzstab nach seiner Zusammensetzung „eine Gewähr für fachmännische Behandlung von Kulturgütern leisten sollte“.[39]
Aus einem Bericht des ERR ging hervor, „dass 84.291 Kubikmeter an Hausrat in der ‚Möbelaktion‘ in Belgien erbeutet wurden. Diese Aktion wurde mithilfe von 1500 LKWs mit einer Ladekapazität von 15.000 t durchgeführt. Wie in den Niederlanden, so war es auch hier die deutsche Speditionsfirma Kühne&Nagel, welche das Mobiliar unter Beihilfe von belgischen Speditionsfirmen beförderte. Insgesamt plünderten die Deutschen über 4500 Häuser deportierter jüdischer Bürger in Belgien.“[40]
Das „Hauptarbeitsfeld“ für den Einsatzstab um Hans Muchow und Adolf Vogel war allerdings die Büchererfassung und der Sonderstab Bildende Kunst.[41]
Später, im Juni 1947, erklärte Hans Muchow: „Die Tätigkeit des ERR bedeutete keinen Eingriff in die Eigentumsrechte der Bewohner Belgiens; sie erfolgte vielmehr im Interesse dieser abwesenden Eigentümer und fällt unter den zivilrechtlichen Begriff der ‚Geschäftsführung ohne Auftrag‘.“ Es sei „wissenschaftliche Arbeit in die beschlagnahmten Bücher investiert“ worden.[42]
Muchow behauptete 1947 auch: „Was die Anschuldigungen anbetrifft, der ERR sei eine ‚Bande von Dieben‘, so möchte ich nochmals die Tatsachen zurechtrücken und betonen, dass meine Mitarbeiter und ich in gutem Glauben gehandelt haben.“ Er erklärte mit Nachdruck, dass die Tätigkeit „wissenschaftliche Arbeit“ gewesen sei, „weil diese Literatur seit 1933 deutschen Wissenschaftlern nicht mehr zugänglich war. Unter meiner Leitung hat die Dienststelle des ERR in Brüssel ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben geführt, das der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet war. Weder meine Mitarbeiter noch ich selber haben uns persönlich bereichert, Korruption geübt oder Kriegsverbrechen begangen.“[43]
Wegen seiner erfolgreichen Arbeit in Brüssel war Hans Muchow dann noch im Osten eingesetzt worden. Vorher hatte er am 24.3.1944 eine Liste aller Einsatzorte für Beschlagnahmungen in Belgien zusammengestellt. Darin hieß es: „Jüdisches Material wurde in Brüssel, Antwerpen, Gent, Liège, Charleroi, Namur, Lille und Brügge beschlagnahmt. Das Material stammte von fünf jüdischen Vereinigungen und Bibliotheken sowie aus 79 Privatwohnungen, wo man größere Sammlungen vorfand.“[44]
Hans Muchow erwies sich in der NS-Zeit als Denunziant und Räuber jüdischen Eigentums. Er schrieb:
„Als jüdischer Führer des Landes wurden genannt: der emigrierte Bankier Norbert Burger sowie der geflüchtete Bankier Max Gottschalk.“[45]
Und de Vries stellte fest:
„Der folgende Satz wiederlegt dann endgültig Muchows Behauptung von der Unschuld des ERR: ‚Die Prominenten unter den vom ERR erfassten Juden waren folgende …‘ Danach werden zwanzig jüdische Wohnhäuser aufgezählt, die man geplündert und deren Besitz man nach Deutschland geschickt hatte, darunter auch etliche wertvolle Gemälde.“[46]
Willem de Vries hatte sein Buch: Kunstraub im Westen 1940–1945 im Jahre 1998 veröffentlicht. Danach sind neue Dokumente zugänglich gemacht worden. Aus russischen Quellen gibt es im Internet einen Großteil des Schriftwechsels der Arbeitsgruppe Belgien und Nordfrankreich des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg, der zumeist in der Verantwortung von Hans Muchow, von ihm auch handschriftlich abgezeichnet, deutlich macht, dass es hier nicht um wissenschaftliche Arbeit der Bücherzeichnung ging, sondern aktiv Wohnungen und Bibliotheken beraubt wurden und die Beute bürokratisch erfasst nach Deutschland abtransportiert wurde: Die Transportanmeldung, von Hans Muchow unterzeichnet, die Auflistung der Hauptarbeitsgruppe Belgien-Nordfrankreich mit einer Liste von 145 bearbeiteten Einsatzstellen detailliert aufgeschlüsselt, und in einer anderen Übersicht nicht nur die Anzahl der insgesamt 497 Kisten erfasst, sondern auch der Wert der 124 Bilder beziffert sowie der Wert der geraubten Bücher auf 170.600 Reichsmark geschätzt.[47]
Hans Muchow unterschrieb die Transport-Anmeldung aus Brüssel vom 11.5.1942, „Zweck des Transports: Überführung einer kriegswichtigen Bücherei“.[48]
Was in solchen Transporten enthalten war, geht aus einem ebenfalls von Muchow als Stabseinsatzführer und Leiter der Hauptarbeitsgruppe Brüssel und Nordfrankreich unterzeichneten Anschreiben für einen Kistentransport vom 25.3.1943 hervor, der offenbar von seinem Hamburger Lehrerkollegen und Freund Dr. Adolf Vogel am 25.3.1943 aufgegeben wurde, mit 121 Bücherkisten, die an den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg nach Berlin in die Bismarckstraße 1 geliefert wurde. Enthalten darin:
„Jüdische Bücher gesammelt in der antijüdischen Zentrale, Brüssel; sozialistische und kommunistische Bücher aus Gewerkschaftsbibliotheken in Brüssel; verbotenes und unerwünschtes Schrifttum aus dem Antiquariat Moorthamer.“[49]
Die deutsch-bürokratische Erfassung des geraubten Gutes war damit verbunden, „die wichtigsten Arbeitsvorhaben genauer zu beschreiben“. Wer waren die Besitzer und was wurde über sie notiert? In einer Liste vom 8.1.1943, für einen Transport, den auch Hans Muchow in einem Formular für eine internationale Eisenbahnbeförderung unterschrieben hatte, waren unter anderem die nachfolgenden Personen und Organisationen genauer verzeichnet, von denen bereits 350 der geplanten 853 abzutransportierenden Kisten transportfertig waren. Unter der Überschrift „Aufstellung der wichtigsten Arbeitsvorhaben“ wurde unter anderem folgendes festgehalten, mit jeweils der genauen Wohnadresse:
„1. Leon Kubowitzki, Brüssel. Einflussreicher Jude, Advokat beim Appellationshof, hatte allein drei jüdische Angestellte zur Bearbeitung der jüdischen Belange für ganz Belgien (Emigration, Beschaffung von Pässen, Boykotthetze gegen das Reich, jüdische Frauenfragen). Sieben Kisten: jüdische Enzyklopädien und Nachschlagewerke, Antideutsche Hetzliteratur, sogenanntes wissenschaftliches Schrifttum gegen den Nationalsozialismus, wichtiges Aktenmaterial.
2. Loge Grand Orient de Belgique, Brüssel. Akten – Protokolle – Ritualakten – ältere Akten einzelner belgischer Logen – freimaurerische philosophische Schriften – Dokumente – bolschewistische Literatur.
8. Federation des Zionistes Belges, Antwerpen. Brauchbare Bibliothek – jüdische Encyklopaedia.
9. Alliance Isrealite, Brüssel. Vereinigung einer Reihe von Judenorganisationen, die die Betreuung der Mitglieder der jüdischen Gemeinde wahrnehmen – kleine Bibliothek vorhanden, von der bestimmte Werke Interesse verdienen.
20. Isabelle Blume, Brüssel. Sozialistische Abgeordnete, Schriftstellerin, Führerin der sozialistischen Frauenbewegung in Belgien, aktives Mitglied der Rot-Spanien-Hilfe, Jüdin. Bibliothek mit sozialistischen Schriften besonders zur Frauenfrage und zu Rot-Spanien – sozialistische und kommunistische Literatur.
21. Max Gottschalk, Brüssel. Politisch sehr einflussreicher Jude, Mitglied vieler Clubs. Kunstmappen – kostbare kunstgeschichtliche Bücher – Aquarelle – Gemälde – Stiche und anderes mehr.
24. Ecole des Hautes Studes, Gent. Französisches Kultur- und Propagandazentrum im flämischen Raum, errichtet als französisches Gegengewicht gegen die flämische Universität Gent. Die Bibliothek ist als Ganzes interessant, weil sie ein Bild von der Art französischer Kulturpropaganda überhaupt vermittelt. Finanziert wurde das Institut vom französischen Staat einerseits und von bekannten belgischen und jüdischen Persönlichkeiten andererseits. Die Bibliothek umfasst eine wissenschaftliche Abteilung und eine Leihbücherei. Letztere enthält bedeutende Memoirenwerke und moderne Schriften antideutschen Inhalts.
33. Andre Vlimant, Brüssel. Ingenieur, Wohltäter einer berühmten christlichen Berufsschule, Besitzer einer ausgewählten Bibliothek (Memoirensammlung, Erotica und Romane in Prachtbänden), Eigentümer einer feudalen Wohnung, macht Riesengeschäfte in Aluminium und Metallen, Gasmasken und Granaten, betreibt Werkspionage und militärische Spionage, befördert verdächtige Personen über die belgisch-französische Grenze. Es besteht nach wie vor der dringende Verdacht, dass er auch heute noch für das ‚zweite Büro‘ tätig ist, obwohl er mit maßgebenden deutschen Stellen in Verbindung steht, die ihn aufgrund seiner fabelhaften wirtschaftlichen und politischen Beziehungen brauchen. Zur Zeit versucht er, die Aufhebung der Beschlagnahmung seiner Wohnung und seiner Bibliothek zu erwirken.
35. Jacques Errera, Brüssel. Professor der physikalischen Chemie an der Universität Brüssel (ebenso wie sein Vetter, Vater und Großvater), jüdisch-italienischer Herkunft. In seiner Wohnung befand sich eine Reihe von Fotografien prominenter jüdischer Wissenschaftler und Politiker mit eigenhändigen Widmungen. Die Bibliothek ist als Privatbibliothek ungewöhnlich umfangreich und umfasst Werke der verschiedensten Wissenschaften. Eine Durchsicht der in einem Sonderraum aufbewahrten Akten ergibt, das Errera große Einkünfte aus südafrikanischen und südamerikanischen Minenaktien bezogen hat.
42. H. Speyer, Brüssel. Professor, liberales Mitglied des belgischen Senates, Vorstandsmitglied der Freimaurerloge und verschiedener Vereinigungen der Universität Brüssel, drei Wochen vor dem Einmarsch der deutschen Truppen aus Belgien geflohen. Die Bücherei umfasst vor allem Werke der Rechtswissenschaften aller Länder und Literatur über Kolonialfragen.
44. Niko Gunzberg, Antwerpen. Professor an der Universität Gent, Freimaurer, Redner gegen Deutschland in einer Protestversammlung über ‚La justice de 3ieme Reich‘, Jude. Bücherei – Dokumente – Freimaurerakten – Gemälde.
52. Friedrich Adler, Belgien. Sekretär der 2. Internationale. Seine Bibliothek ist wohl die vollständigste aller von uns beschlagnahmten sozialistischen Bibliotheken, besonders wichtig sind die Protokolle der 2. Internationale. Bücher – Broschüren – deutschfeindliche Zeitschriften – eigene Arbeiten – Material der zweiten Internationale – Briefwechsel 1900–1940.
56. Paul van Zeeland, Brüssel. Geflüchteter belgischer Ministerpräsident, Katholik, Wirtschaftsfachmann, Vertrauensmann Roosevelts in europäischen Währungsfragen. Die Bücherei enthält vor allem Bücher und Zeitschriften wirtschaftswissenschaftlicher und wirtschaftspolitischer Art. Sie ist sehr reichhaltig und besonders wertvoll, weil sie Material zur Wirtschaft der meisten Staaten umfasst. Außerdem noch eine Sammlung älterer Drucke früherer Jahrhunderte.
57. Emile Vandervelde, Belgien. Geflüchteter belgischer Minister. Die umfangreiche Bibliothek wurde anscheinend durch eine irrtümliche Auslegung eines Freigabe-Bescheides der Ortskommandantur von Frau Vandervelde aus der Wohnung herausgeholt. Ein Teil der Bücher soll an Freunde Vanderveldes verschenkt worden sein (Namen lassen sich aber nicht feststellen), der größere Teil der Bibliothek wurde dem soziologischen Institut überwiesen und in die dortige Institutsbibliothek eingegliedert. Dieses Institut wurde ebenfalls geschlossen und sichergestellt.
60. David van Buuren, Brüssel. Geflüchteter jüdischer Professor (Wirtschaftswissenschaft) Bücherei – Philosophie – Finanzen – Weltkrieg – Kunst – französische Klassik.
79. Olympe Gilhart, Lüttich. Senator und Redakteur der Zeitschrift ‚La Meuse‘, Wallonenführer und einer der gefährlichsten Deutschfeinde in Lüttich. Diese Bibliothek ist als spezifisch wallonisch anzusprechen, sie enthält nicht nur die Mehrzahl aller in Belgien etwa seit 1920 erschienenen Druckwerke, sondern auch vor allem eine Materialsammlung über die wallonischen Fragen. Aus der über Deutschland vorhandenen Literatur ist die feindselige Einstellung des Sammlers dieser Bücher deutlich zu erkennen.
80. Leo Rothschild, Rhode-St. Genese. Geflüchteter Jude, sehr aktives Mitglied des ‚Comité des Delegations Juives‘, ferner Mitglied des Aktionsausschusses, das der Träger der jüdischen Boykottbewegung in Belgien gewesen ist und mit dem der berüchtigte Untermeyer-Ausschuss in New York zusammenarbeitet. Politische Literatur – Kunstbücher – Zeitschriften.
123. Alice Pels, Brüssel. Aus Deutschland ausgewanderte jüdische Sozialistin, Frauenrechtlerin. Auf Veranlassung des SD vorübergehend im Gefängnis, jedoch dann krankheitshalber entlassen. Wertvolle Bibliothek mit vielen Erstdrucken.
145. J. Reder, Brüssel. Geflüchteter jüdischer Kunsthändler und Kunstfälscher. Auktions- und Museumskataloge aus aller Welt – Kunstbücher, vor allem Malerei – Reiseführer – Lexika – interessante Schriftstücke und Zeitungsausschnitte – Briefwechsel.“[50]
Aus diesem Ausschnitt wird deutlich, was die von Hans Muchow und Dr. Adolf Vogel geleitete Arbeitsgruppe getan hatte, bei Leibe ging es dabei nicht um eine „rein wissenschaftliche Arbeit“, die räuberische Besatzermentalität wird deutlich, das nationalsozialistische Bewusstsein, der Antisemitismus und auch eine Form des Sozialneides sind unverkennbar.
Aus den persönlichen und amtlichen Korrespondenzen von Hans Muchow insbesondere mit dem Gauhauptstellenleiter im Berliner Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, H. W. Ebeling, der Muchows Vorgänger in der Hauptarbeitsgruppe Belgien-Nordfrankreich gewesen war, geht hervor, wie eng Muchow mit dem SD und der SS sowie der Militärverwaltung in Belgien zusammenarbeitete. Muchow fällte gegenüber Ebeling auch Urteile über andere Personen, bezeichnete zum Beispiel einen Professor Ipsen „als außerordentlich zugänglich und politisch klar ausgerichtet“.[51]
Muchow, der später behauptete, gegen seinen Willen zum Einsatzstab kommandiert worden zu sein, identifizierte sich erkennbar mit seiner Aufgabe:
„Für Schulung- und Propagandazwecke hätte ich gern eine Anzahl kleiner Schriften aus den Arbeitsbereichen des Amtes Rosenberg, sowie zwei oder drei Bilder des Reichsleiters, die, wie Sie wissen, hier in Belgien nicht zu haben sind.“[52]
Hans Muchow war nicht nur Hauptstellenleiter einer Arbeitsgruppe, die „lediglich katalogisierte“, was in Bibliotheken zu finden war, sondern zeigte sich aktiv handelnd und Personen denunzierend. In einem Schreiben vom 7.8.1941 an den Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich, den Militärverwaltungschef der Abteilung Kultur, Prof. Hans Teske, schrieb er:
„Im Anschluss an unsere heute morgen geführte Unterredung teile ich Ihnen zu dem uns interessierenden Fall des Universitäts-Professors Jean de Sturler mit:
1. de Sturler war Professor an der Universite Libre de Bruxelles und lehrte dort mittelalterliche Geschichte.
2. Er ist Freimaurer und fällt als solcher unter die Voraussetzungen unseres besonderen Auftrages, zu deren Kennzeichnung ich Ihnen gern Einsicht in den Erlass des Reichsmarschalls des Großdeutschen Reiches vom 1. Mai 1941 ermöglichen will.
3. Wir haben den Militärverwaltungschef Abteilung Kultur seinerzeit um den 16./17. Mai 1941 einen Sonderbericht über die deutschfeindliche Einstellung de Sturlers zugeleitet, der sich bei den dortigen Akten befinden muss.“[53]
Prof. Hans Teske, Leiter der Abteilung Kultur beim Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich, war übrigens der dritte Pädagoge aus Hamburg, der als Sonderführer in den Niederlanden und Belgien tätig war. Teske, am 23.5.1902 in Hamburg geboren, Mitglied der NSDAP seit dem 1.5.1933, ebenfalls im NSLB und der SA, war im Oktober 1934 aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung zum planmäßigen außerordentlichen Professor für niederdeutsche Philologie an der Universität Hamburg ernannt worden und seit Oktober 1938 als Nachfolger Conrad Borchlings ordentlicher Professor und Direktor des Germanischen Seminars an der Uni Hamburg. In Belgien wurde er seit dem 21.11.1941 an der Universität Brüssel als Hochschullehrer eingesetzt und publizierte auch in flämischer Sprache. Er galt im Mai 1945 „nach dem Ende der Schlacht um Berlin“ als vermisst.[54] In Brüssel war Teske eine enge Kontaktperson von Hans Muchow und Adolf Vogel.
Hans Muchow war also proaktiv und stellte auch Anträge, wessen Häuser und Villen mit den dazugehörigen Möbeln, Kunstgegenständen und Bibliotheken dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zur Verfügung gestellt werden sollten. Dafür waren konkrete Denunziationen, Beschuldigungen und Dossiers notwendig, die gerne produziert wurden. So beispielsweise, als es um die Bibliothek des ehemaligen Ministers Paul Hymans in Brüssel ging, über den Hans Muchow ein kleines Dossier erstellte:
„Paul Hymans war in mehreren Kabinetten der letzten Jahre vor dem Kriege Staatsminister in verschiedenen Funktionen und hat als solcher an der sogenannten Neutralitätspolitik Belgiens und an den Vorbereitungen des gegenwärtigen Krieges aktiven Anteil genommen. Er war überdies einer der führenden Männer der Liberalen Partei, die, mit den Juden und Freimaurern verquickt, die politische und geistige Haltung entscheidender Kreise Belgiens im antideutschen Sinne beeinflusst hat. Er war unter anderem auch regelmäßiger Mitarbeiter, ja, Redaktionsmitglied des Flambeau, einer führenden politischen Revue massiv antideutscher Einstellung.
Paul Hymans ist bei Ausbruch des Krieges nach Südfrankreich geflüchtet und dort im April 1941 verstorben. Da seine Witwe, eine geborene Frau Goldschmidt, die als Alleinerbin eingesetzt sein soll, als Jüdin nicht nach Belgien wird zurückkehren können, besteht die Gefahr, dass, wie andere Vermögenswerte, so auch die Bibliothek in fremde Hände geraten kann.“[55]
Von solchen Schreiben sind zahlreiche erhalten geblieben, die Hans Muchows Haltung und Tätigkeit dokumentieren.
Seine Schwester Martha hatte die Entlassung, Verfolgung und Emigration ihres wissenschaftlichen Lehrers William Stern und die Zerstörung seiner und ihrer Arbeit nicht ertragen können und sich selbst das Leben genommen. Ob Hans Muchow in den Häusern jüdischer Professoren in Holland, Belgien und Nordfrankreich beim Raub der Bibliotheken und der Denunziation jüdischer Bibliotheksbesitzer mal an den jüdischen Professor William Stern dachte, bei dem er Vorlesungen gehört hatte?
Hans Muchow – ein Mann mit zwei Gesichtern.
Nun wird auch erklärlich, warum Muchow noch 1978 seine Jürgen Zinnecker gegenüber geäußerte Version des Todes und der Bestattung seiner Schwester Martha Muchow nicht gedruckt sehen wollte. Muchow hatte, als er in den 1950er und 1960er Jahren schriftstellerisch tätig war, seinen zweiten Vornamen Heinrich dazu genommen und unterschrieb und veröffentlichte seit dieser Zeit unter dem Namen Hans Heinrich Muchow, was mich zuerst irritierte, sodass ich zunächst an zwei unterschiedliche Personen glaubte. Bemerkenswerterweise hatte Muchow, der durchaus eitel war, nach 1945 auch keine Fotos von sich veröffentlicht oder veröffentlichen lassen. Auch dies wahrscheinlich als Schutz vor Entdeckung. Er musste insbesondere die Enttarnung seines Wirkens in Holland, Belgien und Nordfrankreich fürchten.
Hans Muchow war seit dem 6.4.1943 mit Else Wrage verheiratet, die eine engagierte Lehrerin an der reformpädagogisch orientierten Lichtwarkschule gewesen war.[56] Das sollte im Entnazifizierungsverfahren noch eine Rolle spielen.
Hans Muchow hatte während des Krieges eine vergleichsweise „gemütliche Zeit“ in den requirierten Villen in Holland und Belgien mit gut ausgestatteten Bibliotheken auch zu eigener Forschung genutzt. Nachdem er 1939 bereits ein Buch geschrieben hatte zum Thema „Die Hanse als Wille und Tat aus nordisch-germanischem Geist“[57], legte er 1942 eine Schrift vor: „Der flämische Raum und die deutsche Hanse. Zugleich ein Versuch der Darlegung ihrer germanischen Grundlagen.“[58] Darin schrieb Hans Muchow:
„Und während die führenden Schichten des flämischen Raums um 1300 entweder aus müde und unsicher gewordenen Epigonen der alten Fernhändlerkreise oder aus profitsüchtigen egoistischen Kapitalisten reinsten Wassers oder aus skrupellosen ‚Neureichen‘ bestanden, bemühte man sich innerhalb der deutschen Hanse um die Züchtung eines wehrhaften, gemeinschaftsbezogenen und verantwortungsbewussten Führertyps, der immer wieder durch Rückgriff auf die unverbrauchten Schichten des Volkes die starken Quellen seiner Kraft erneuerte. Eine wahre Aristokratie, die sich ihrem Volkstum verbunden und dem germanischen Grundsatz ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ verpflichtet fühlte, stand so in der deutschen Hanse einer ihrem Volkstum entfremdeten, nur dem Eigennutz dienenden Plutokratie des flämischen Raumes gegenüber. Es kann kein Zweifel bestehen, wer der Sieger bleiben, wem die Zukunft gehören musste!“[59]
Hier wird deutlich, wie sehr Hans Muchow die nationalsozialistische Ideologie internalisiert hatte und sie reproduzierte. Deutlich spürbar in seiner Schlussfolgerung:
„Die Flamen haben in den vergangenen Jahrhunderten ernste Lehren aus ihrem Schicksal ziehen können: Sie sind zur Besinnung auf ihr Volkstum und seine germanische Art gekommen, haben ihr Wesen geläutert und gereinigt. Mögen sie nun auch zu ihrer wahren Volksordnung, zur Wertschätzung eines einsatzfreudigen und verantwortungsbewussten Führertums und zur Betätigung einer echten genossenschaftlichen und disziplinierten Treue der Gefolgschaft den Weg finden! Die Deutschen, die sich unter der Führung Adolf Hitlers gleichfalls – seit langem – wieder auf die germanischen Leitlinien ihres Seins besonnen, die den hansischen Geist und die hansische Haltung wieder erneuert haben, die diesmal aber – anders als zu Zeiten der Deutschen Hanse! – die ganze Kraft des Reiches, als Idee und als Wirklichkeit, hinter sich wissen, werden dann gemeinsam mit den Flamen eine glückliche Aera deutsch-flämischer Beziehungen im germanisch geführten Europa einleiten können!“[60]
Die Mutter von Hans und Martha Muchow, Dorothee Muchow war am 9.4.1933 infolge eines Schlaganfalls gestorben, „wenige Tage nachdem sie traurig geäußert hatte, ‚dass man in dieser ungerechten Welt gar nicht mehr leben möchte‘.“[61] Hans Muchow hatte sich offenbar in dieser Welt eingerichtet und dem Nationalsozialismus etwas abgewinnen können. Das Büchlein widmete er „allen meinen Jungen an der Front“.[62]
In Abwesenheit von Hamburg und der Schule, wurde Hans Muchow am 9.11.1944 zum Oberstudienrat befördert mit einer von Reichsstatthalter Karl Kaufmann gezeichneten Ernennungsurkunde. Ein übliches Verfahren für Lehrer, die bei der Wehrmacht oder anderen Stellen erfolgreich für Deutschland unterwegs waren. Hans Muchow hatte die Ernennungsurkunde am 22.1.1945 erhalten, wie er handschriftlich bestätigte.[63]
Kurz darauf wurde es aber auch für ihn ungemütlich. Am 27.8.1945 hatte die Britische Militärregierung verfügt, Muchow wegen „Nazi sympathies“ zu entlassen.[64]
Dies teilte ihm Schulsenator Heinrich Landahl am 12.9.1945 mit.[65]
Hans Muchow hatte die von ihm vermutlich antizipierten Schwierigkeiten durch einen Antrag umgehen wollen, den er am 31.5.1945 an die Schulverwaltung richtete. Darin bat er „um die Gewährung eines einjährigen Urlaubs zur Durchführung wissenschaftlicher psychologischer Arbeiten“. In der Begründung schrieb er: „Nach Verlautbarungen der englischen Militärregierung wird der Schulunterricht an den deutschen höheren Schulen spätestens im März 1946 aufgenommen werden. Die Neugestaltung der Lehrpläne und Schulbücher gerade auf den von mir vertretenen Unterrichtsgebieten (Deutsch und Geschichte) wird möglicherweise noch längere Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte daher – anstatt berufsfremde Tätigkeiten auszuüben – die Zeit bis zum Wiederbeginn des Unterrichts benutzen, um einige von mir begonnene psychologische Arbeiten, die nur infolge des Krieges zurückgestellt werden mussten, abzuschließen und gegebenenfalls zu veröffentlichen. Diese Arbeiten können – nach Wegfall der Staatsjugendverbände – für die häusliche und schulische Erziehungsarbeit von unmittelbarer Bedeutung werden.“[66]
Muchow hatte sich offenbar auf Alternativen vorbereitet und möglicherweise auch schon darauf, im Weiteren das Erbe seiner Schwester Martha Muchow zu verwalten und zu nutzen, die nachweislich eine Gegnerin und ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen war.
Am 9.6.1945 meldete Hans Muchow der Schulverwaltung:
„Ich habe die letzten Aufträge meiner Dienststelle, des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg, zu dem ich durch Verfügung des Herrn Reichsstatthalter seit längerem kommandiert bin, in Norddeutschland erfüllt. Da ich meine Dienststelle, die nach Süddeutschland verlegt worden ist, nicht mehr erreichen kann, melde ich mich pflichtgemäß bei meiner Friedensdienststelle, der Schulverwaltung bei der Gemeindeverwaltung der Hansestadt Hamburg, wieder zur Stelle.“[67]
Am 28.11.1945 fragte das Wohnungsamt Winterhude bei der Schulverwaltung an, was gegen den aus politischen Gründen entlassenen Hans Muchow vorliege, weil dessen Wohnbedarf am Wiesendamm 142 geprüft werde.[68]
Darauf antwortete Oberschulrat Heinrich Schröder am 14.11.1945 unter Hinweis auf Muchows Mitgliedschaft in verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen mit der Feststellung: „Die Entlassung ist wahrscheinlich erfolgt, weil M. von 1941–1945, während er der Wehrmacht angehörte, zum Einsatzstab Rosenberg abkommandiert war. Von einer eigensüchtigen Betätigung als Nationalsozialist oder von einer Tätigkeit zum Nachteil anderer ist der Schulverwaltung nichts bekannt.“[69]
Am 27.10.1945 wandte sich Hans Muchow an Schulsenator Heinrich Landahl, der während seiner Zeit als Schulleiter an der Lichtwarkschule gut mit Muchows Ehefrau Else bekannt gewesen war. Muchow schrieb:
„Als ich das Schreiben empfing, das mir meine Entlassung aus dem Schuldienst und damit die Beendigung meiner Lebensaufgabe, der ich mich durch zwei Jahrzehnte leidenschaftlich und wie ich glaube, nicht ohne Erfolg gewidmet habe, mitteilte, war ich zwar persönlich zutiefst betroffen, aber ich musste mir sagen, dass meine objektiv gegebene Verbindung mit dem Namen des Reichsleiters Rosenberg meine derzeitige Beschäftigung im Schuldienst schlechterdings unmöglich mache. Darum habe ich bisher auch keinen Einspruch erhoben. Nachdem aber nun die Entlassung meiner Frau wahrscheinlich, die Sperrung meines Vermögens, die Aufhebung meines Telefonanschlusses und die Androhung der Wohnungsbeschlagnahme durch das Wohnungsamt sicherlich als Folgen dieser Amtsentlassung mich auf eine Stufe mit ehemaligen ‚Nazis‘ und ‚Kriegsverbrechern‘ stellen und meine bürgerliche und moralische Existenz zu vernichten drohen, kann ich nicht länger schweigen und muss mich gegen die darin liegende Ungerechtigkeit zur Wehr setzen.
Ich darf annehmen, dass Sie, sehr verehrter Herr Senator, meine politische und pädagogische Vergangenheit kennen und mich, angesichts dieser Ihnen bis 1933 bekannten und der aus dem beiliegenden Einspruchsschreiben erkannt werdenden Vergangenheit, für würdig genug halten, sich meines Falles persönlich anzunehmen, damit mir Gerechtigkeit widerfährt.“[70]
Hans Muchow baute darauf, dass sein erstes Gesicht noch päsent war. Und in der Tat bekam Muchow gewichtige Unterstützung. Am 10.2.1946 wurde bei der Britischen Militärregierung im Hotel Esplanade eine „Bitt-Adresse“ abgegeben, in der es hieß:
„Wir kennen Muchow als aufrechten und verantwortungsbewussten Deutschen, der sich in den Jahren seiner Tätigkeit in der NSDAP nichts zu Schulden kommen ließ, vielmehr bemüht gewesen ist, im Rahmen dieser Organisation in seinem Wirkungsbereich das zu verwirklichen, was für Erzieher und Deutsche gleichermaßen selbstverständlich ist. Muchow hat gerade aufgrund seiner Tätigkeit im weiten Maße Unrecht verhüten können, ist zudem als Wissenschaftler, Psychologe und erfolgreicher Erzieher in unserer Stadt hervorragend tätig gewesen. Wir sind der Überzeugung, dass mit seiner Wiedereinstellung der Stadt und dem Aufbau des deutschen Lebens gerade im Sinne der Neuordnung eine loyale und aufrechte Persönlichkeit gewonnen werden muss. Frau Else Muchow ist in keiner Weise an nationalsozialistischen Organisationen beteiligt, vielmehr in der Hamburger Lehrerschaft immer als Demokratin bekannt gewesen, zudem Erzieherin und Psychologin mit ausgezeichneten Qualitäten und Erfolgen. Ihre Entlassung ist also auch sachlich nicht gerechtfertigt. Sie für ihren Mann büßen zu lassen, entspräche den verabscheuenswürdigen Nazi-Methoden der Sippenrache. Wir sind in der Lage von beiden bezeugen zu können, dass sie sich in den vergangenen Jahren immer wieder um Verhinderung von Auswüchsen, um eine menschlich qualifizierte Ordnung und im Rahmen der gesamteuropäischen Verhältnisse kräftig um Gesundung, demokratische Freiheit und Ausbau aller Lebensbereiche bemüht haben. Wir halten aus diesem Grunde ihre Wiedereinstellung in den Schuldienst für erforderlich und befruchtend für die Schulverhältnisse und bitten die Militärregierung um Rückgängigmachung der Entlassung.“[71]
Dies war unter anderem von Oberschulrat Fritz Köhne unterschrieben worden, der Hans Muchow aus der Volksheimbewegung in Eimsbüttel kannte und von Elfriede Strnad, die eine enge Vertraute von Martha Muchow gewesen war, aber auch weiteren demokratischen Persönlichkeiten und Lehrerbildnern wie Prof. Rudolf Peter, Walter Jeziorsky und Julius Gebhard. Das Problem aller war sicherlich, dass ihnen die tatsächliche Tätigkeit von Hans Muchow im Einsatzstab Rosenberg unbekannt war.
Auch Heinrich Landahl verwendete sich in einer Erklärung vom 1.11.1946 für Hans Muchow und wohl insbesondere Else Muchow:
„Herr Hans Muchow ist mir seit etwa 25 Jahren bekannt. Er ist ausschließlich wissenschaftlich interessiert, ein vornehmer, lauterer Charakter und ein anregender, erfolgreicher Lehrer. Ein unmittelbares Verhältnis zu politischen Fragen hat er nicht, so dass er auch zweifellos niemals bewusster und tätiger Nationalsozialist gewesen ist. Seine Frau Else Muchow, geb. Wrage, hat mich während der ganzen Nazizeit einschließlich der Kriegsjahre regelmäßig besucht und in der Unterhaltung ihre Ablehnung des Nationalsozialismus in scharfen Worten geäußert und immer darauf hingewiesen, dass ihr Mann ganz mit ihr übereinstimme.“[72]
Hans Muchow selbst reichte einen neunseitigen Einspruch mit zahlreichen Anlagen ein, dessen detaillierte Wiedergabe diesen Rahmen sprengen würde.[73] Sein Hauptargument war, lediglich „nominelles Mitglied der NSDAP“ gewesen zu sein, niemals ein Amt in der NSDAP oder einer der Gliederungen innegehabt zu haben, weder Aktivist noch überzeugter Militarist gewesen und „seitens der NSDAP bzw. der HJ bis in den Herbst 1944 verfolgt“ worden zu sein. Er erklärte, „er sei nicht freiwillig Mitglied der NSDAP geworden, sondern aus den damaligen ‚Fortbildungsabteilungen‘ auf dem Wege der Überführung eingegliedert worden“ zu sein. Dann verwies Muchow darauf, seit seiner Studentenzeit (1919) in dem „Hamburger Volksheim e.V.“ mitgearbeitet zu haben, in dem auch Oberschulrat Köhne und die Schulräte Hans Brunckhorst und Gustav Schmidt tätig gewesen waren. Auch die Mitgliedschaft, „obwohl Studienrat, in der schulpolitisch links gerichteten Gesellschaft der Freunde“ nannte er und verwies darauf, in der Zeit von 1930 bis 1933 „als einziger Studienrat Mitglied ihres Vorstandes“ gewesen zu sein. Muchow nannte viele Beispiele, die belegen sollten, dass er insbesondere mit den nationalsozialistischen Oberschulräten Walter Behne und Theodor Mühe in Auseinandersetzung gestanden habe. Erst auf Seite 5 kam er auf den Einsatzstab Rosenberg.
Hier behauptete Muchow, im November 1940 über den Reichsstatthalter kommandiert worden zu sein und nicht, wie Muchow es gewünscht habe, für den Schuldienst uk. gestellt zu werden. „Einmal zum Kriegseinsatz dorthin kommandiert, habe ich selbstverständlich meine Pflicht erfüllt. Das konnte ich umso eher, als die Tätigkeit rein wissenschaftlicher Art war. Ich hatte Buchmaterial, das seitens der Geheimen Feldpolizei bzw. der Militärverwaltung in Belgien zugunsten des Reiches beschlagnahmt war, zu bearbeiten und es für die deutsche wissenschaftliche Forschung, soweit es für sie seit 1933 nicht greifbar gewesen war, aufzubereiten. Besondere weltanschauliche Zugeständnisse (zum Beispiel Kirchenaustritt) wurden von mir nicht verlangt. Der ERR war als Wehrmachtsgefolge versorgungsmäßig der Militärverwaltung unterstellt, ohne zur Militärregierung zu gehören; die Arbeitsergebnisse waren dem Hauptamt Wissenschaft im Amte Rosenberg abzuliefern, ohne dass von dort aus Weisungsrecht bestand. Die Zwitterstellung gab mir Gelegenheit, wirklich selbständig und unabhängig wissenschaftlich zu arbeiten.
Der Nürnberger Gerichtshof hat die Mitarbeiter des ERR weder als Kriegsverbrecher bezeichnet, noch ihnen inkorrektes Verhalten vorgeworfen, noch sie überhaupt unter Anklage gestellt. Der Verteidiger des Angeklagten Rosenberg, Landgerichtsdirektor Dr. Thoma, stellte vielmehr die gewissenhafte, wissenschaftliche und korrekte Haltung der im ERR beschäftigten Gelehrten ausdrücklich fest.“[74]
Ohne konkrete Kenntnis von der tatsächlichen Arbeit des Einsatzstabes war es für die Entnazifizierungsausschüsse sicherlich schwierig, zu beurteilen, ob Muchows Aussagen seinem tatsächlichen Wirken entsprachen.
Skepsis war auch angebracht gegenüber den Aussagen von Hans Muchow über seine Veröffentlichungen und über vielfältige Reden, die er bei der Wehrmacht gehalten hatte, insbesondere ein Vortrag zum Thema „Die geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus“. Muchow behauptete, für einen verhinderten Berliner Redner eingesprungen zu sein. „Der Vortrag, der anschließend (nur in Belgien) veröffentlicht wurde, trägt zweifellos nationalsozialistischen Charakter, insofern, als er den Nationalsozialismus selber zum Thema hat. Ich kann die Arbeit leider nicht vorlegen, da das einzige Belegexemplar auf dem Rückmarsch aus Belgien mit meiner gesamten Bibliothek durch Feindeinwirkung verloren gegangen ist. Sonst könnte ich eindeutig nachweisen, dass es sich darin nicht um das Parteiprogramm der NSDAP oder den üblichen Nazi-Nationalsozialismus handelt.“[75]
Bei den dann von Muchow genannten Stichpunkten ist bei diesem Thema Skepsis angebracht. Seine Stichpunkte für diesen Vortrag lauteten: „Der Volksgedanke, der Rassengedanke, der Nationalsozialistische Gedanke, der Führergedanke, der Gedanke von Freiheit und Ehre.“[76]
Auch bei den mit den Details der Biografie von Hans Muchow nicht Vertrauten konnte der Eindruck entstehen, dass sich der frühe Muchow von der Person unterschied, die sich möglicherweise durch die nationalsozialistische Entwicklung verändert hatte. Andererseits hatte er die Leumundszeugnisse von so wichtigen Personen wie Heinrich Landahl und Fritz Köhne, der grauen Eminenz in der Schulbehörde, auch nach 1945. Insofern wundert es nicht, dass der Berufungsausschuss 17 unter Leitung von Rechtsanwalt Soll, der für milde Urteile bekannt war, zu einem positiven Ergebnis kam. Gegen den Einspruch des Vertreters des Fachausschusses wurde Muchow am 3.12.1947 in KategorieV eingestuft. Der Ausschuss befand: „Auch seine Tätigkeit während des Krieges im Einsatzstab Rosenberg, zu dem er trotz seines Sträubens kommandiert wurde, ist vom Berufungsausschuss nicht als politisches Belastungsmoment gewertet worden. Die Tatsache, dass Muchow noch im Jahre 1944 politisch als ‚destruktives Element‘ gekennzeichnet wurde, sowie sein gesamtes Verhalten spricht eindeutig dafür, dass Muchow seiner innerlichen Überzeugung nach nie ein Nationalsozialist gewesen ist.“[77]
Der Beratende Ausschuss für das höhere Schulwesen unter Vorsitz von Johann Helbig hatte noch etwas anders plädiert:
„Er ist ein Pädagoge von großem Format. Er ist nicht Nationalsozialist gewesen. Zum tiefen Bedauern aller fortschrittlichen pädagogischen Kreise Hamburgs hat er sich aber nicht von den Nazis fern gehalten, hat, wenn auch mehr oder weniger äußerlich, mitgemacht. Er wird für den Neuaufbau keine Gefahr sein; wird sogar helfen können. Sein Wiedereintritt als Studienrat im Angestelltenverhältnis wird befürwortet.“[78]
Kurz darauf, am 2.3.1948, stellte Kurt Zeidler für den Fachausschuss 6 b einen Wiederaufnahmeantrag. Schulrat Robert Werdier, der Hans Muchow gut kannte, hatte eine Stellungnahme über ihn abgegeben, die am 4.3.1948 eingereicht wurde. Darin hieß es:
„Gesprächsweise wurde mir mitgeteilt, dass Herr Muchow vor dem Berufungsausschuss angegeben hat, dass er 1941 gegen seinen Willen gezwungen zum Amt Rosenberg in Brüssel einberufen wurde. Diese Angaben entsprechen nicht den Tatsachen. Von März bis Mai 1941 war ich mit Herrn Muchow zusammen bei einer militärischen Einheit als Wehrmachtsdolmetscher tätig. Ich freute mich, dass damals der mir aus seinem schulischen Wirken bekannte Muchow zu uns kam, musste aber schon in den ersten Gesprächen feststellen, dass er trotz seiner verbindlichen Umgangsformen und seiner Bereitwilligkeit, mit den Kameraden zu sprechen, doch eine innere Wandlung durchgemacht haben musste. Deshalb distanzierte ich mich schon nach wenigen Tagen von ihm im Gespräch und war auch nicht überrascht, als er Ende April 41 mir eines Tages freudig mitteilte, dass er schon früher für Rosenberg gearbeitet hätte und jetzt während der Kriegszeit hoffe, ein ihm gemäßes Aufgabenfeld vorzufinden. Die Sache erschien mir so ungeheuer, dass ich zunächst versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten und ihm sagte, dass es doch ein leichtes wäre, als Dolmetscher von der Wehrmacht reklamiert zu werden. Er erklärte aber klipp und klar, dass er hierauf keinen Wert lege.
Als Soldat, Muchow war Unteroffizier, wurde er von den Vorgesetzten wegen seiner strammen soldatischen Haltung geschätzt. Es war nichts an ihm zu erkennen, dass er den Wehrmachtsdienst nur widerwillig tat, im Gegenteil, in manchen Augenblicken übertrieb er seine stramme Haltung vor Vorgesetzten, die auf mich manchmal schon fast servil wirkte. Ich habe während des Krieges Muchow nur noch einmal wieder getroffen im Sommer 42 auf dem Hauptbahnhof, wo er mir in Zivil begegnete und in einem kurzen Gespräch mitteilte, dass er sich jetzt endlich auswirken könnte und von seiner Arbeit voll befriedigt sei. Ich habe Muchow nach dem Kriege bewusst geschnitten. Ein Mann, der einst vor 1933 wirklich ein Jugendführer war und sich dann so bejahenden Herzens – bei seiner Intelligenz – einem Phraseur wie Rosenberg anhing, hat für mich alle Achtung verloren. Solche Typen haben Verwirrung in die Jugend getragen, die einst ihre Schüler waren und vielleicht bei ihren inneren Kämpfen doch wohl auf ihren einstigen Lehrer blickten. Wie sollten diese jungen Menschen schon wissen, was Recht und Wahrheit ist, wenn der Mann, der sie einst in der Schule betreuen durfte, so schmählichen Verrat an der deutschen Sache beging.“[79]
Die Skepsis bei den Männern des Fachausschusses 6 b war groß. Es waren Kurt Zeidler und Friedrich Wilhelm Licht, Repräsentanten der „Gesellschaft der Freunde“, die am 9.12.1947 an den Leitenden Ausschuss schrieben:
„Muchow war vor 1933 ausgesprochen linksorientiert, so dass seine nach der sogenannten Machtübernahme festzustellende Gesinnungsänderung eine starke Verwunderung bei seinen antinationalsozialistischen Freunden und Bekannten hervorrief. Man sah in ihm einen Renegaten, dessen deutlich erkennbarer Ehrgeiz die Triebfeder seines Handelns war, und man distanzierte sich von ihm. Am 28.3.1940 wurde M., der 1937 in die Partei eingetreten war, zur Wehrmacht eingezogen und nach verhältnismäßig kurzer Zeit zu einer Tätigkeit – nach seinen Angaben – kommandiert, die dem Stab Rosenberg unterstand. Er ist hier am 9.11.1944 zum Oberstudienrat befördert worden.
Der Fachausschuss ist der Meinung, dass diese Heraushebung nicht aufgrund seiner pädagogischen Fähigkeiten erfolgt ist, sondern dass sie durch eine beauftragte Stelle des Stabes Rosenberg bei der Schulbehörde in Hamburg erwirkt wurde, weil er das Vertrauen dieses Amtes durch die Ausübung seine Tätigkeit in vollem Maße genoss. Das veranlasst den Fachausschuss, in Übereinstimmung mit dem Beratenden Ausschuss, in ihm einen Nutznießer des Systems zu sehen. Er kann sich nicht damit abfinden, dass er in einer bevorzugten Stellung, vielleicht sogar als stellvertretender Oberstudiendirektor beschäftigt wird, nachdem er sich politisch so labil und wenig krisenfest gezeigt hat. Er steht auf dem Standpunkt, dass Muchow nur als Studienrat zu bestätigen und nach Kategorie IV einzustufen ist; denn Mitläufer ist er auf jeden Fall gewesen.“[80]
Hans Muchow wurde am 15.8.1948 erst einmal wieder als Studienrat an der Walddörferschule eingestellt.[81]
Und dann gab es noch ein Schreiben von Oberregierungsrat Dr. Wernicke aus Hannover, das dieser an Oberschulrat Heinrich Schröder richtete. Darin hieß es:
„Ich bitte Sie sehr, die Verzögerung der Antwort auf Ihre Anfrage damit zu entschuldigen, dass ich mich noch bei einem Kameraden aus Brüssel erkundigt habe, welche Aufgaben der Einsatzstab Rosenberg in Brüssel zu erfüllen hatte. Dieser Kamerad berichtet nun, dass Herr Muchow und Herr Dr. Vogel ihm auf die Frage nach ihren Aufgaben mitgeteilt haben, sie hätten ‚die feindlichen Strömungen im besetzten Gebiet zu beobachten‘. Mein Gewährsmann schreibt dann weiter, ‚der Einsatzstab Rosenberg hatte dann noch die Aufgabe, die Beschlagnahme und Fortführung jüdischen Eigentums zu machen. Die Beschlagnahmen scheinen auch Gegenstand der Besprechungen Muchows mit dem Militärbefehlshaber gewesen zu sein‘. Ich erinnere mich, dass wir bei den Wehrmachtskursen zur Berufsförderung einmal eine ganze Reihe deutscher Klassiker aus den beschlagnahmten jüdischen Beständen bekommen haben. Beim Kommandostab Wehrmachtsbefehlshaber schreibt mein Gewährsmann weiter, hat man sonst vom Einsatzstab Rosenberg keine Notiz genommen.
Bei den Wehrmachtskursen zur Berufsförderung fanden während meiner Amtszeit in Brüssel zweimal Hochschulwochen statt, zu denen die Studenten aus der Truppe herangezogen wurden, um von den Professoren der Universitäten Köln, Bonn und der Technischen Hochschule Aachen Vorlesungen zu bekommen. Ich erinnere mich, dass bei diesen Wochen Herr Muchow einen Vortrag über die nationalsozialistische Weltanschauung hielt, der den Versuch machte, die Thesen des Nationalsozialismus für die Studenten philosophisch und wissenschaftlich zu begründen. Er hat ferner einen Vortrag ‚Deutschland als europäische Ordnungsmacht‘ ausgearbeitet gehabt, den er mehrfach in Belgien gehalten hat. In ihm wurde die europäische Geschichte durchaus im Sinne der Parteilegende gesehen. Wie weit der Einsatzstab Rosenberg mit den prodeutschen oder pronazistischen Walonen- und Flamen-Kreisen zu tun hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch mein Gewährsmann weiß darüber nichts näheres. Das Vertrauen, das Muchow in Berlin beim Amt Rosenberg genoss, war sicher außerordentlich, denn er fuhr sehr häufig zu Besprechungen nach Berlin und wurde schließlich auch zum Leiter des größeren und bedeutsameren Einsatzstabes Rosenberg in Paris ernannt, was ja wohl schwerlich geschehen wäre, wenn man mit der von ihm geleisteten Arbeit und seiner Gesinnung nicht zufrieden gewesen wäre. Herr Studienrat Schröter, früher an der Aufbauschule in Hamburg, teilte mir nach dem Kriege, als Herr Muchow wieder im Amt war, mit, dass Herr Muchow während des Krieges an die Schüler seiner letzten Klasse laufend einen Rundbrief schrieb, in dem er sie im nationalsozialistischen Geiste zu erziehen versuchte und sie, selbst als schon der negative Ausgang von jedem Einsichtigen erkannt wurde, noch zum Einsatz ihres Lebens für die Bewegung aufforderte.“[82]
Danach musste sich als nächstes der Berufungsausschuss 3 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten mit dem Fall beschäftigen. Hans Muchow wurde selbst gefragt und zeigte sich in der Lage, geschickt zu antworten, ohne dass es für den Ausschuss möglich war, die Antworten zu überprüfen. Schulrat Robert Werdier bekräftigte noch einmal den Wandel, den er bei Muchow festgestellt habe. Er berichtete auch von einem Schüler von Muchow, der seinen ehemaligen Lehrer im Herbst 1948 wieder getroffen habe, nunmehr selbst Lehrer, der erzählte, Muchow sei nach 1933 „plötzlich zum Nationalsozialismus umgefallen und habe ihm nach dem Kriege einmal erzählt, er sei Nationalsozialist viel mehr gewesen, als alle gewusst hätten“.[83]
Auf Werdiers Aussage zu Muchows Tätigkeit beim ERR erklärte Muchow, „dass es richtig ist, dass ich zunächst gegen meinen Willen dorthin gekommen bin. Es ist aber möglich, dass ich 1941 ganz gerne wieder zum Stab Rosenberg zurückgegangen bin, denn es handelte sich dort um eine sehr interessante fachwissenschaftliche Tätigkeit, die von Fachleuten aus allen Gebieten ausgeübt wurde.“[84]
In Hamburg war der Gesinnungswechsel von Hans Muchow offenbar durchaus bekannt. Muchows Freund und Kollaborateur beim Stab Rosenberg, Dr. Adolf Vogel, erhielt von Alexander Strempel, dem Schulleiter am Gymnasium Kaiser-Friedrich Ufer einen „Persilschein“ ausgestellt, der Vogel allerdings in Kontrast zu Muchow setzte. Strempel äußerte sich über Vogels Tätigkeit beim Einsatzstab Rosenberg, wo dieser, laut Strempel, „viele Skrupel hatte“. „Wir Kollegen versuchten ihn zu trösten, indem wir feststellten, dass er wahrscheinlich kein guter Soldat sein würde und dass er zu leiden haben würde aufgrund seiner physischen Konstitution, während er in Belgien mehr für seine zukünftige Art zu unterrichten und seine historischen Studien profitieren würde. Später fragten wir uns, ob seine Tätigkeit ihn zu einem Nationalsozialisten machen würde; weil es bekannt war, that his associate Muchow had advanced out of turn.“ Strempel schrieb auch, „dass Dr. Vogel in einer solchen Umgebung ein Sklave der Partei hätte werden können. Nichts davon passierte. Wenn Dr. Vogel zurückkam, war er immer ganz unverändert. Unter Freunden stellte er fest, dass er eine Menge für seine Studien gelernt habe“.[85]
Hans Muchow wurde in Kategorie V eingestuft und hatte sich mit der Einstufung als Studienrat einverstanden erklärt.[86]
Zum 17.4.1952 wurde Hans Muchow dann auf eigenen Wunsch an die Oberschule für Jungen in Eppendorf versetzt.[87]
Dort wurde seine Arbeit sehr geschätzt, wie die Beurteilung des Oberstudiendirektors Dr. Walter Kurenbach vom 26.8.1957 zeigte:
„Herr Studienrat Hans Muchow ist eine ausgeprägte erzieherische Persönlichkeit. Geistig und pädagogisch ist er einer der führenden Köpfe der Schule. Er ist nicht nur ein guter pädagogischer Theoretiker (siehe seine Schriften über Probleme der Jugendlichen), sondern ein ebenso guter Praktiker. Der Unterricht, den er gibt, ist ausgezeichnet, und zwar auf allen Klassenstufen. Deshalb wird er auch vorzugsweise für die Kandidatenausbildung eingesetzt.
Er ist seit Jahren Leiter der Schülerbücherei. Und als solcher leistet er pädagogisch und erzieherisch Wertvolles: er ist sehr überlegt in der Ergänzung der Büchereien, er lenkt die Lektüre der ausleihenden Schüler und nimmt so auf ihre Entwicklung nachhaltigen Einfluss. Er ist immer bereit, sich besonderen Aufgaben, die die Schulgemeinschaft stellt, zu widmen, so in Bezug auf Schulfeste, die er ausgezeichnet aufzubauen und durchzuführen versteht. Für Elternversammlungen stellt er gerne sein reiches theoretisches und praktisches pädagogisches Können zur Verfügung und hilft so, den Eltern pädagogische Probleme nahezubringen.“[88]
Diese Beurteilung hatte einen konkreten Hintergrund, denn Muchow bemühte sich erneut „um die Gewährung eines einjährigen Urlaubs für wissenschaftliche Arbeiten“. Dabei verwies er auf seine außerordentlich erfolgreichen Publikationen, die, auflagenstark, einer Bearbeitung bedurften. Er nannte dabei die Titel „Flegeljahre“ und „Jugend im Wandel“: „Nach dem Urteil der Kritik und angesichts der Tatsache, dass dieses Buch in den pädagogischen und psychologischen Seminaren deutscher und ausländischer Universitäten sowie an den Studienseminaren und Lehrerbildungsstätten aller deutschen Länder durchgehend benutzt wird, darf auch dieses Buch als ein wichtiger Beitrag zur Psychologie und Wesenskunde der heutigen Jugend betrachtet werden.“ Das Buch „Flegeljahre“ habe mit der 2. Aufl. insgesamt 7000 Exemplare gehabt, „eine niederländische Übersetzung befindet sich zur Zeit in Vorbereitung“.[89]
Das Schreiben mit dem Hinweis auf eine bevorstehende niederländische Übersetzung hatte Hans Muchow zum ersten Mal in einer Korrespondenz mit der Schulbehörde als Hans Heinrich Muchow unterzeichnet, was er von diesem Zeitpunkt an stets tat. Von nun an veröffentlichte er auch unter dem Namen Hans Heinrich Muchow. Vielleicht überinterpretiere ich, wenn ich dies mit der Tatsache einer niederländischen Ausgabe verbinde. Aber Hans Muchow musste davon ausgehen, dass er im holländisch-belgischen Raum vielleicht Spuren hinterlassen hatte, die ihm in diesem Kontext Probleme bereiten konnten. Die Schulbehörde jedenfalls ignorierte seinen zweiten Vornamen und antwortete immer an Hans Muchow. So auch Landesschulrat Ernst Matthewes am 27.3.1957, der schrieb:
„Ihr Gesuch, ein Jahr für Ihre wissenschaftlichen Arbeiten beurlaubt zu werden, ist von der Schulbehörde sehr eingehend geprüft worden und ich darf Ihnen dazu folgendes sagen: Ich verstehe durchaus Ihren Wunsch, von der kraft- und zeitraubenden Arbeit in der Schule entbunden zu werden, um Ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgehen und die 3. Aufl. Ihrer Schrift fertigstellen zu können, und ich möchte Ihnen ausdrücklich bescheinigen, dass wir von dem großen Wert Ihrer Veröffentlichungen nicht nur für die Erkenntnis der gegenwärtigen Situation unserer Jugend, sondern auch wegen der unmittelbaren Wirkung auf die Gestaltung der Schule überzeugt sind. Ihre früheren Veröffentlichungen belegen dies eindeutig. Trotzdem haben wir uns nicht entschließen können, Ihnen den erbetenen Urlaub zu bewilligen, weil die angespannte Personallage im Bereich der wissenschaftlichen Oberschulen eine solche Beurlaubung nicht zulässt und das Personalamt ihr nicht zustimmen wird. Ich weiß, dass diese Entscheidung für Sie eine große Enttäuschung bedeutet, besonders weil ich mir bewusst bin, dass Ihr Antrag nicht nur einem persönlichen Wunsche entsprang, sondern auch der Sache dienen sollte, und ich weiß auch, dass es eine fast untragbare Zumutung bedeutet, neben der aufreibenden Arbeit in der Schule, die Sie, wie wir wiederholt feststellen konnten, stets mit großer Hingabe und anerkanntem Erfolg ausgeübt haben, noch Zeit und Kraft für eine größere ernsthafte wissenschaftliche Arbeit aufzubringen.“[90]
Vorangegangen war ein Schreiben von Schulleiter Kurenbach, der um Ablehnung des Gesuchs bat, weil er Hans Muchow als Klassenlehrer für die 11. Klasse benötigte.[91]
So kam es dazu, dass Muchow auch im folgenden Schuljahr am Gymnasium Eppendorf eingesetzt war. Allerdings hatte die Schulbehörde Hans Muchow auf Antrag von Schulsenator Heinrich Landahl vom 14.2.1958 auf Grundlage der Beurteilung des Schulleiters wieder zum Oberstudienrat befördert.[92]
Muchow verstärkte im Weiteren seine Arbeit auf vielen Ebenen. Er war als Oberstudienrat an der Schule tätig, schrieb Neuauflagen seiner Bücher und Aufsätze in Sammelwerken und pädagogischen Zeitschriften, trat als Redner deutschlandweit auf Tagungen in Erscheinung, wie die Urlaubsanträge in seiner Personalakte dokumentieren.[93]
1961 stellte Muchow erneut einen Antrag, für seine wissenschaftliche Arbeit beurlaubt zu werden für ein Jahr, dieses Mal „unter Fortzahlung des Gehalts“, was Landesschulrat Ernst Matthewes in einem Vermerk für Senator Landahl als „etwas außergewöhnlich“ bezeichnete und dann in einem Schreiben am 10.3.1961 an Hans Muchow ablehnte.[94]
Oberschulrat Curt Zahn machte im Jahr darauf den Versuch, Hans Muchow für eine weitere Beförderung vorzuschlagen: „Er wäre jederzeit in der Lage, ein Gymnasium selbständig zu leiten.“[95]
Muchow allerdings wollte einen anderen Weg gehen und beantragte am 15.1.1962, mit Vollendung seines 62. Lebensjahres in den Ruhestand versetzt zu werden, was dann auch mit Schreiben vom 2.3.1962 verbunden mit „Dank und Anerkennung für die treuen Dienste“ vollzogen wurde.[96]
Hans Muchow war danach weiterhin rege schriftstellerisch und als Vortragender auf Tagungen tätig. Jürgen Zinnecker (1941–2011) schrieb über ihn:
„Hans Heinrich Muchow war in den 50er und 60er Jahren ein geschätzter und viel diskutierter Autor zur Psychologie und Geschichte der deutschen Jugend. Ich erinnere mich an meine eigene Zeit als Lehrerstudent in Hamburg zwischen 1962 und 1965. Muchows sozialgeschichtliche Studien zu verschiedenen Jugendgenerationen zwischen 1770 und 1960 gehörten zur Standardlektüre von Studenten, die sich für Jugendarbeit und Freizeitpädagogik interessierten. Helmut Schelsky, damals Professor in Hamburg, habe ihn – so erzählt mir Hans Heinrich Muchow – seinerzeit an den Rowohlt Verlag und an den Herausgeber der Reihe ‚rowohlts deutsche enzyklopädie‘, Ernesto Grassi, vermittelt. Als Taschenbuchbände erlebten ‚Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend‘ (1959) und ‚Jugend und Zeitgeist‘ (1962) hohe Auflagen. Hans Heinrich Muchow definiert die beiden Arbeiten zur ‚epochaltypologischen Jugendpsychologie‘ als ‚Erfüllung des wissenschaftlichen Vermächtnisses meiner Schwester‘.“[97]
Hans Muchow und Hans Heinrich Muchow – zwei Gesichter eines Mannes.
Es war ihm gelungen, seine Tätigkeit für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg verblassen und vergessen zu lassen.
Hans Muchows Frau Else war vom 20.10.1945 bis zum 18.8.1946 vom Dienst suspendiert worden, danach aber, insbesondere in den 1950er Jahren sehr erfolgreich als Lehrerin und in der Lehrerfortbildung als Seminarleiterin tätig gewesen. Sie war Oberschullehrerin für den Turn- und Schwimmunterricht. Schulsenator Heinrich Landahl hatte am 14.11.1960 den Ernennungsvorschlag gemacht, sie zur Studienrätin zu befördern. Nachdem das Personalamt dies mit Hinweis auf die fehlende Laufbahn-Voraussetzung abgelehnt hatte, ließ auch Else Muchow sich zum 1.4.1962 pensionieren. In einem Vermerk in ihrer Personalakte wurde am 16.11.1973 festgestellt, dass sie „nach wie vor engen Kontakt zur Schule hält, obwohl sie wegen der Krankheit des Mannes an den Schulveranstaltungen nicht mehr teilnehmen kann“.[98]
Hans Muchow starb am 30.11.1981, seine Frau Else Muchow war schon am 18.10.1979 gestorben.[99]


Nachtrag
Ähnlich wie bei Albert Krebs habe ich über Bibliotheken und Antiquariate versucht, Schriften von Hans Muchow einzusehen oder zu erwerben. Jüngst bekam ich den Druck eines Vortrags von Hans Muchow vom 2.3.1939 vor der Nordischen Gesellschaft in Hamburg. Sein Thema: „Die Hanse als Wille und Tat aus nordisch-germanischem Geist“. Diesen Vortrag hielt er also, bevor er sich aufmachte, beim Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg mitzuarbeiten. Ich zitiere nur sein Resümee:
„Und überall, wo diese hansischen Menschen leben und schaffen, sind sie sich ihres Deutschtums bewusst und halten es rein von fremden Einflüssen. Das wird deutlich aus der Bemerkung des lübischen Chronisten Reimar Kock, der 1499 schreibt:
‚Tho Lubecke syn nene (keine) Joden, de besnedet syn; man bedarveth erer ock nicht!‘“

Und weiter:
„So tritt uns, trotz der wenig ergiebigen Quellen, ein Bild hansischen Menschentums entgegen, das dem nordisch-germanischen Menschentum der Sagas und Eddas überraschend verwandt ist: gemeinschaftswillig, zum Einsatz für die Sache seiner Stadt und der gemeinen Hanse bereit, hart, wehrhaft, kampfbereit, kühn im Handeln und Planen, seines Deutschtums bewusst und auf Reinerhaltung seiner Art bedacht dessen Wahlspruch auch uns aus dem Herzen gesprochen ist: ‚Navigare necesse est; vivere non est necesse!‘, was wir vielleicht sehr frei, aber doch den Sinn treffend übersetzen dürfen: ‚was ist schon das Leben wert, wenn es nicht an hohe Ziele gesetzt wird!‘“[100]
Die „hohen Ziele“ wurden ein paar Monate später gesetzt, als Deutschland den Zweiten wahnsinnigen Weltkrieg begann.
Edward Dolnick hat ein Buch geschrieben, das 2014 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde: „Der Nazi und der Kunstfälscher. Die wahre Geschichte über Vermeer, Göring und den größten Kunstbetrug des 20. Jahrhunderts“.[101] Darin wird eindrücklich deutlich, dass der Kunstraub insbesondere in den besetzten Niederlanden von den Naziführern Adolf Hitler und Hermann Göring intensiv beobachtet und betrieben wurde, vermeintlichen Kunstfreunden und Kunstsammlern. Dolnick stellt fest:
„Von den ungefähr 140.000 Juden, die vor dem Krieg in den Niederlanden lebten, wurden 102.000 von den Deutschen umgebracht. Rund 25.000 Juden versteckten sich, 8000 von ihnen, darunter Anne Frank und ihre Familie, wurden entdeckt und ermordet.“ Hans Muchow war sicherlich an der Ermordung der Juden nicht beteiligt. Aber er hatte jüdische Villenbesitzer und solche, die den Nationalsozialisten feindselig gegenüberstanden, denunziert. Nach deren Flucht oder Abtransport hatte er sich mit seinen „Mitarbeitern“ in deren Villen niedergelassen und deren Eigentum gesichtet und abtransportieren lassen. Aus meiner Sicht sind Hans Muchow und sein Freund und Kollege Adolf Vogel Kriegsverbrecher gewesen und es ist erschütternd, dass diese nach 1945 ungeschoren davon kamen und wieder an Hamburger Schulen unterrichten durften.
Hans Muchow war offensichtlich schon vor seinem Einsatz im Rosenberg-Stab „out of turn“ geraten. Er, der 1939 in seinem Vortrag zitierte, „dass man der Juden nicht bedürfe“, dessen Schwester aus Verzweiflung über die nationalsozialistische Verfolgung ihres jüdischen Professors William Stern 1933 nicht mehr weiterleben wollte, tat nach 1945 so, als verwalte er das Vermächtnis seiner Schwester Martha Muchow und rühmte sich, bei dem verehrten jüdischen Psychologieprofessor William Stern studiert zu haben. Ein Scharlatan.

Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Personalakte Hans Muchow, StA HH, 361-3_A 1628. Siehe auch die Biografie von Dr. Adolf Vogel in diesem Band.
2 Personalakte a. a. O.
3 Anmerkung von Jürgen Zinnecker 1998 in dem von ihm damals wieder herausgegebenen Buch von Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Abgedruckt in der Neuausgabe, die herausgegeben wurde von Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig, BeltzJuventa, Weinheim und Basel 2012, S. 40.
4 Von Zinnecker 1998 in einer Neuauflage erwähnt und nunmehr abgedruckt: Der Lebensraum des Großstadtkindes 2012.
5 Siehe: Wikipedia, https//de.wikipedia.org/wiki/Hans-Heinrich_Muchow
6 Der Lebensraum des Großstadtkindes 2012, S. 40.
7 Siehe die Biografie Dr. Adolf Vogel in diesem Band.
8 Es gibt zahlreiche Literatur zu diesem Thema. Siehe etwa: Peter M. Manasse: Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges, St. Ingbert 1997; Jakob Kurz: Kunstraub in Europa 1938–1945, Hamburg 1989; Stefan Koldehoff: Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst, Frankfurt am Main 2009, insbesondere S. 90 ff.
9 Uwe Schmidt: Aktiv für das Gymnasium. Hamburgs Gymnasien und die Berufsvertretung ihrer Lehrerinnen und Lehrer von 1870 bis heute, Hamburg 1999, S. 693.
10 Uwe Schmidt 1999 S. 177, S. 238 und S. 240.
11 Uwe Schmidt 1999. Der Aufsatz von Hans Muchow wird zitiert aus: Die Horst, Schulzeitschrift der Walddörferschule, November 1949, S. 5.
12 Siehe die Hamburgischen Lehrerverzeichnisse des Stadt- und Landgebietes für das Schuljahr 1930–1931, S. 44 und für das Schuljahr 1932–1933, S. 43. In diesen, von der Gesellschaft der Freunde und dem Verein Hamburger Lehrerinnen herausgegebenen Verzeichnissen sind die Mitglieder der Gesellschaft der Freunde mit einem Stern gezeichnet.
13 Schreiben an Hans Brunckkorst vom 11.5.1928, Entnazifizierungsakte Hans Muchow, StA HH, 221-11_Ed 1192
14 Schreiben vom 27.8.1929, Personalakte a. a. O.
15 Schreiben vom 13.2.1928, Personalakte a. a. O.
16 Siehe zu Martha Muchow: Hannelore Faulstich-Wieland/Peter Faulstich: Lebenswege und Lernräume. Martha Muchow: Leben, Werk und Weiterwirken, Weinheim und Basel 2012. Siehe auch die Laudatio, die Hannelore Faulstich-Wieland zur Einweihung der Martha-Muchow-Bibliothek der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg am 31.1.2007 gehalten hat, in der wesentliche biografische Daten von Martha Muchow genannt wurden, https://www.ew.uni-hamburg.de; siehe auch die Biografie Martha Muchow in: www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/martha-muchow; siehe auch die von Martin Tschene geschriebene Biografie: William Stern, Hamburg 2010.
17 Helmut Moser: Zur Entwicklung der akademischen Psychologie in Hamburg bis 1945. Eine Kontrast-Skizze als Würdigung des vergessenen Erbes von William Stern, in: Eckart Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer (Hg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, Berlin-Hamburg 1991, S. 496f. Siehe dazu auch die Biografie Paul Roloff, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017, S. 637 ff., sowie die Biografie Gustaf Deuchler, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 142 ff. sowie die Biografie Georg Anschütz in diesem Band.
18 Faulstich-Wieland 2007, S. 5.
19 Helmut Moser 1991, S. 498 f.
20 Faulstich-Wieland 2007, S. 1.
21 Von Zinnecker 1998 in einer Neuauflage erwähnt und nunmehr abgedruckt: Der Lebensraum des Großstadtkindes 2012, S. 40.
22 Zinnecker 1998, S. 41.
23 Ebd.
24 Laut Angabe Hans Muchow über seine Schriftwerke bis 1945 in seiner Entnazifizierungsakte, a. a. O.
25 Originalausgabe: Dr. Martha Muchow – Hans Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Hamburg 1935, Vorwort S. 8 f.
26 Entnazifizierungsakte a. a. O.
27 Ebd.
28 Siehe Anmerkung 15 und Personalakte Muchow, a. a. O.
29 Siehe dazu auch die Biografie Dr. Adolf Vogel in diesem Band.
30 Willem de Vries: Kunstraub im Westen 1940–1945, Frankfurt am Main 2000, S. 137.
31 de Vries 2000, S. 239.
32 de Vries 2000, S. 13.
33 de Vries 2000, S. 35.
34 de Vries 2000, S. 236.
35 de Vries 2000, S. 236 f.
36 de Vries 2000, S. 237.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 de Vries 2000, S. 241.
40 Ebd.
41 de Vries 2000, S. 243.
42 de Vries 2000, S. 249.
43 de Vries 2000, S. 243 f.
44 de Vries 2000, S. 249.
45 Ebd.
46 Ebd.
47 tsdavo.gov.ua/static/pdf/61433132.pdf
48 Transportanmeldung vom 11.5.1942, ebd.
49 Anschreiben für die Kisten des Transportes vom 25.3.1943, ebd.
50 Hauptarbeitsgruppe Belgien-Nordfrankreich, Aufstellung der Aktivitäten und wichtigsten Arbeitsvorhaben vom 8.1.1943, ebd.
51 Schreiben vom 9.9.1941, ebd.
52 Ebd.
53 Schreiben vom 7.8.1941, ebd.
54 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Koblenz 2013, S. 620.
55 Schreiben vom 7.8.1941, tsdavo.gov.ua/static/pdf/61433132.pdf
56 Personalakte Else Muchow, geb. Wrage, StA HH, 361-3_A 1627
57 Hans Muchow: Die Hanse als Wille und Tat aus nordisch-germanischem Geist, Hamburg 1939.
58 Hans Muchow: Der flämische Raum und die deutsche Hanse. Zugleich ein Versuch der Darlegung ihrer germanischen Grundlagen, Brüssel 1942, 2. Aufl. 1943.
59 Ebd., S. 79 f.
60 Ebd., S. 80.
61 Faulstich-Wieland 2007, S. 5.
62 Hans Muchow 1943, S. 5.
63 Ernennungsurkunde, Personalakte a. a. O.
64 Entnazifizierungsakte a. a. O.
65 Schreiben vom 12.9.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
66 Schreiben vom 31.5.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
67 Schreiben vom 9.6.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
68 Entnazifizierungsakte a. a. O.
69 Entnazifizierungsakte a. a. O.
70 Schreiben vom 27.10.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O. Laut ihrer Personalakte war Else Muchow auf Anordnung der Brit. Militärregierung vom 9.10.1945 entlassen und zum 1.8.1946 wieder eingestellt worden, StA HH, 361-3_A1627
71 Bitt-Adresse vom 10.2.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
72 Schreiben von Heinrich Landahl vom 1.11.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
73 Im Weiteren wird zitiert aus dem Einspruch des Oberstudienrat a. D. Hans Muchow gegen seine Entlassung, Entnazifizierungsakte a. a. O.
74 Ebd.
75 Ebd.
76 Ebd.
77 Berufungsausschuss 17 vom 3.12.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
78 Beratender Ausschuss vom 3.3.1947,
79 Stellungnahme vom 4.3.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
80 Schreiben des Fachausschusses vom 9.12.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
81 Personalakte a. a. O.
82 Schreiben von Oberregierungsrat Werneke vom 6.12.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
83 Berufungsausschuss 3 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vom 16.3.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
84 Ebd.
85 Schreiben von Alexander Strempel, Entnazifizierungsakte Vogel, StA HH, 221-11_Ed 15885
86 Schreiben des Leiters der Zentralstelle für Berufungsausschüsse vom 16.3.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
87 Personalakte a. a. O. Günstig für Muchow war sicherlich auch, dass sein neuer Schulleiter Kurenbach ein langjähriger Kollege seiner Frau Elsa Muchow, geb. Wrage, an der Lichtwarkschule in den Jahren 1928–1937 gewesen war. Siehe: Arbeitskreis Lichtwarkschule (Hg.): Die Lichtwarkschule. Idee und Gestalt, Hamburg 1979, Lehrerverzeichnis S. 60.
88 Beurteilung von 26.8.1957, Personalakte a. a. O.
89 Gesuch von Studienrat Hans Heinrich Muchow für eine Beurlaubung ab dem 1.4.1957, Personalakte a. a. O.
90 Schreiben von Landesschulrat Matthewes vom 27.3.1957, Personalakte a. a. O.
91 Schreiben von Walter Kurenbach vom 11.3.1957, Personalakte a. a. O.
92 Ernennungsantrag vom 14.2.1958, Personalakte a. a. O.
93 Personalakte a. a. O.
94 Schreiben vom 10.3.1961, Personalakte a. a. O.
95 Vorschlag von Oberschulrat Curt Zahn vom 4.1.1962, Personalakte a. a. O.
96 Personalakte a. a. O.
97 Zinnecker 1998, S. 38.
98 Personalakte Else Muchow, a. a. O.
99 Personalakten Hans Muchow und Else Muchow, a. a. O.
100 Hans Muchow: Die Hanse als Wille und Tat aus nordisch-germanischem Geist, Vortrag gehalten am 2.3.1939 vor der Nordischen Gesellschaft in Hamburg, Martin Schlegel Verlag, Hamburg 1939, S. 23.
101 Edward Dolnick: Der Nazi und der Kunstfälscher, Berlin 2014, S. 36.
 

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Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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