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Ottomar Hartleb

(10.8.1888 Altona – 25.1.1960)
Schulleiter der Emilie-Wüstenfeld-Schule
Wilmans Park 7 (Wohnadresse 1955)

Dr. Hans-Peter de Lorent hat über Ottomar Hartleb ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:

„Die Wurzeln unseres Volkes liegen in Blut und Boden und die Haltung, die wir Nationalsozialisten den deutschen Menschen geben wollen, ist die heroische.“
Ottomar Hartleb war ein vielseitig interessierter Mann. Er war naturwissenschaftlich engagiert, arbeitete parallel zu seiner Studienratstätigkeit in der Weimarer Republik im Lichtforschungsinstitut in Eppendorf an der Krebsforschung. Nach einem Forschungsauftrag in Südafrika 1931/32 widmete er sich leidenschaftlich den Bestrebungen der Kolonialisierung. Es war für ihn kein großer Schritt, als Deutschnationaler 1933 der NSDAP beizutreten und Schulleiter der Emilie-Wüstenfeld-Schule zu werden. Möglicherweise war es seiner Eitelkeit zu verdanken, dass seine Reden bei Schulfeiern und Andachten gesammelt erhalten blieben. Sie vermitteln einen konkreten Einblick, wie Schülerinnen nationalsozialistisch indoktriniert wurden.
Ottomar Hartleb wurde als Sohn eines Beamten der Baudeputation am 10.8.1888 in Altona geboren. Er besuchte die Stiftungsschule von 1815 und anschließend die Oberrealschule Eimsbüttel. Nach dem Abitur studierte Hartleb an den Universitäten in München, Göttingen und Gießen Physik und Chemie, daneben Mineralogie und Mathematik.[1]
Das Probe- und Anleitungsjahr absolvierte er ab dem 1.1.1914 an der Oberrealschule vor dem Holstentor. Am 1.4.1917 ernannte die Schulverwaltung Hartleb zum Oberlehrer und stellte ihn fest ein. Zum Kriegsdienst wurde er „für unabkömmlich“ erklärt.[2] Das hing sicherlich mit seinen Forschungsarbeiten zusammen, die 1917 in eine Dissertation an der Universität Gießen mündeten. Thema: „Quantitative Untersuchungen über den Thomson-Effekt an glühenden Drähten“.[3]
Seinem späteren Entnazifizierungsfragebogen legte er eine umfangreiche Liste von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bei.[4] Hartleb forschte mit anderen Wissenschaftlern und naturwissenschaftlichen Lehrern wie Prof. Ferdinand Dannmeyer an Methoden der Diagnostik von Krebserkrankungen. Später erklärte Hartleb, dass seine Berufung zum Schulleiter 1933 für ihn ein Verzicht war „auf eine mehr als zehnjährige ehrenamtliche, wissenschaftliche Tätigkeit im Dienste der Volksgesundheitspflege am Lichtforschungsinstitut (Hamburg- Eppendorf)“.[5]
Hartleb nahm teil an Tagungen der „Ärzte und Naturforscher“, 1920 und 1926. Auch politisch war er interessiert und aktiv in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP).[6]
Durch seine Forschungsarbeiten hatte Hartleb Kontakte nach England und Südafrika. 1931/32 war er eingeladen worden, um in Kapstadt und Johannesburg die Hamburger Forschungsergebnisse vorzustellen und „Pläne für eine Institutsgründung zur Krebsforschung in Johannesburg vorzubereiten“.[7]
Hartleb arbeitete hauptamtlich als Oberlehrer an dem Lyzeum am rechten Alsterufer , aus dem 1927 die Helene-Lange-Schule wurde. Am 1.5.1933 trat Hartleb in die NSDAP ein. In der kurz vor Ende des Krieges geschriebenen Chronik der Emilie-Wüstenfeld-Schule notierte Georg Wölfert:
„Seit dem August des Jahres 1933 lag die Leitung der Emilie-Wüstenfeld-Schule in den Händen von Herrn Oberstudiendirektor Dr. Ottomar Hartleb, dem damit die Aufgabe zuteil wurde, die Schule – auf bewährter Überlieferung aufbauend – im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung zu führen.“[8]
Ein zweiter Schwerpunkt, der mit einer Leidenschaft von Ottomar Hartleb zusammenfiel, wurde ebenfalls vermerkt:
„Unter der Leitung des Herrn Dr. Hartleb ist der Schule eine besondere Aufgabe insofern übertragen worden, als es ihr zur Pflicht gemacht worden ist, den kolonialen Traditionen Deutschlands im Rahmen der Schularbeit besondere Pflege zu widmen.“[9]
Wölfert, in Abwesenheit von Hartleb später selbst mit der Schulleitung betraut, stellte in diesem Kontext fest, dass Hartleb am 1.5.1942 für ein Jahr „zu besonderen Aufgaben im Reichskolonialbund Berlin beurlaubt wurde“.[10]
Und Hartleb musste in seinem Entnazifizierungsfragebogen nach Ende der NS-Herrschaft angeben, dass er von 1941–1943 in Dänemark und Norwegen zu Vortragsreisen bei der Luftwaffe unterwegs gewesen war. Nebulös nannte er als Vortragsinhalte „Themen u. a. Afrika“.[11]
Auf das Entnazifizierungsverfahren soll noch genauer eingegangen werden. Es waren stets Verharmlosungsveranstaltungen von Seiten der Betroffenen. Interessant ist im Hamburger Staatsarchiv eine Akte aus dem Bestand der Emilie-Wüstenfeld-Schule, die „Notizen des Schulleiters“ genannt ist und die Worte und Reden von Ottomar Hartleb in Konferenzen und bei Schulfeiern beinhaltet. Darüber hinaus gibt es eine Akte „Programme etc.“ mit Redemanuskripten von Hartleb. Ob dies der Eitelkeit des Schulleiters geschuldet war, man weiß es nicht. Jedenfalls bietet es Gelegenheit, die Behauptung von Ottomar Hartleb nach Ende der NS-Herrschaft zu untersuchen, er hätte niemals ideologische Reden gehalten. Die Selbsteinschätzung oder Schutzbehauptung Hartlebs lautete nämlich am 5.10.1945:
„Mein Schulamt, dem ich mich mit Liebe und Interesse widmete, habe ich, alter deutscher Schultradition gemäß, zu führen mich bemüht. Schulfremde Einflüsse (seitens des BDM) habe ich so weit wie möglich ferngehalten und die Hauptaufgaben in der Vermittlung gediegenen Wissens gesehen. Besonders wurden die musischen Fächer gepflegt. Politischer und religiöser Zwang ist weder von mir noch von den Lehrern ausgeübt worden. Ich habe vielmehr im Laufe der Jahre viele Härten mildern oder abwenden können, die Kinder jüdischer Mitbürger oder solche von Ausländern betrafen.“ Und Hartleb erklärte:
„Ich habe in der Partei weder ein Amt bekleidet noch irgendwelche weltanschaulichen Vorträge gehalten.“[12]
Mit den Aufzeichnungen der Schule aus dieser Zeit konfrontiert, stellt sich dies allerdings ganz anders dar. Über die Einführung des neuen Schulleiters Ottomar Hartleb wird unter dem 7.8.1933 in den Schulakten festgehalten:
„Auftritt des neuen Schulleiters. Einführung durch den Vertreter, Herrn Ramb. Kurze Ansprache des neuen Leiters. Die Schule ist fortan im Geiste unseres großen Führers Adolf Hitler zu führen, d. h. Einordnung des Einzelnen in die Gesamtheit, Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung und immerwährendes Kämpfertum ist erforderlich, um Deutschland wieder zur Höhe empor zu führen. Die Jugend muss wieder erfüllt werden mit den großen Idealen. Sie muss erzogen werden in demselben Geiste, der einst Preußen groß gemacht hat.“[13]
Am 16.10.1933 hielt Ottomar Hartleb eine Andacht in der Schule. Notiert wurde:
„Herr Dr. Hartleb hielt die Andacht und besprach alsdann die zwei großen politischen Ereignisse der letzten Jahre: ‚Das Verlassen der Abrüstungskonferenz‘ und ‚Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund‘. Deutschland hat ein Entgegenkommen bis zum äußersten gezeigt. Die Verhandlungen wurden jedoch zur lächerlichen Komödie. Deutschland hat weiter versucht, der großen Sache des Friedens zu dienen, doch können und wollen wir nicht mitschuldig sein an dem großen Betrug der Völker, deshalb wurde die Delegation der Abrüstungskonferenz zurückgerufen. Der Völkerbund ist das Instrument derjenigen Völker, die uns seit 14 Jahren am Boden halten wollen. Wir haben in Genf mitgearbeitet und wollten ernste und sorgsame Arbeit leisten, aber die Ehre lassen wir uns nicht rauben, daher wissen wir auch, dass wir diesen Schritt tun mussten. Herr Dr. Hartleb schließt mit den Worten Luthers: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.‘“[14]
Am 23.10.1933 war es Hartlebs Stellvertreter, Aloys Ramb, der die Schülerinnen nationalisierte:
„Herr Ramb machte die Schülerinnen nochmals auf die Bedeutung der Flaggenhissung aufmerksam. Sie sei unser feierliches Bekenntnis zum neuen Staat und wir geloben gleichzeitig dadurch dem Führer, ihm mit freudigem Herzen zu dienen. Auf dem Wege zur Aula kommen wir vor den Bildern der zwei großen Männer vorüber, wir wollen den Männern fest ins Auge schauen, dann zur Andacht gehen. Herr Ramb sagte der Jugend, dass sich unsere Nation in einem geistigen Umbruch befindet und jetzt gilt es echt nationale Haltung zu gewinnen und die Idee des Führers ins Bewusstsein des Volkes zu bringen. Strebt nach oben empor! Wir erlebten den Konkurrenzkampf alle gegen einen. Das ‚Ich‘ ist wehrlos, hilflos, ohne Schutz gegenüber der Masse. Der Strom teilt sich in Arme und Nebenarme, am Ende bleibt von diesen Armen nichts mehr übrig – am Ende steht der Tod –. Wenn Lösen, Lockern und Teilen zum Tode führen, muss Sammeln, Binden, Zusammentragen neue Kraft und neues Leben hervorbringen. Unsere Aufgabe ist: wir müssen sammeln, binden, das neue Große zu einem großen Ganzen zusammenschließen, das für uns das deutsche Volk heißt. Der Organismus hat nichts für sich, sondern alles für alle. Das Herz schlägt nicht nur für sich selbst, sondern für den Gesamtorganismus. Der ganze Organismus nimmt daran teil, wenn ein Organ krank ist. Wucherungen kapselt er ein und schaltet sie aus.“[15]
Auf die Schülerinnen prasselte ein ideologisches Dauerfeuer ein, bei Andachten und den zahlreichen Feiern, die in der Aula zelebriert wurden. Für den 9.11.1933 wurde notiert:
„12:30 Uhr Anmarsch in die Aula. Unsere heutige Feier wurde mit dem Horst Wessel-Lied eröffnet. Danach hielt Herr Dr. Hartleb folgende kurze Ansprache: Als im Jahre Ende 1918/Anfang 1919 die Truppen von der Front zurückkehrten, herrschte ein Chaos im Vaterlande. Mutige Männer setzen gleich ihre Kraft ein, um diesen Zustand zu steuern; einer der ersten war unser Führer Adolf Hitler. Im Jahre 1923, am 9. November, versuchte er mit gleichgesinnten Menschen – unter ihnen nenne ich nur Ludendorff – dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die Vorbereitung zu dieser Erlösung, zu der sich die Besten berufen fühlten, war nicht nur in München, sondern auch in anderen Teilen des Reiches, geschah auch hier in Hamburg. Doch durch den begangenen Verrat brach dieser so mutig begonnene Aufstand zusammen. Zahlreiche Männer blieben in ihrem Blute liegen. Der Schwerpunkt des Kampfes unseres Führers legte sich sodann auf andere Quellen, aus denen der menschliche Geist seine Kraft zieht, nämlich: Blut, Boden und Ehre. Dieses sind die drei Quellen für unser neues Deutsches Reich. – Alsdann verlas Dr. Hartleb den Aufruf von Rudolf Hess. Dr. Hartleb sagte noch zu den Schülerinnen: ‚Ich erwarte von euch, dass ihr die Worte und den Sinn dieser Stunde in euch weitertragt und das Gedenken und den Sinn dieser Tage als eine Kraftquelle betrachtet, sodass aus euch Streiter für das 3. Reich erwachsen. Dieses ist der Sinn, den wir hier pflegen wollen und wir werden uns bemühen, euch dieses voll zum Bewusstsein zu bringen.‘“[16]
Ungeschminkte, simple nationalsozialistische Indoktrinationsbemühungen. Man kann der Protokollantin und der Schule dankbar sein, diese „Notizen des Schulleiters“ archiviert zu haben.
Für den 10.2.1936 wurde von Ottomar Hartleb seine Feststellung notiert, „dass laut letzter Statistik jetzt 78 % der Schülerinnen in der HJ wären. Es käme aber nicht auf den Prozentsatz an, sondern auf die Einsatzbereitschaft, den Charakter und Kulturwert, Sauberkeit des Charakters und Disziplin. Kultur des Geistes gleich Klarheit und Urteilsfähigkeit. An Letzterem fehlte es noch sehr. Ehrfurcht vor der alten Generation. Einige Beobachtungen und Entgleisungen geben den Anlass, heute hier zu sprechen. Dann ermahnte der Schulleiter nochmals, darauf zu achten, dass vor allem der Hof sauber gehalten und kein Papier oder Obstabfälle hingeworfen werden. Gefreut hat die Schulleitung sich über die große Einsatzbereitschaft der Schule für die Kolonialausstellung. Die Ausstellung hat in der Öffentlichkeit weiteste Beachtung gefunden, die Schularbeit ist lobend anerkannt worden. Die Schule hat ferner ihre Einsatzbereitschaft im Leistungswettkampf gezeigt. Sie hat, wenn auch nicht den ersten, so doch den zweiten und dritten Preis errungen. Der Schulleiter dankt den Schülern und Lehrern. Danach wurden noch gemeinsam mehrere Lieder gesungen: 1. Wenn die bunten Fahnen wehen, 2. Auf, hebt unsere Fahne, 3. Die blauen Dragoner sie reiten, 4. Es zog ein Regiment … 5. Wir ziehen über die Straße 6. Vorwärts.“[17]
In einer anderen Akte der Schule sind die Manuskripte der Reden des Schulleiters aufbewahrt. Am 24.2.1934 sprach Hartleb zur Totengedenkfeier. Er sagte:
„Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass einzelne gottbegnadete Männer Geschichte machen, und es wird uns Sterblichen stets ein Rätsel sein, dass diese immer zur rechten Zeit erscheinen. Wollen wir sie verstehen und den elementaren Hochdruck der nationalsozialistischen Revolution erfassen, die von ihnen gemacht wurde, so müssen wir zurückgreifen auf den Urquell der Kraft, den sie in dieser Zeit als erste wieder erkannt haben, auf die Kraft von Volkstum und Blutgemeinschaft. Die entbundene, individualisierte formlose Masse war zu solchen Leistungen unfähig; erst dadurch, dass jeder Einzelne sich als Glied dieser Blutgemeinschaft empfindet, in der die gesunden Funktionen des staatlichen Gemeinschaftslebens entwickelt werden, können so große Leistungen, wie wir sie bereits erlebt haben, erzielt werden. Die Wurzeln unseres Volkes liegen in Blut und Boden und die Haltung, die wir Nationalsozialisten den deutschen Menschen geben wollen, ist die heroische, unter der wir nicht nur physischen Mut und Tapferkeit verstehen, sondern auch die sittliche Stärke, die sich ausdrückt in der Wahrhaftigkeit und Opferbereitschaft bis zum äußersten.
Millionen unserer Volksgenossen haben im großen Kriege unser Vaterland beschützt und unter Einsatz ihres Lebens die Schrecken des Krieges von uns ferngehalten. Ungeheuer sind die gebrachten Opfer. An 2 Millionen Tote liegen wie ein Wall um Deutschlands Grenzen und schlafen in die Ewigkeit. Liebende Hände haben ihre Gräber geschmückt und würdige Gedenksteine errichtet. Ihnen zur Ehre und den Lebenden zur Mahnung; aber in selbstquälerischer Anklage verstand das seelisch und körperlich zermürbte Volk der Nachkriegszeit den Sinn des Menschenopfers nicht mehr, die eigene persönliche Not ging ihm vor Volksnot. Wie aus einem geheimnisvollen Dunkel heraus aber tönte anklagend der Chor der Toten und offenbarte manchem, in welchen Abgrund das deutsche Volk hinein getaumelt war. Würde der Weltkrieg nichts anderes zu bedeuten gehabt haben, als einen nutzlosen Kampf um materiellen Gewinn, er wäre ein wahnsinniges Verbrechen gewesen. Er kann aber nur aufgefasst werden als der Ursprung neuen Lebens, der die in Erstarrung begriffene Menschheit aus ihrem Traum mit harter Hand herausriss und das pessimistische Wort vom Untergang des Abendlandes zerstört.“
Und mit Adolf Hitler und Horst Wessel schloss Hartleb vor den Schülerinnen und dem Kollegium der Schule seine Rede ab:
„Unser Führer war einer von den Millionen, die für uns gekämpft und gelitten haben. Das ewige Soldatentum ist in ihm am besten verkörpert. Er hat mit seinen braunen Armeen den Geist dieses heroischen Frontkämpferturms wieder aufleben und zur Tat werden lassen. Er hat den feldgrauen Soldaten und den gefallenen Kameraden die Ehre wiedergegeben und den Toten die Krone der Ewigkeit aufs Haupt gedrückt. Jahrelanger schwerer Kämpfe hat es bedurft, ein ungeheures Maß von Opferbereitschaft und Treue war nötig, um die Widerstände hinwegzufegen und das Reich Gestalt werden zu lassen. Wenn wir in dieser Stunde in Ehrfurcht unser Haupt beugen vor den Toten des Weltkrieges, gedenken wir in gleicher Stunde der politischen Kämpfer der Bewegung, die in gleicher Einsatzbereitschaft ihr Leben hingaben für die Gemeinschaft. Einen unter ihnen kennt ihr besonders gut, Horst Wessel, dessen Todestag am 28. Februar gestern wiedergekehrt ist. Ihr jungen Menschen, die ihr in den Anbruch einer großen Zeit hineingeboren seid, sollt eines Tages dieses Erbe übernehmen und wie einen Heiligen Gral mit eurem Leben schwärmen und verteidigen, wenn es sein muss. Aber nur wer die Ehrfurcht vor den Toten hat, ist würdig selbst dereinst Führer zu sein.“[18]
So redete der Schulleiter eines Eimsbütteler Mädchenlyzeums 1934, der ein Jahrzehnt später beteuerte, seine Hauptaufgabe „in der Vermittlung gediegenen Wissens gesehen und niemals weltanschauliche Vorträge gehalten zu haben“.
Am 18.1.1934 sprach Hartleb erneut vor den Schülerinnen. Nach dem Kanon: „Der Teufel soll versinken, die Männlichkeit soll blinken, das Deutsche Reich bestehn, die Erd und All vergehn“, führte er erneut sein immer wiederkehrendes Thema aus:
„Noch einmal zeigte sich die im Volke wohnende heroische Kraft im Jahre 1914, aber die Heimat versagte und das 2. Reich wurde durch innere und äußere Feinde völlig zerstört. Anknüpfend an beste preußische Tradition und auf Fundamenten Bismarcks neu aufbauend, hat unser Führer und seine Mannen dem deutschen Volk ein Heim gegeben, in dem es seiner völkischen Bestimmung entsprechend leben und schaffen soll. Die im Volke wohnende Kraft soll entbunden werden, dass es sich selbst dem drohenden Untergang entzieht. Wir stehen erst am Anfang zum 3. Reich, dessen Bau noch lange nicht vollendet ist; dazu bedarf es noch gewaltiger Anstrengung. Ein sichtbares Zeichen der Verbindung zur großen Vergangenheit, das noch deutlicher wird durch die völlige Vereinheitlichung des Deutschen Reiches am heutigen Tage, dem 18. Januar 1934 unter der genialen Führung seines besten Beraters, unseres Volkskanzlers Adolf Hitler. Seien wir uns bewusst, dass wir eine große Aufgabe zu erfüllen haben, und dass nachkommende Geschlechter über uns urteilen, ob wir uns dieser Aufgabe würdig erwiesen haben. Wir wollen auch in dieser Stunde unseren Führern unbedingte Treue geloben. Glaube und Vertrauen müssen die Quellen unserer Kraft zu unermüdlicher, vorwärts drängender Mitarbeit sein; nicht durch kleinliche Ichsucht darf es wieder dahin kommen, dass des Reiches Herrlichkeit zerbricht.“[19]
Am 3.1.1934 resümierte Ottomar Hartleb vor den Schülerinnen und der Lehrerschaft das erste Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft:
„Wir stehen an der Jahreswende, ein Jahr liegt hinter uns, welches dereinst in der Geschichte Deutschlands als ein ganz großes gekennzeichnet werden wird, dadurch dass das deutsche Volk sich wiedergefunden hat. Am 30. Januar 1933 wurde unserem Volkskanzler durch den Reichspräsidenten die Regierung übergeben. Im Zuge dieser Ereignisse vollzog sich eine Revolution in voller Disziplin. Niemals zuvor hat sich in der Geschichte der Völker eine solche Umwälzung in dieser Ordnung vollzogen. Die großen Maßnahmen zur Umformung des deutschen Menschen wurden ergriffen. Er muss lernen und durch die Tat bezeugen, dass er Deutscher des neuen Staates ist. In welchem Ausmaß dies unserem Führer gelungen ist, zeigte das Wahlergebnis des 12. November 1933. Die Revolution ist zu Ende, der innere organische Aufbau beginnt. Jetzt gilt es, die Widersacher außerhalb der Landesgrenzen von unserer Weltanschauung zu überzeugen. Wie wenig Verständnis das Ausland für das neue Deutschland aufbringt, zeigt uns die Äußerung des russischen Außenministers Litwinow, wenn er sagt: ‚Auf der ganzen Welt gibt es nur zwei Völker, die nicht friedlich gesinnt sind, Japan und Deutschland.‘ Was er als gemeinsame Haltung kennzeichnet, ist die heroische Haltung der beiden Nationen in ihrer völkischen Lebensgestaltung. Er übersieht aber dabei die friedlichen Absichten des deutschen Volkes und seiner Führer, die imperialistische Eroberungen ablehnen. Adolf Hitler wünscht einen Frieden der Ehre und nicht der Knechtschaft. Das kommende Jahr wird über unsere außenpolitische Stellung entscheiden. Im Anschluss an den Neujahrsgruß des Jugendführers Baldur von Schirach ermahnte der Schulleiter die Jugend nochmals zu Gehorsam dem Elternhause gegenüber, zur Pflichterfüllung in der Schule und der Jugendbewegung.“[20]
Selten findet man so kompakt und anschaulich, wie die Indoktrination der Jugendlichen, in diesem Fall der Mädchen, im Rahmen der ständigen Feiern und Ansprachen von Schulleitern vonstatten ging. Selbst den Festtag der deutschen Hausmusik am 21.11.1933 nutzte Ottomar Hartleb dazu, die Schulgemeinde auf die nationalsozialistische Bewegung einzuschwören, wenn er in seine Rede so einstieg:
„Auf lange Zeit wird der 12. November 1933 der denkwürdige Tag der deutschen Geschichte sein. Politisch gesehen brachte er den vollständigen Sieg der nationalsozialistischen Revolution. Sie ist eine totale geworden; alle Gebiete des öffentlichen Lebens sind erfasst und werden von Grund auf umgestaltet. Wirkliche Revolutionen beschränken sich aber niemals auf das politische Gebiet allein, auch der schöpferische Mensch wird in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Wirtschaft und Kultur, Wissenschaft und Kunst werden von den Strömungen der Zeit erfasst. Die große Aufgabe, die uns nach der Machtergreifung nun bevorsteht, ist die Volkwerdung der deutschen Nation vorwärts zu treiben, eine alte Sehnsucht der Deutschen. Demgemäß hat sich auch der schaffende Künstler in den Dienst dieser Arbeit zu stellen. Bei der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer sprach sich der Reichsminister Dr. Goebbels über das Wesen der Kunst in folgender Weise aus: ‚Die Kunst ist kein absoluter Begriff. Sie gewinnt erst Leben im Leben des Volkes. Es war vielleicht das schlimmste Vergehen der künstlerisch schaffenden Menschen der vergangenen Epoche, dass sie nicht mehr in organischer Beziehung zum Volke selbst standen und damit die Wurzel verloren, die Ihnen täglich neue Nahrung zuführte. Der Künstler trennte sich vom Volk; er gab dabei die Quelle seiner Fruchtbarkeit auf. Von hier ab setzt die lebensbedrohende Krise der kulturschaffenden Menschen in Deutschland ein. Kultur ist höchster Ausdruck der schöpferischen Kräfte eines Volkes.“[21]
Hartleb nutzte das Forum auch, um gegen den „Intellektualismus“ und gegen eine bestimmte, von den Nationalsozialisten abgelehnte Literatur zu polemisieren:
„Diese Entfremdung der Kunst vom Volke aber ist nicht nur in der Musik festzustellen, sondern war ebenso stark auf anderen Gebieten eingetreten; denken Sie an gewisse Richtungen in der Malerei der vergangenen Periode! – Kunst und Gegenstand gehören zusammen, aber die Kunst der letzten Jahre löste sich immer mehr vom Gegenständlichen und stellte einerseits den intellektuellen Gehalt des Kunstwerkes in den Vordergrund. Hier sei erinnert an eine ganze Fülle von unerträglichen sogenannten ‚psychologischen‘ Romanen, mit denen wir in den letzten Jahren überschüttet wurden. Mit der ‚nationalen Revolution‘ ist aber auch auf dem Gebiet der Literatur ein Wandel eingetreten. Man will dem Volk wieder Bücher in die Hand geben, die frei sind von Intellektualismus, und die sich wieder an das Gegenständliche in der Kunst halten.“[22]
Seit 1919 unterrichtete Ottomar Hartleb an einem Lyzeum für Mädchen, seit 1933 leitete er eines. Darum ist auch sein Frauen- bzw. Mutterbild von Bedeutung und das Frauenbild, das er an seiner Schule vermittelte. Eine offenbar 1934 gehaltene Rede von Hartleb ist „Die Mutter“ überschrieben. Diese Rede zeigt auf, wie Mädchen in der NS-Zeit sozialisiert wurden und welche Rolle dabei die Schule spielte. Ich vermute, dass Hartlebs Rede durchaus symptomatisch war, für die Ideologie und den Ton der an den Schulen angeschlagen wurde und der dazu führte, die Mädchen und Frauen für den Nationalsozialismus zu sozialisieren. Darum soll diese Rede ausführlicher zitiert werden:
„Der für Euch Junge und Jüngsten schon bald sagenhafte Krieg nämlich, hat uns Deutsche in eine bisher nie erkannte Erschütterung gebracht: der Abgrund von Schmerz und Leid, in dem wir seit 20 Jahren leben mussten, hat in uns Kräfte und Einsichten geweckt, die wahrlich nur aus dem Abgrund, aus den Tiefen des Lebens erfahren werden können. Es ist von den Müttern während des großen Krieges so Unsagbares gelitten worden, wie von den Soldaten der Front. Wir haben wohl vom Heldentum der kämpfenden Männer ergreifende und großartige Gestaltungen in Dichtungen und Bildern der Kunst, doch wir haben nichts mit diesen Verkündigungen vergleichbares, was das Heldentum der Mütter würdig fasst. Und das wiederum ist vielleicht richtig so: Es gehört zum Wesen der Mutter, dass sie ihr Leben in Stille und Selbstverständlichkeit erfüllt. Um jeden Gefallenen beinahe trauerte eine Mutter, und nie wird ein Mensch auch nur erahnen können, was der Schlachtentod mit allen seinen grausigen Formen im Mutterherzen angerichtet hat. Aus diesem Kriegsschicksal der Mütter erst wurde uns deutlich, was wir vorher nie so klar wussten: die Mütter sind viel mehr als nur die Mütter ihrer Kinder, die sie mit Liebe und Opferlust pflegen und nähren, sie sind die Mütter des Volkes. Wie unsere Männer, durch ihr Kriegertum, durch den Soldatendienst im Felde auf einmal nicht mehr waren jene Einzelmenschen, Bauern, Kaufleute, Beamte, Gelehrte, sondern Schützer und Bewahrer der Nation, die ihren Sinn nur noch erfüllten im Dienste auf Leben und Tod, in einem Dienste, der ihr Privates, einzelnes Wesen aus seiner bisherigen bürgerlichen Ebene hinaus hob in die Ebene der Nation, die mehr ist als jeder Einzelne von uns und mehr als wir einzelnen Deutschen alle zusammen, – wie wir im Krieger den Mann der Nation erkannten, so in der Mutter die Frau der Nation. Das Opfer der blutenden Herzen nämlich bekam nur seinen Sinn für Deutschland. Der Tod der Millionen und das dahinter stehende Leid der Mütter haben uns wieder geoffenbart: der Sinn unseres Lebens hat seine Grenze nicht in uns, nicht wir sind der Sinn, sondern Deutschland. Und erst nach vielen Jahren der inneren und äußeren Schmach hat der Nationalsozialismus begonnen den Sinn dieses Opfers der Krieger und Mütter zu erfüllen: eine Nation zu schaffen, die dieses Opfers würdig ist.
In dieser neuen deutschen Nation, da allerdings ist die Mutter keine Privatperson mehr. Wenn sie Kinder gebärt und erzieht, ist das nicht mehr ihre Sache, sondern die der Nation. Denn ein Geheimnis des menschlichen Lebens hat der Nationalsozialismus wieder entdeckt und es als Kraftmittel des Zusammenlebens erkannt: das Geheimnis des Blutes. Wir wissen heute, das bestimmt unser Schicksal, wes Blutes wir sind. Was an Großem und Minderwertigem, an Segen und Fluch sich in unserem Leben auswirkt, d. h. welcher Art wir sind, unser leibliches, seelisches und auch geistiges Schicksal, das liegt wesenhaft im Geheimnis des Blutes geschlossen. Unsere Mütter bewahren dieses Geheimnis in besonderem Maße in sich und geben es in ihren Kindern weiter an die Zukunft. Und es ist wirklich ein Schicksal, welche Art die Mutter weitergibt, nicht nur für ihre Kinder, zugleich für das Volk und seine Entwicklung. So trägt die Mutter eine gewaltige Verantwortung vor der Nation. Sie kann der Fluch und der Segen eines Volkes sein: ein Fluch, wenn sie krankes und minderwertiges Erbe ihren Kindern weitergibt, das unser Volk schwächt, zersetzt und zum schlechten Ende vernichtet, wenn sie gute Anlagen durch eine schlechte Pflege und leichtsinnige Erziehung zugrunde richtet und wertlos macht; ein Segen, wenn sie lebenskräftige und gesunde Kinder hat, wenn sie durch ihre mütterliche Pflege alle starken Anlagen weckt und zur Entfaltung bringt. Es ist also nicht mehr Privatsache jeder einzelnen Frau, ob und welche Kinder sie erzieht: es ist Sache der Nation:
Man hat manchmal gesagt, der Nationalsozialismus hätte die Frau entwertet, sie aus der Politik, aus den Universitäten und Schulen, aus den Berufen vertrieben, ihr die Rechte, die sie sich im Laufe des Jahrhunderts erkämpft hat, genommen. Der Nationalsozialismus sei überhaupt nur eine Sache der Männer. Dazu ist zu sagen: Es hat noch keine Bewegung in der europäischen Geschichte den Wert der Frau tiefer und echter erkannt, als der Nationalsozialismus; denn eines wissen wir: wir Männer können noch so viel marschieren, reden, kämpfen, das alles wird sinnlos, wenn es in Deutschland keine gesunden Frauen und Mütter mehr gibt. Gilt doch unser Kampf auch der Zukunft unseres Volkes, die aber beruht in den Kindern, die die Mütter dem Volke schenken. Wenn der Nationalsozialismus als die fruchtbarsten Symbole der Nation Blut und Boden nennt, dann ist darin enthalten: die Frau und die Mutter ist die heilige Bewahrerin unseres Blutes und unserer Art, sie ist der Mutterboden der Nation.
Eure Aufgabe ist es, Euch für den Frauendienst an Deutschland heranzubilden, und Ihr mögt wohl ahnen, welche Verantwortung darin beruht. Haltet Eure Leiber gesund, kräftig und schön, nicht um der persönlichen Eitelkeit, sondern um des Dienstes am Vaterland willen. Sorgt, dass in diesen Leibern, den Trägern der kommenden Geschlechter, eine lebendige starke Seele sei. Nehmt die großen und heiligen Güter der Nation mit offenem Herzen in Euch auf, setzt sie in Euch um zu Leben, sie sind deutsch wie Ihr deutsch seid und deshalb können sie in Euren Seelen wirksam werden, darum haltet Zucht: werdet nicht Frauen, die in ihrer oberflächlichen Eitelkeit und Ichsucht diesen Ehrennamen Frau, d. h. Herrin nicht verdienen. Seid nicht Mädchen, die jedem kleinen Gelüste nachlaufen, sich hierhin und dorthin treiben lassen, haltet Euch in Zucht, damit man Euch später in Züchten begegnen wird. Wie wolltet Ihr Kinder erziehen, wenn Ihr unerzogen seid? Wie wolltet Ihr Herrscher im Reich der Frau sein, wenn Ihr Euch selbst nicht beherrschen könnt, wenn Ihr Schwächlinge und Empfindlinge des Leibes und der Seele seid? Wir brauchen in Deutschland Frauen, die das Natürliche mehr lieben, als die verlockenden Güter der Nation, das Starke mehr als das Schwache, das Gesunde mehr als das Kranke, Deutschland mehr als sich selbst. Es gibt Zeitgenossen, die solche Leitsätze nicht gerne hören. Doch lasst Euch nicht irremachen in Eurem gesunden und Leben bejahenden Sinn, die Welt ist kein Jammertal, das Leben muss keine sündige Angelegenheit sein und die Güte des Volkes sind keine Illusionen. Das Leben ist für uns Deutsche ein Kampfplatz, den wir lieben. Wir wollen hier kein Paradies und keine ewige Seligkeit, wir wollen uns bewähren können und behaupten lernen. Ihr jungen Mädchen des Dritten Reiches, Ihr werdet einen neuen Stamm von Frauen und Müttern im deutschen Volke zu geben haben. In vielem abgehärteter, kühner, einfacher, selbstloser, selbstbewusster als die Frauen früherer Generationen und dennoch mit jener Innerlichkeit und Zartheit bedacht, wie sie uns aus alten Bildern vertraut ist.
Ihr werdet auch der Familie wieder den Sinn geben müssen, den sie teilweise verloren hat: kleinste und wesentlichste Lebens- und Kulturzelle der Nation zu sein. Sorgt dafür, dass in den Familien wieder ein sinnvolles Zusammenleben einsetzt, dass die Mutter alle Feste und Feiern im Ablauf des Jahres zu gestalten, lebendig zu erfüllen versteht.“[23]
Gibt es eine deutlichere nationalsozialistische Agitation an Mädchen gerichtet? Hartleb wird sich später rühmen, nach 1945, er hätte „viele Härten mildern oder abwenden können, die Kinder jüdischer Mitbürger betrafen“.[24]
Was werden diese jüdischen Mädchen gedacht und gefühlt haben bei Hartlebs Sätzen: „So trägt die Mutter eine gewaltige Verantwortung vor der Nation. Sie kann der Fluch und der Segen eines Volkes sein, der Fluch, wenn sie krankes oder minderwertiges Erbe ihren Kindern weitergibt, das unser Volk schwächt, zersetzt und zum schlechten Ende vernichtet.“[25]
Nicht erst seit seinem Südafrika-Aufenthalt gehörte das „Wiederaufleben des kolonialen Willens“[26] zu den Leidenschaften Ottomar Hartlebs. Bei der Vorstellung einer großen Ausstellung zum Kolonialthema schrieb Hartleb einen Aufsatz in der HLZ 7/1935: „Koloniale Arbeit in der Schule“. Darin hieß es:
„Heute wird für die Schule auf allen Gebieten des Unterrichts mehr denn je die Forderung erhoben, auf Lebensnähe und völkische Aufgaben ausgerichtet zu sein. Diese Zielsetzung kommt in den zahlreichen Erlassen der Unterrichtsverwaltungen des Reiches und der Länder immer wieder zum Ausdruck. Dabei sollen die Stoffgebiete nicht als Einzelthema verwertet, sondern organisch in den Unterrichtsplan aufgenommen werden. Wurden früher zum Beispiel die Vererbungsgesetze im Rahmen des biologischen Unterrichts als Sondergebiet behandelt, so werden heute schon von den untersten Klassen an Fragen der Familienforschung, der Erblehre usw. der Altersstufe entsprechend planmäßig in den Unterricht eingebaut. In der Erkenntnis, dass das Wissen an sich den Willen zur Tat nicht in sich schließt, tritt deshalb an die Seite der schulischen Unterweisung die charakterliche und körperliche Erziehung der Jugend durch Schule und HJ. Bei aller Selbstständigkeit beider Erziehungsfaktoren unter klarer Abgrenzung ihrer Aufgabengebiete kann das Ziel nur dasselbe sein: Der charaktervolle einsatzbereite deutsche Mensch, der die Klarheit des Denkens besitzt und über Urteilsfähigkeit verfügt. Denn je höher der Wert und die Leistung des Einzelnen, umso wertvoller ist er für die Volksgemeinschaft, der er dient.“[27]
Und weiter heißt es:
„Der in Deutschland überall einsetzende Kampf für die Rückgabe der Kolonien verlangt ebenfalls einen neuen Typ des kolonialen Kämpfers, der erst herangebildet werden muss. Wenn dabei das eigentliche politische Schulungsgebiet der HJ vorbehalten bleiben muss, so entstehen doch für die Schule mannigfache Aufgaben in der sachlichen Unterweisung. Hier ist schon brauchbare Vorarbeit geleistet worden. In einer als Manuskript gedruckten Denkschrift, die von dem Gausachbearbeiter für Erdkunde, Dr. Petersen, zusammengestellt worden ist, finden sich unverbindliche brauchbare Richtlinien für die Behandlung des kolonialen Wissensstoffes. Es wird hier gezeigt, wie in den einzelnen Unterrichtsgebieten: in der Erdkunde und in der Geschichte, im Deutschunterricht und in den Fremdsprachen und nicht zuletzt im Rechnen und in der Mathematik koloniales Wissen vermittelt werden kann. Denn dieses Wissen um eine Sache ist die Voraussetzung, sich auch für sie einzusetzen, wenn man von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Dass dies in weitesten Kreisen der Lehrerschaft der Fall ist, hat der verstorbene Bereichsleiter des NSLB, Hans Schemm, auf einer Kundgebung vom 18. Juni 1934 im Berliner Sportpalast zum Ausdruck gebracht. Er sagte: ‚Wir deutschen Erzieher werden nicht ruhen und rasten, bis der Wille zur Kolonisation so stark ist, dass das Ausland die Forderung nach Rückgabe der Kolonien erfüllt.‘“[28]
Zum Schluss schrieb Hartleb:
„An dem Tage, an dem über afrikanischer Erde die deutsche Flagge wieder gehisst wird, geht ein heißes Sehnen der alten Kolonialpioniere in Erfüllung. Wenige nur von ihnen werden wohl hinausfahren an die Stätten, wo sie sich einst mit ganzer Kraft und Zähigkeit eingesetzt haben. Ihr unvergängliches Verdienst aber bleibt, Deutschlands koloniale Ehre reingehalten zu haben, an der die Schuldlüge zerbrach. Die deutsche Jugend nimmt ein Erbe aus sauberen Händen; aus ihr soll der koloniale Kämpfer der neuen Zeit herausgebildet werden, der durchdrungen ist von der Grundhaltung des deutschen Menschen unserer Tage: durch das Volk und für das Volk.“[29]
Zur Verstärkung hatte Hartleb oder die HLZ-Redaktion ein Zitat von Adolf Hitler unter den Artikel gesetzt:
„Wir wissen, dass wir die Verbindung mit der Welt nötig haben, und dass der Absatz deutscher Ware in der Welt viele Millionen deutscher Volksgenossen ernährt.“[30]
In dieser HLZ-Ausgabe hatte Hartleb auch noch zwei Propagandaschriften zur kolonialen Frage rezensiert. Dazu schrieb er:
„Da der koloniale Wille seit der Machtergreifung des Nationalsozialismus starken Antrieb bekommen hat, der Kampf für Erde und Recht auch in dieser Frage vorgetragen wird, ist dies kleine Buch eine ausgezeichnete Hilfe und besonders zu begrüßen. Nachdem in klarer, knapper Form ein Bild deutscher Kolonialarbeit vor dem Kriege gezeichnet worden ist, finden auch die Gegenwartsfragen wie Versailler Diktat und koloniale Schuldlüge, Mandatssystem und das Deutschtum in den Kolonien genügende Berücksichtigung.“ Und:
„Die Einstellung von Partei und Staat zum kolonialen Gedanken. Mit einem Geleitwort von Dr. Hjalmar Schacht. Eine kleine ausgezeichnete Kampfschrift für den Kolonialpropagandisten, der man weiteste Verbreitung wünschen muss. Nach einer kurzen Einführung über das Bismarcksche Kolonialreich wird die Stellung des Führers und der Partei zur Kolonialfrage eindeutig dargelegt. Neben der wirtschaftlichen Notwendigkeit eigenen Koloniallandes werden auch die ideellen Werte gebührend gewürdigt.“[31]
Ottomar Hartleb besaß das Vertrauen der NSDAP und der Schulverwaltung in Hamburg. Seine Vortragstätigkeit zwischen 1941 und 1943 bei der Luftwaffe in Dänemark und Norwegen ist schon erwähnt worden. Am 15.5.1944 bekam er einen Personalausweis der Schulverwaltung, der ihm den ungehinderten Einlass in alle Schulen gewährte:
„Die polizeilichen Dienststellen werden ersucht, dem durch diese Urkunde ausgewiesenen Oberstudiendirektor Dr. phil. Ottomar Hartleb, der bei der Gemeindeverwaltung der Hansestadt Hamburg – Schulverwaltung – beschäftigt ist, in der Erledigung seiner Dienstgeschäfte bei Absperrungen ungehindert Durchlass und nötigenfalls Schutz und Hilfe zu gewähren. Oberstudiendirektor Dr. Hartleb ist Sonderbeauftragter der Schulverwaltung für die Sicherstellung und Unterbringung aller Sammlungen und Büchereien der Schulen. Er ist daher berechtigt, jederzeit die Schulhäuser zu betreten.“[32]
In seinem Leben änderte Hartleb, der so viel über die Aufgabe der Frauen im Nationalsozialismus gesprochen hatte, 1943 noch einmal seine Lebensverhältnisse. Am 31.5.1943 ließ er sich von seiner ersten Frau Gertrud scheiden, mit der er seit 1917 verheiratet gewesen war, um am 15.7.1943 die Oberschullehrerin Wilma Petersen (geb. 1907) zu heiraten, die Lehrerin an der Emilie-Wüstenfeld-Schule war.[33]
Am 30.8.1945 wurde Ottomar Hartleb auf Veranlassung der Britischen Militärregierung als Schulleiter entlassen, am 12.9.1945 bestätigte Schulsenator Heinrich Landahl die Entlassung.[34]
In seinem Entnazifizierungsfragebogen, den Hartleb am 24.11.1945 ausfüllte, gab er an, seit dem 1.5.1933 NSDAP-Mitglied, seit Juli 1933 auch im NS-Kraftfahrerkorps (NSKK) organisiert gewesen zu sein, in der Funktion eines Sturmführers, außerdem Leiter der Abteilung 2 im Reichskolonialbund seit 1936, sowie Mitglied in der NSV und im NSLB seit 1933.[35]
Danach begann der übliche Versuch, alle Aktivitäten in der NS-Zeit zu verharmlosen. Ottomar Hartleb hatte Einspruch gegen die Entlassung eingelegt. Daraufhin stellte Oberschulrat Heinrich Schröder fest:
„Als Pg. von 1933, als Sturmführer im NSKK und als Schulungsleiter im Reichskolonialbund sowie als Propagandist für aktive Kolonialpolitik ist Hartleb nicht nur als nominelles Mitglied der Partei anzusehen. Sein Einspruch kann nicht befürwortet werden.“[36]
Ottomar Hartleb nahm daraufhin noch einmal ausführlicher Stellung und schrieb zu seinem Verhältnis zur NSDAP:
„Vor meinem Eintritt in die NSDAP (1.5.1933) hatte ich mich nahezu zehn Jahre jeglicher politischen Tätigkeit enthalten. Mein Leben war erfüllt von meiner Berufstätigkeit und der ehrenamtlichen Mitarbeit am Lichtforschungsinstitut (Hamburg- Eppendorf). Mein Eintritt in die NSDAP erfolgte nicht ohne Bedenken, da ich damals grundsätzlich Gegner einer parteipolitischen Bindung war. Wenn ich trotzdem der Partei beitrat, geschah es außer den in meinem Schreiben vom 5.10.1945 erwähnten Gründen deshalb, weil ich die Hoffnung hatte, dass die NSDAP als einzige große Partei den Volkswillen repräsentierte und Deutschlands wirtschaftliche und politische Stellung festigen würde. Als geistiger Arbeiter hielt ich es wie viele andere geradezu für meine Pflicht, durch meine Mitarbeit zur Besserung der Lebensverhältnisse des Einzelnen und des Volkes beizutragen. Der Entschluss zum Eintritt in die NSDAP wurde noch gefördert dadurch, dass offenbar der überwiegende Teil des deutschen Volkes auf Seiten der neuen Bewegung stand, und dass zahlreiche ausländische Pressestimmen ermutigende Äußerungen zu Deutschlands neuem Kurs laut werden ließen. Der Schritt schien auch zunächst gerechtfertigt, da die internationalen Abkommen mit England und Polen die berechtigte Hoffnung auf Festigung des Friedens aufkommen ließen.“[37]
Im Gegensatz zu seinen Reden als Schulleiter konstruierte Hartleb jetzt ideologische Bedenken, insbesondere in der „Judenfrage“, wobei er einen persönlichen Bezug herstellte und Leumundszeugnisse beibringen konnte:
„Die zunehmende Unduldsamkeit jedoch und Härten der führenden Parteistellen gegenüber Angehörigen anderer politischer Parteien und den jüdischen Bürgern, ferner der sich mehr und mehr abzeichnende Kampf gegen die christlichen Kirchen beider Konfessionen lösten bei mir immer größere Enttäuschung und Sorge aus. In meiner eigenen Familie musste ich erleben, dass der Mann meiner Schwester (Jude) infolge der Zwangsarbeit, zu der er in Berlin verurteilt wurde, zu Tode kam. Wo immer es deshalb im Bereich der Möglichkeit lag, habe ich trotz meiner Mitgliedschaft in der NSDAP unbillige Härten zu mildern versucht und Bedrängten geholfen. Weltanschauliche oder rassepolitische Vorträge habe ich nie gehalten. Meine Beziehungen zur Partei und ihren Organen waren nur formal und beschränkten sich im allgemeinen auf Besprechungen, die durch meine Tätigkeit als Direktor einer Oberschule gegeben waren.“[38]
Schwerpunktmäßig äußerte sich Hartleb zu seiner Arbeit im Reichskolonialbund, für die er noch am 1.5.1942 für ein Jahr in der Berliner Zentrale beurlaubt worden war:
„Meine Mitarbeit in der kolonialen Bewegung datierte aus einer Zeit vor der sogenannten Machtübernahme. Die mannigfachen wissenschaftlichen und kulturellen Probleme, auf die ich während meiner Afrikareise 1931/32 aufmerksam wurde, gaben den ersten Anlass, mich für Kolonialfragen zu interessieren, waren es doch in erster Linie wissenschaftliche Aufgaben wie Strahlungsmessungen und Karzinomprobleme, die mich nach Afrika führten. Schon in Südafrika haben führende Politiker wie die Minister Pieroto und Dr. Conradie mir gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass Südafrika die Rückkehr Deutschlands in die praktische Kolonialpolitik begrüßen würde. Mein Besuch von Südwest- und Ostafrika, wo ich Gelegenheit hatte, Deutschlands zivilisatorische und kulturelle Leistung auf kolonialem Gebiet zu studieren, gab 1932 den Ausschlag für meinen Eintritt in die Deutsche Kolonialgesellschaft. Die deutsche Kolonialbewegung, die sich damals über alle Parteien erstreckte, einschließlich der SPD, hatte in keinem Falle aggressiven und imperialistischen Charakter. Das Hauptziel war eine Revision der kolonialen Bestimmungen des Versailler Vertrages, wobei ausdrücklich der gewaltsame Erwerb in aller Form abgelehnt wurde. Mich persönlich interessierten zwei Aufgaben des Kolonialbundes: 1. die Forschungsarbeit und 2. die Betreuung unserer in Not geratenen Kolonialdeutschen. Meine Vorträge behandelten vornehmlich afrikanische Probleme, die Geschichte der Kolonisation und die kolonialen Methoden der verschiedenen europäischen Nationen.“[39]
Und über seine Schulleitertätigkeit schrieb Hartleb:
„Meine Ernennung zum Leiter der Emilie Wüstenfeld-Schule erfolgte nicht aufgrund einer politischen Tätigkeit und bedeutete für mich deshalb eine Überraschung, da ich eine Beförderung weder erwartete noch gewünscht hatte. Durch meinen Schuldienst, durch Kurse in der methodischen und praktischen Unterweisung junger Kollegen, meine langjährige Mitarbeit an der Volkshochschule (seit 1919) und durch meine Forschungstätigkeit fühlte ich mich ganz ausgefüllt. Meine Beförderung zum Leiter ist offenbar, das darf ich wohl sagen, auf meine erfolgreiche Schultätigkeit zurückzuführen, die durch mein Interesse für Fragen der Wirtschaft, Technik und Forschung eine reiche Befruchtung erfahren hatte.“[40]
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Schreiben von mehreren Mitgliedern des Kollegiums der Emilie-Wüstenfeld-Schule vom 25.9.1945, in dem es heißt:
„Im Falle, dass eine Revision dieses für den Betroffenen so schmerzlichen Urteils möglich ist, möchten wir nicht versäumen, um Berücksichtigung folgender Tatsachen zu bitten: Herr Dr. Hartleb hat in der Zeit seiner Tätigkeit als Leiter unserer Schule Kollegen sowohl wie Schülerinnen gegenüber in vielen politisch schwierigen Lagen besonders große Menschlichkeit gezeigt, er hat in großzügiger Art das Kollegium frei arbeiten lassen und verstand es, die mannigfachen Schwierigkeiten, die durch eine Reihe behördlicher Verfügungen in den letzten Jahren an die Schule herantraten, in möglichst weitem Maße zu mildern. Die Unterzeichneten würden sich freuen, wenn sie durch diese Eingabe mit dazu beitragen könnten, dass die Entscheidung der Militärregierung in eine für Herrn Dr. Hartleb günstigere Bahn gelenkt werden würde.“
Unterschrieben war diese Eingabe an die Schulverwaltung von zwölf Kolleginnen und Kollegen, auch von Dr. Walther Vontin, der einen reformpädagogischen, antinazistischen Ruf hatte und 1946 als Schulleiter der Heinrich-Hertz-Schule eingesetzt wurde.[41]
Der Beratende Ausschuss unter Vorsitz von Johann Helbig zeigte am 18.9.1946, dass Ottomar Hartleb für die Mitglieder kein Unbekannter gewesen war:
„Seiner inneren Haltung nach Deutschnationaler, bot ihm der Nationalsozialismus den Rahmen, um seiner besonderen Neigung: Kolonien frönen zu können. Doch hat er anfangs als Schulleiter sich in Wort und Tat so sehr für den Nationalsozialismus eingesetzt, dass er als Lehrkraft nicht tragbar ist. Da er aber bei aller Aktivität menschlich anständig blieb, niemanden schädigte, sich vielmehr schützend vor jüdische Schülerinnen stellte, empfiehlt der Beratende Ausschuss seine Pensionierung.“[42]
Die vielen Verfahren, die für die Entnazifizierungsausschüsse zu bewältigen waren, benötigten Zeit und stellten die Betroffenen sicherlich auf eine harte Probe, wie aus einem Schreiben von Ottomar Hartleb vom 28.3.1947 deutlich wird:
„Um endlich nach einer langen Wartezeit von 19 Monaten Gewissheit über mein zukünftiges Schicksal zu bekommen, bitte ich den Berufungsausschuss höflichst um beschleunigte Behandlung meines Berufungsschreibens. Nur die Überzeugung, dass ich nach besten Kräften mich bemüht habe, sowohl in meiner amtlichen als auch in meiner nebenamtlichen Tätigkeit dem Gemeinwohl zu dienen, gab mir die Kraft, die lange Zeit der Diskriminierung seelisch und körperlich zu überstehen. Auf die Dauer jedoch ist dieser Zustand unerträglich; denn auch meine ehrenamtliche Mitarbeit am Lichtforschungsinstitut (Leitung Prof. Sieveking und Prof. Dannmeyer), das sich seit etwa 20 Jahren mit dem Krebsproblem beschäftigt, konnte unter den obwaltenden Verhältnissen nicht fortgesetzt werden.
Ich bitte deshalb nochmals, meinen Fall baldmöglichst einer Prüfung zu unterziehen, da es mein größter Wunsch ist, meinen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten.“[43]
Am 29.7.1947 konnte Hartleb noch zwei Leumundszeugnisse nachreichen. Das eine von dem ehemaligen Administrator von Süd-West-Afrika, Dr. Conradie, der einen positiven Eindruck von Hartleb in den Jahren von 1932 bis 1939 gewonnen hatte. Auch der ehemalige Oberschulrat Dr. Wilhelm Oberdörffer hatte sich als Zeuge zur Verfügung gestellt.[44]
Der Berufungsausschuss 3 unter Leitung des für Milde bekannten Vorsitzenden Dr. Kiesselbach entschied am 18.8.1947. Der Berufung wurde stattgegeben mit der Maßgabe, Hartleb mit der Pension eines Studienrates in den Ruhestand zu versetzen und ihn in Kategorie IV einzustufen. In der Begründung hieß es:
„Dr. Hartleb war Parteimitglied seit dem 1.5.1933, Sturmführer im NSKK und Leiter der Abteilung für Schulung und Vortragswesen im Reichskolonialbund. Er muss demnach zumindest äußerlich in den ersten Jahren aktiv hervorgetreten sein. Dr. Hartleb gibt selbst zu, anfangs an den Nationalsozialismus geglaubt zu haben; er hat in ihm die Verwirklichung des Sozialismus gesehen. Andererseits ist er – auch nach Ansicht des Beratenden Ausschusses – menschlich anständig gewesen und auch für Juden eingetreten. Diese Umstände rechtfertigen die getroffene Entscheidung.“[45]
Dann zog Hartleb einen Rechtsanwalt zu Hilfe, Dr. Hans Segelken, der sich am 7.4.1949 an den Leitenden Ausschuss wandte und um die Wiederaufnahme des Verfahrens bat. Er brachte als Leumundszeugnisse die Aussagen der Amtsvorgängerin von Hartleb, Bertha Dittmer, ein und die Erklärung von Oberschulrat Wilhelm Oberdörffer.[46]
Das Schreiben von Bertha Dittmer ist beschämend dafür, womit Entlassene sich in der Übergangszeit nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten bescheiden mussten. Sie schrieb:
„Nach meiner Amtsentsetzung 1933 durfte ich noch bis zum Ablauf des Schuljahres als Lehrkraft an der Schule verbleiben und wurde dann in den Ruhestand versetzt. Während der ganzen Zeit konnte ich beobachten, wie Herr Dr. Hartleb ernstlich bemüht war – soweit möglich – der bewährten Tradition unserer Schule treu zu bleiben und deren völliger Zerstörung zu wehren.“[47]
Die Ansprüche waren niedrig zu jener Zeit.
Dr. Wilhelm Oberdörffer, in meinen Augen auch jemand, der, am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten, um seine Funktion als Oberschulrat im Bereich der höheren Schulen zu sichern, sich in schwierigen Zeiten opportunistisch verhielt und nach 1945 extrem viele Leumundszeugnisse mit fragwürdigen Beurteilungen schrieb. Er verwendete sich auch für Ottomar Hartleb:
„Ich kenne Herrn Dr. Hartleb seit langen Jahren aus meiner beruflichen Tätigkeit und habe ihn in seiner Eigenschaft als Lehrer im hamburgischen Höheren Mädchenschulwesen seit 1916 und später als Leiter der Emilie Wüstenfeld-Schule besonders schätzen gelernt. In den 17 Jahren seiner Tätigkeit an der Helene-Lange-Schule zeichnete sich Herr Dr. Hartleb außerhalb seiner erfolgreichen Schultätigkeit als wissenschaftlich besonders interessiert aus und war zusammen mit einigen anderen Herren auf dem Gebiet der Lichtbiologie und Physik auch durch in Fachkreisen stark beachtete Veröffentlichungen hervorgetreten. Diese nachgewiesenen wissenschaftlichen Interessen gaben neben seiner Eignung als Schulmann und Organisator Veranlassung, dass Herr Dr. Hartleb 1933 zum Oberstudiendirektor an der Emilie Wüstenfeld-Schule ernannt wurde. Soweit ich mich erinnern kann, hat Herr Dr. Hartleb in der Zeit seit 1933 die ihm anvertraute Schule weitgehend von politischen Einflüssen freigehalten und sich durch seine ruhige, besonnene Haltung in den Kreisen seiner Mitarbeiter und der Elternschaft Anerkennung und Hochschätzung erworben. Ich fühle mich verpflichtet, zu erklären, dass Herr Dr. Hartleb Versuchen politischer Stellen, in die Schularbeit einzugreifen, mit Nachdruck entgegengetreten ist und stets dafür gesorgt hat, dass dem Leistungsprinzip in der Höheren Schule Geltung verschafft wurde.
Ich halte Herrn Dr. Hartleb für einen in jeder Hinsicht charaktervollen Menschen, der aus seiner Zugehörigkeit zur Partei und zum NSKK in seiner beruflichen Entwicklung keinen besonderen Vorteil gezogen hat, sondern alles, was er erreicht hat, seinem sicher fundierten Wissen und der gewissenhaften Wahrnehmung der ihm übertragenen Aufgaben verdankt. Ich würde es deshalb dankbar begrüßen, wenn Herr Dr. Hartleb weitgehend in den Genuss seiner früheren Rechte wieder eingesetzt wird.“[48]
Und auch der letzte Leiter der Schulverwaltung in der NS-Zeit, Prof. Ernst Schrewe, schrieb einen „Persilschein“ für Hartleb, zu einem Zeitpunkt, wo er selbst um seine Existenz kämpfen musste[49]:
„Herr Dr. Ottomar Hartleb war, als ich während des Krieges die Leitung der Schulverwaltung übernahm, schon lange Oberstudiendirektor. Ich habe Herrn Hartleb in meiner Tätigkeit als Direktor der Volkshochschule kennen gelernt. Er gehörte dort seit 1920 zu den besonders erfolgreichen Dozenten. Naturwissenschaftliche Zusammenhänge einem Laienkreis, der nicht schulpflichtig ist, verständlich zu machen, erfordert gute pädagogische Qualitäten, über die Herr Dr. Hartleb nach meiner Überzeugung verfügt. Zu seiner Lehrbefähigung kommt eine große Bereitschaft, an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuarbeiten. Umsicht und Hilfsbereitschaft zeichneten Herrn Dr. Hartleb auch in seiner Tätigkeit als Schulleiter aus. Dass Menschen seiner Art auch im nationalsozialistischen System zu den mannigfaltigsten Aufgaben herangezogen wurden, ist verständlich. Dabei habe ich immer das Gefühl gehabt, dass Herr Dr. Hartleb sich von seinen fachlichen Interessen leiten ließ und jede parteipolitische Enge und Unduldsamkeit ablehnte.
Erwähnung verdient meines Erachtens die Tatsache, dass Herr Dr. Hartleb sachkundig, mit großem Zeitaufwand und ohne Rücksicht auf sich selbst, sich um die Bergung und Sicherstellung der naturwissenschaftlichen Hilfsmittel bemühte, die durch den Luftkrieg gefährdet waren. Seiner Initiative und seiner tatkräftigen Arbeit ist es zu verdanken, dass viele wertvolle Ausstattungen unseren Schulen erhalten geblieben sind.“[50]
Es nützte erst einmal nicht viel. Der Beratende Ausschuss, dem wieder Johann Helbig angehörte, blieb bei seiner Entscheidung, Hartleb als Studienrat zu pensionieren.[51]
Am 20.7.1950 forderte Ottomar Hartleb, als Studienrat wieder in den Schuldienst zu gelangen.[52]
Vorher hatte Oberschulrat Heinrich Schröder noch einmal die Position der Schulverwaltung festgehalten, die zumindest so lange galt, als er noch entscheidend daran beteiligt war. Er schrieb an den Leitenden Ausschuss am 21.4.1950:
„Der Berufungskläger gehört zu denjenigen Lehrkräften, die sofort 1933, ohne dass irgend ein amtlicher Zwang ausgeübt wurde, freiwillig in die NSDAP eintraten. Dadurch hat er eine politische Anfälligkeit gezeigt, die ihn für einen Schulleiterposten im demokratischen Staat ungeeignet macht, umso mehr, als er sofort nach 1933 von den Nationalsozialisten zum Schulleiter ernannt wurde. Nachdem anderen Schulleitern des höheren Schulwesens, die ebenso wie der Berufungskläger Pg. von 1933 waren, nach der Erreichung der Altersgrenze die Versorgungsbezüge eines Oberstudiendirektors gewährt worden sind, würde es unbillig erscheinen, diese Versorgungsbezüge dem Berufungskläger zu versagen.
Ich bin daher für die Wiederaufnahme des Verfahrens, um zu prüfen, ob dem Berufungskläger nach der Erreichung der Altersgrenze die Versorgungsbezüge eines Oberstudiendirektors gewährt werden können. Eine Wiedereinstellung in den aktiven Dienst kann, wie bei den Schulleitern mit gleicher politischer Belastung, nicht in Frage kommen. Der Berufungskläger erreicht in wenigen Jahren die Altersgrenze.“[53]
Ottomar Hartleb gelangte nicht wieder in den Schuldienst. Er wurde 1947 pensioniert, bekam dann allerdings ab dem 65. Lebensjahr das Ruhegehalt eines Oberstudiendirektors.[54]
Am 24.4.1952 wandte sich die Senatskanzlei an die Schulbehörde mit einer Frage: „Herr Oberstudiendirektor a. D. Dr. O. Hartleb hat der Südafrikanischen Union vor kurzem ein sehr wertvolles Album über den Burenkrieg geschenkt. Die südafrikanische Regierung hat daraufhin über ihre Gesandtschaft in Bonn die Bitte ausgesprochen, über den Spender Näheres zu erfahren. Die Senatskanzlei wäre daher der Schulbehörde für eine Auskunft über Herrn Dr. Hartleb dankbar, damit sie der südafrikanischen Gesandtschaft die gewünschte Information übermitteln kann.“[55]
In der Schulbehörde wurden Daten zusammengetragen, in denen über die NS-Verquickung Hartlebs kein Wort erwähnt wurde. Die Antwort schloss mit den Sätzen:
„Er wurde am 18. August 1947 in den Ruhestand versetzt. Seither arbeitete er an der Volkshochschule mit und hält dort Vortragsreihen über afrikanische Themen.“[56]
Und auch das „Hamburger Echo“ notierte zum 70. Geburtstag von Hartleb am 9.8.1958:
„Oberstudiendirektor a. D. Dr. Ottomar Hartleb, der frühere Leiter der Emilie Wüstenfeld-Schule begeht am Sonntag seinen 70. Geburtstag. Der bekannte Schulmann und Afrikakenner ist Mitbegründer der Hamburger Volkshochschule, an der er seit sieben Jahren Vorlesungen über die politische und wirtschaftliche Entwicklung Afrikas hielt.“[57]
Ottomar Hartleb starb am 25.1.1960.[58]
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Personalakte Hartleb, StA HH, 361-3_A745
2 Personalakte a. a. O.
3 Personalakte a. a. O.
4 Entnazifizierungsakte Hartleb, StA HH, 221-11_Ed 17490
5 Stellungnahme von Ottomar Hartleb vom 5.10.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O. Siehe auch die Biografie Ferdinand Dannmeyer in diesem Band.
6 Entnazifizierungsakte a. a. O.
7 Schreiben von Ottomar Hartleb vom 5.10.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
8 StA HH, 361-2 VI OSB VI_2224 Bd. 5 Emilie-Wüstenfeld-Schule
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Schreiben vom 5.10.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
13 StA HH, 362-2/5 Emilie-Wüstenfeld-Schule_ 53 Programme etc.
14 StA HH, 362-2/5 Emilie-Wüsten Feld-Schule_51 Notizen des Schulleiters
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Ebd.
18 StA HH, 362-2/5 Emilie-Wüstenfeld-Schule_ 53 Programme etc.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 Rede vom 21.11.1933, ebd.
22 Ebd.
23 Ebd.
24 Schreiben vom 5.10.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O.
25 Redemanuskript „Die Mutter“, a. a. O.
26 Johannes Petersen in HLZ 7/1936, S. 74. Petersen war mit Hartleb verantwortlich für eine große Schulausstellung des NS-Lehrerbundes zur Kolonialfrage.
27 Ottomar Hartleb: Koloniale Arbeit in der Schule, HLZ 7/1936, S. 74.
28 Hartleb: Koloniale Arbeit in der Schule, a. a. O., S. 75.
29 Ebd.
30 Adolf Hitler in der Begründung zum Ermächtigungsgesetz am 23.3.1933, ebd.
31 Die Rezensionen von Ottomar Hartleb, HLZ 7/1936, S. 78.
32 Personalakte a. a. O.
33 Personalakte a. a. O.
34 Personalakte a. a. O.
35 Entnazifizierungsakte a. a. O.
36 Heinrich Schröder am 3.7.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
37 Schreiben von Ottomar Hartleb vom 28.8.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Ebd.
41 Schreiben vom 25.9.1945, Entnazifizierungsakte a. a. O. Siehe zu Walther Vontin HLZ 11/12-1974, S. 449.
42 Beratender Ausschuss vom 18.9.1946, Entnazifizierungsakte a. a. O.
43 Schreiben vom 28.3.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
44 Schreiben vom 29.7.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
45 Berufungsausschuss 3 vom 18.8.1947, Entnazifizierungsakte a. a. O.
46 Schreiben von Dr. Segelken vom 7.4.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
47 Erklärung von Bertha Dittmer vom 23.7.1948, Entnazifizierungsakte a. a. O.
48 Erklärung vom 9.3.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O. Siehe auch die Biografie Wilhelm Oberdörffer, in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 1, Hamburg 2016, S. 528 ff.
49 Siehe die Biografie Ernst Schrewe, in: Hans-Peter de Lorent Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017, S. 82 ff.
50 Eidesstattliche Erklärung vom 7.3.1949, Entnazifizierungsakte a. a. O.
51 Beratender Ausschuss vom 24.5.1950, Entnazifizierungsakte a. a. O.
52 Entnazifizierungsakte a. a. O.
53 OSR Schröder am 21.4.1950, Entnazifizierungsakte a. a. O.
54 Personalakte a. a. O.
55 Personalakte a. a. O.
56 Schreiben vom 16.5.1952, unterzeichnet von Dr. Hans Reimers, Personalakte a. a. O.
57 „Hamburger Echo“ vom 9.8.1958, Personalakte a. a. O.
58 Personalakte a. a. O.
 

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Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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