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Ernst Schöning

(23.8.1883 Neudorf bei Eutin – 6.8.1980)
Sportlehrer an der Lichtwarkschule
Hainbuchenweg 3 (Wohnadresse 1955)

Hans-Peter de Lorent hat über Ernst Schöning ein Portrait verfasst, das in Hans-Peter de Lorents Buch: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz. Band. 3. Hamburg 2019 erschienen und im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg erhältlich ist. Hier der Text:  
„Die Schule muss daher in einem völkischen Staat unendlich mehr Zeit freimachen für die körperliche Ertüchtigung. Es geht nicht an, die jungen Gehirne mit einem Ballast zu beladen, den sie erfahrungsgemäß nur zu einem Bruchteil behalten.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf)
Ein Sportlehrer, der an der reformpädagogischen Lichtwarkschule unterrichtete, war Ernst Schöning. Er galt als hervorragender Sportpädagoge, aber auch als einer derjenigen Lehrer an dieser Schule, die sich 1933 dem neuen Regime anpassten. Schöning dokumentierte dieses in verschiedenen Schriften. Bemerkenswert ist, dass er seinen Schüler Helmut Schmidt beeindruckte und von diesem auch später noch als Vorbild bezeichnet wurde. Auch Schulsenator Heinrich Landahl, der bis 1933 Schulleiter von Ernst Schöning an der Lichtwarkschule gewesen war, setzte sich nach 1945 für den Sportlehrer ein und forderte Oberschulrat Heinrich Schröder auf, „alles daran zu setzen, Schöning zu halten“.
Ein Mann, an dem sich die Geister schieden.
Ernst Schöning wurde am 23.8.1883 in Neudorf bei Eutin geboren. Den Beruf seines Vaters gab er mit Kaufmann an, später bezeichnete er ihn als Bierfahrer. Schöning besuchte die Bürgerschule in Eutin bis zum Mittelschulabschluss und wechselte dann 1899 an das Lehrerseminar in Bremen. Dort bestand er Ostern 1905 die erste Lehrerprüfung mit einem sehr guten Abgangszeugnis. Er arbeitete dann an der Privatvorschule Bremen, an der er 1907 die zweite Lehrerprüfung bestand. 1908 wechselte er in den Hamburger Volksschuldienst, absolvierte am 2.3.1910 in Hamburg die Fachprüfung Turnen und 1919 die Schwimmlehrerprüfung. Vermerkt ist in seiner Personalakte, dass er 1914 an der Schule Forsmannstraße tätig war.
In den Krieg zog Herrn Schöning am 26.2.1915 bis zum 4.12.1918. Am Ende war er Leutnant und hatte das Eiserne Kreuz I und II bekommen sowie eine Tapferkeitsmedaille. Schöning war seit 1912 verheiratet mit Elsa Bruns. Die Ehe wurde 1940 geschieden, 1943 heiratete Schöning ein zweites Mal, Frieda Berge.[1] Ernst Schöning war seit 1918 Technischer Lehrer und widmete sich neben dem Sport und der Bildenden Kunst seiner zweiten Leidenschaft als Leiter eines Männerchors. So führte er in Nebentätigkeit seit 1912 die „Liedertafel Germania von 1881“ in Altona.[2]
1919 wechselte Ernst Schöning an die Realschule Winterhude, aus der 1921 die Lichtwarkschule wurde.[3]
Ernst Schöning erwies sich als außerordentlich aktiv. Er nahm teil an zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen, so etwa am 20. Deutschen Turnlehrertag in Dresden am 8. und 9.6.1927, an der Tagung der Turnlehrerausbildung am 23.6.1928 in Berlin. Er war auch Mitglied des Vorstandes des Deutschen Turnlehrervereins.[4] Parallel leitete er mittlerweile drei Chöre. Schulleiter Heinrich Landahl zeichnete diverse Verpflichtungen Ernst Schönings auch außerhalb Hamburgs zwischen 1928 und 1930 ab.
Das schulpolitische Ziel von Ernst Schöning war die Einrichtung einer täglichen Sportstunde an allen Hamburger Schulen.
1932 schrieb das Mitglied der „Gesellschaft der Freunde“ den Hauptaufsatz in der HLZ Nr. 14/15 unter der Überschrift: „Die Leibesübungen in der neuen Erziehung“. Darin plädierte Schöning einerseits dafür, die Tätigkeit der „Technischen Lehrer“, zu denen er gehörte, der Sport, aber auch Bildende Kunst unterrichtete, mehr Wertschätzung entgegenzubringen: „In der Jugenderziehung kommt es darauf an, dass der schöpferische Quell im Kinde erschlossen wird. Beim Kinde geht der Weg zum geistigen Wachsen ganz besonders stark über das Körperliche: das Kind denkt plastisch, und darum sind diese ‚technischen‘ Fächer so viel kindertümlicher als jene abstrakten wissenschaftlichen.“[5]
Ernst Schöning berief sich dabei durchaus auf reformpädagogische Ideen: „In der alten Schule spielte eine Hauptrolle das Üben, das Auswendiglernen. Das Kind mit der besseren Gedächtnisbegabung war immer im Vorteil, denn die herkömmliche Erziehung sah ihren Hauptzweck in der formalen Ausbildung des Gedächtnisses und in der Bereicherung mit oft rein mechanisch angeeignetem Wissen. Daneben glaubte die Schule ihre Aufgabe umso besser erfüllt zu haben, je gleichmäßiger sie die Klasse in ihrem Wissen bereicherte. Es sollten nicht nur alle Kinder viel, sondern möglichst auch alle dasselbe Wissen beherrschen, nämlich den im amtlichen Lehrplan vorgeschriebenen Lehr- und Lernstoff.“[6]
Für den Sport in der Schule bedeutete das laut Schöning: „Daher sah auch der alte Turnunterricht seine Hauptaufgabe darin, dem Kinde möglichst viele körperliche Fertigkeiten in genauer Ausführung beizubringen. Und so wie man versuchte, die Klasse geistig sozusagen ‚auf einen Generalnenner zu bringen‘, so bemühte man sich im Turnen, die Kinder durch körperliche Übungen bewegungstechnisch einander anzugleichen. Ordnung- und Freiübungen füllten immer einen beträchtlichen Teil der Turnstunde aus. Ein brauchbares Vorbild sah man in der militärischen Ausbildung; sehr oft zeigte daher das alte Schulturnen ein etwas verdünntes Abbild der auf dem Kasernenhof üblichen Leibesübungen.“[7]
Ernst Schöning forderte: „Eine Erziehung, welche mit ihren Maßnahmen die im Kinde gegebene Lebenseinheit nicht zerstören oder auch nur in ihrer natürlichen Harmonie behindern will, muss die Wechselbeziehungen zwischen geistiger und körperlicher Arbeit beachten. Aus diesem Grunde muss eine naturgemäße ­Erziehung sich entschließen, zur rechten Zeit eine ausreichende und zweckmäßige körperliche Erfrischung zur Vermeidung geistiger Ermüdungserscheinungen einzuschalten.“ Daraus folgerte Ernst Schöning dann: „Aber gerade darum kann der Ruf nach der eigenen täglichen Turnstunde, die einen Ausgleich zu einer 5- bis 6-stündigen geistigen Anspannung schaffen soll, nicht als unbescheiden bezeichnet werden.“ Und er ergänzte: „Mit der Verherrlichung des Rekordfuchses und des Muskelprotzen hat diese stärkere Betonung des Körperlichen in der Schule nicht das geringste zu tun. Der körperlich gebildete Mensch ist daher nicht, weil er die waghalsigen Kunststücke vorzumachen imstande ist und auch nicht, wer Stoppuhr und Metermaß am vollkommensten meistert, sondern derjenige, der die Beherrschung seiner körperlichen Bewegungsformen mit geistiger Einsicht und seelischer Anteilnahme zu einem einheitlichen Zusammenklang zu bringen versteht.“[8]
In dieser Weise argumentierte die Lichtwarkschule schon, als sie 1925 zu Ostern bei der Oberschulbehörde einen Antrag zur Einführung der täglichen Turnstunde einreichte.[9]
Die Situation an der Lichtwarkschule nach 1933, als die Nationalsozialisten Schulleiter Heinrich Landahl entließen und durch Erwin Zindler ersetzten, der seinen Dienst antrat mit der Ankündigung: „Diesen roten Saustall werde ich schon ausmisten“, habe ich in der Biografie von Erwin Zindler im ersten Band der „Täterprofile“ ausführlich dargestellt.[10]
Bei dem Versuch, die Lichtwarkschule den nationalsozialistischen Schulvorstellungen entsprechend umzuwandeln, „bediente die neue Schulleitung sich nach Übernahme der Schule im August 1933 zweier Mittel: einerseits Zerschlagung all dessen, was bereits während der Republik in nationalistischen und konservativen Kreisen auf heftige Ablehnung stieß, andererseits Betonung all dessen, was mit nationalsozialistischen Erziehungszielen vereinbart schien“.[11] Joachim Wendt kennzeichnete auch die Anpassungstendenzen im Lehrkörper der Schule, nachdem es vorher schon einen deutlichen personellen Austausch gegeben hatte. Er stellte fest: „Während sich die Musik- und Kunstlehrer jedoch an der Zindlerschen Öffentlichkeitsarbeit nicht beteiligten und sich zu nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen auch nicht öffentlich äußerten, sieht das bei dem Turnlehrer Ernst Schöning schon ganz anders aus. Bei ihm ist eine Anpassung oder gar Anbiederung an das neue Regime unübersehbar, wenn er sich ohne jede Not im Februar 1934 in einem Leitartikel der HLZ verpflichtet fühlte, ‚sich im Geschwindschritt in die nationalsozialistische Weltanschauung hineinzudenken‘.“[12] Wendt bezog sich dabei auf einen Artikel, mit nur leicht veränderter Überschrift im Vergleich zu dem aus reformpädagogischer Überlegung stammendem Aufsatz knapp zwei Jahre zuvor in der HLZ, damals noch ohne Hakenkreuz. In der Ausgabe der HLZ 7/1934 überschrieb Schöning seine Ausführungen: „Die Leibesübungen in der heutigen Jugenderziehung“.[13] Schon in der Einleitung erwies er sich als zum Nationalsozialismus gewendeter Pädagoge, wenn er schrieb:
„Der gewaltige nationale Umbruch, den wir gegenwärtig erleben, hat die deutschen Volksgenossen, ob sie wollen oder nicht, vor die zwingende Notwendigkeit gestellt, sich im Geschwindeschritt in die nationalsozialistische Weltanschauung hineinzudenken und hineinzuleben. Der Jugenderziehung legt dieses Geschehen die Verpflichtung auf, die deutsche Jugend ‚von Kindesbeinen an‘ in das nationalsozialistische Gedankengut hineinwachsen zu lassen. Die Grundzüge dieses Denkens und Wollens hier noch einmal darzulegen, ist nicht notwendig; sie müssen inzwischen jedem deutschen Volksgenossen gedankliches Eigentum, wenigstens aber bekannt sein. Wer wollte sich auch vermessen, sie einfacher und bestimmter zum Ausdruck zu bringen, als es in den Schriften und Reden des Führers geschehen ist. In den folgenden Ausführungen soll vielmehr versucht werden, von praktischen Gesichtspunkten näher aufzuzeigen, wie das nationalsozialistische Bildungsideal, insbesondere in Hinsicht auf die Leibeserziehung, in der heutigen Jugenderziehung seine Erfüllung finden kann und muss.“[14]
Ernst Schöning hatte es schnell geschafft, die Wende zu vollziehen. Sicherlich sehr zum Gefallen des neuen Schulleiters Erwin Zindler, der selbst zur gleichen Zeit in der HLZ veröffentlichte und die veränderte Lichtwarkschule zu präsentieren suchte.
Schöning konstatierte: „Im ganzen genommen wird aber die deutsche Jugenderziehung eine Wandlung grundsätzlicher Art mit derselben Plötzlichkeit und Gründlichkeit vornehmen müssen, mit der durch das kraftvolle Herumreißen des Staatsruders durch den Führer das ganze staatliche Leben auf einen neuen Boden gestellt wurde. Diese Wandlung wird sich in der Weise vollziehen müssen, dass die Grundmauern der Erziehung erneuert werden nach den Forderungen, die wir in den Äußerungen des Führers eindeutig niedergelegt finden.“[15]
Und dann zitierte Ernst Schöning ausführlich aus Adolf Hitlers Schrift „Mein Kampf“ und machte deutlich, was den Sportpädagogen so begeisterte:
„,Der völkische Staat muss von der Voraussetzung ausgehen, dass ein zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlussfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling … Ein verfaulter Körper wird durch einen strahlenden Geist nicht im geringsten ästhetischer gemacht … Was das griechische Schönheitsideal unsterblich sein lässt, ist die wundervolle Verbindung herrlicher körperlicher Schönheit mit strahlendem Geist und edelster Seele … Der völkische Staat hat aus dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper … Die Erziehung muss also zu allererst die körperliche Gesundheit ins Auge fassen und fördern: denn in der Masse genommen wird sich ein gesunder, kraftvoller Geist auch nur in einem gesunden, kraftvollen Körper finden. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten, hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlusskraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung … Die körperliche Erziehung wird im völkischen Staat so vorzunehmen sein, dass die jungen Körper schon in frühester Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten … Die Schule muss daher in einem völkischen Staat unendlich mehr Zeit freimachen für die körperliche Ertüchtigung. Es geht nicht an, die jungen Gehirne mit einem Ballast zu beladen, den sie erfahrungsgemäß nur zu einem Bruchteil behalten … Wenn heute das Turnen in einer Woche mit knappen zwei Stunden bedacht wird, so ist dies, verglichen zur rein geistigen Ausbildung, ein krasses Missverhältnis. Es dürfte kein Tag vergehen, an dem der junge Mensch nicht mindestens vormittags und abends je eine Stunde lang körperlich geschult wird …“[16]
Diese Passage von Adolf Hitler in dem Abschnitt „Erziehungsgrundsätze des völkischen Staates“ haben sicherlich viele Sportlehrer in jener Zeit mit Sympathie und Begeisterung gelesen. Schönings Schlussfolgerung und Appell:
„Da alles Geschehen im völkischen Staat sich nach dem Führerprinzip zu vollziehen hat, werden alle an der Neuordnung der Jugenderziehung beteiligten Mitarbeiter sich dafür verantwortlich fühlen müssen, dass die eindeutig zum Ausdruck gebrachte Meinung des Führers unverfälscht und sinngemäß in der Neuordnung zur Durchführung gebracht wird. Danach wird es unmöglich gemacht, dass nun, wie es früher bei derartigen Gelegenheiten der Fall war, ein Schacher der einzelnen ‚Fächer‘ um Zeit, Stoff und Bewertung einsetzen kann. Unzweideutig stellt der Führer die körperliche Erziehung nicht nur an den Anfang und in den Vordergrund; er bestimmt auch ihren zeitlichen Anspruch genau, indem er ihr eine Stunde des Vormittags, also im Rahmen des Schulunterrichts zuweist.“[17]
Welch einen mächtigen Unterstützer hatte Ernst Schöning da für seine Forderung nach der täglichen Sportstunde gefunden. Schöning warnte die Gegner: „Sollte wirklich in einer Neuordnung, die vom Reich herkommen muss und wird, die Forderung des Führers preisgegeben werden, eine Forderung, die sich als praktisch durchführbar erwiesen hat, dann werden sich die verantwortlichen Verfasser dem Verdacht aussetzen, reaktionären Einflüssen unterlegen zu sein.“[18]
Ernst Schöning war nicht erst durch die Lektüre von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ entflammt worden. Schon 1919 hatte er eine Broschüre veröffentlicht unter dem Titel „Schularzt und Körpererziehung“. Darin hieß es: „Was not tut? Die Wunden heilen, die der Krieg geschlagen und beschleunigter Wiederaufbau unserer Volkskraft. Den nicht zu unterdrückenden Willen des deutschen Volkes, wieder gesund und stark zu werden, müssen wir mit allen Mitteln fördern – anfangen bei den Wurzeln: der Schuljugend. Trotz aller Bitternis der Gegenwart muss es gelingen, das Volksdenken und Volksempfinden aus der überhandnehmenden Gleichgültigkeit heraus- und den gesundheitlichen Tiefstand wieder emporzubringen zu sittlicher Kraft und körperlicher Frische. Wir gebrauchen eine Jugend mit gesunden, stählernen Leibern, damit sie dereinst zu Männern werden mit starken Nerven und eisernem Willen.“[19]
Die nicht datierte Zusammenstellung seiner Schriften mündete in der Forderung nach „politischer Leibeserziehung“. Darin hieß es:
„Politisch ist diejenige Leibeserziehung, die am zuverlässigsten die Forderungen erfüllt, die von der Staatsführung als für die Erhaltung und für den Schutz des Reiches unerlässlich an die Jugenderziehung gestellt werden.
Der Führer fordert, ‚dass die körperliche Jugendausbildung in großen Zügen schon als die Vorbildung für den späteren Heeresdienst zu betrachten ist … Das Heer wird … den körperlich bereits tadellos vorgebildeten jungen Menschen nur mehr in den Soldaten umwandeln‘. Die Wehrmacht erwartet, dass die Jugendausbildung ihr folgende Voraussetzungen schafft: ‚Als Gesamtziel der (vormilit.) Ausbildung soll vom 18. Lebensjahr ab das Reichssportabzeichen erworben werden. Die Übungen und Leistungen sind so hervorragend zusammengestellt, dass nichts Besseres dafür einzusetzen ist. Eine gute Vorübung dafür sind die sportlichen Leistungen, die das SA-Sportabzeichen verlangt. Wer beide Abzeichen erworben hat, der kann getrost der Dienstzeit und ihren Anforderungen in körperlicher Hinsicht entgegensehen.‘
Die Arbeit nach dem Bewertungsbogen erfüllt – wovon die vorausgehenden Ausführungen besonders in der Form des Sportzeugnisses überzeugen müssen –, was die Wehrmacht von der vorbereitenden Leibeserziehung durch die Schule erwartet und damit auch den Willen des Führers! Nach dem Bewertungsbogen arbeiten, heißt daher politische Leibeserziehung betreiben!“[20]
Hier wurde der Zusammenhang zwischen Leibeserziehung, vormilitärischer Ausbildung und der anschließenden Wehrmacht schon explizit formuliert.
In diesem Kontext lohnt es, einen Blick auf die Entnazifizierung von Ernst Schöning 1945 zu werfen. Er füllte am 17.7.1945 einen Entnazifizierungsfragebogen aus, in dem er notierte, seit dem 1.5.1937 Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, darüberhinaus seit 1934 in der NSV, seit Juni 1933 im NSLB und seit 1936 im NS Reichsbund für Leibesübungen. Und unter Anmerkungen hatte Schöning notiert: „1933 wurde ich aus meinen Ehrenämtern als Mitglied der staatlichen Prüfungskommission für Leibeserziehung des Verwaltungsbeirates zum Staatlichen Amt für Leibesübungen stillschweigend entfernt, obwohl meine Amtszeit nicht abgelaufen war. 1933 lehnte ich meine Berufung zum Gau-Sachbearbeiter (im NSLB) für Leibesübungen ab.“[21]
In einem Schreiben an Senator Heinrich Landahl vom 15.9.1945, an dessen Privatadresse geschickt und nicht in die Schulbehörde, nutzte Ernst Schöning die alte Beziehung zu seinem ehemaligen Schulleiter. Einleitend schrieb er:
„Augenblicklich geht eine lebhafte Welle der Beunruhigung durch die Lehrerschaft, die gegen meinen Willen auch mich zu erfassen versucht. Vorgestern meinte mein Schulleiter mir raten zu sollen, der Schulverwaltung ausführlich zu berichten, wie ich zur Mitgliedschaft und Mitarbeit in der Partei gekommen sei; andere Kollegen hätten das auch schon getan. Nun, das möchte ich nicht tun. Der Fragebogen enthält ja alle geforderten Angaben. Aber Ihnen persönlich möchte ich darüber berichten dürfen, weil Sie mit Ihrer Unterschrift den Schluss-Strich über Sein oder Nichtsein zu vollziehen haben und mich aus jahrelanger Zusammenarbeit besser verstehen werden als die neuen Oberschulräte, die mich gar nicht oder kaum kennen. Ich glaube zu diesem Entschluss eine gewisse innere Berechtigung zu finden in einem Brief, den Sie mir freundlicherweise im August 1933 zu meinem 50. Geburtstag schrieben.“[22]
Schöning vermerkte, diesen Brief aufgehoben zu haben mit denen anderer Kollegen, die er namentlich nannte, eine Auswahl derer, die deutlich nicht nazistisch gewesen waren (Jänisch, Donandt, Jäger). Ernst Schöning schrieb, er sei nie Mitglied einer politischen Partei gewesen: „Ich wusste vor 1933 auch wenig von Hitler und nichts von seinem Buch. Meine Zeit und ganze Kraft war mehr als wohl durchschnittlich bei meinen Fachkollegen dem Ausbau meiner beruflichen Aufgaben gewidmet.“[23] Und dann bemerkte er, von Ehrenämtern entbunden worden zu sein. Kein Wort zu seinem Aufsatz in der Hamburger Lehrerzeitung unterm Hakenkreuz, seinem Bekenntnis zu dem Buch von Adolf Hitler, das er dann offensichtlich sehr schnell studiert hatte und zu dessen Propagandist er dann augenblicklich geworden war. Was sich in den Folgejahren möglicherweise abspielte, soll noch genauer beleuchtet werden. Immerhin führte das Schreiben von Schöning dazu, dass der neue Schulsenator Landahl handschriftlich auf der ersten Seite an Oberschulrat Heinrich Schröder am 16.9.1945 notierte: „Schöning und Tietjen sind mir beide gut bekannt, hervorragende Fachleute, keine Nazis. Wir müssen alles daransetzen, beide zu halten. Dr. Reimers muss gleich mit der Militärregierung sprechen.“[24]
Noch einmal ein Blick zurück. Am 1.4.1933 war der Technische Lehrer Ernst Schöning zum Studienrat befördert worden. Bemerkenswert war dabei, dass bei dieser Beförderung im Schreiben an den neuen NS-geführten Senat ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass Schöning „die nach der Senatsverfügung vom 13. August 1930 erforderlichen Voraussetzungen für die planmäßige Anstellung als Studienrat nicht erfüllt“. Die Landesschulbehörde bat den Senat um die Genehmigung, Schöning „unter Absehen von dem Erfordernis der Senatsverfügung“ zum Studienrat zu befördern.[25] Möglicherweise hatte im Hintergrund die Beziehung von Ernst Schöning, der als Vertreter der Vereinigung der Turnlehrer an den höheren Staatsschulen Hamburgs engen Kontakt zu Oberschulrat Prof. Wolfgang Meyer pflegte, eine Rolle gespielt.[26] Wolfgang Meyer war während der Weimarer Republik der verantwortliche Oberschulrat für die höheren Schulen gewesen. Parallel dazu engagierte er sich als führender Funktionär in der Hamburger Turnerbewegung, wurde von den Nationalsozialisten nach seiner Pensionierung vorübergehend als Landesschulrat eingesetzt und übernahm eine Einarbeitungsfunktion für den neuen Senator Karl Witt. 1933 war er Hamburger Gauführer der Deutschen Turnerschaft.[27]
Ernst Schöning hatte gleich nach dem Wechsel der Schulleitung von Heinrich Landahl auf Erwin Zindler dem neuen Schulleiter seine Loyalität und Unterstützung angeboten. Erwin Zindler vermerkte dazu am 8.5.1935:
„Ich bestätige, daß der Studienrat Schöning mir ohne mein Ersuchen sofort nach Bekanntgabe der Beschwerde des Dr. Witter erklärte, daß er in Verbindung mit meiner, des Schulleiters, Arbeit, die vorhandenen Gegensatzreste von alter und neuer Lichtwarkschule zu überbrücken, mit einem Appell zur Unterstützung meiner, des Schulleiters, sich an den Lehrkörper gerichtet habe, denn Nationalsozialismus sei Gemeinschaftsarbeit. Jeder Einbruch in diese sei Rückfall in die Reaktion.“[28]
Ernst Schöning war durchaus ein streitbarer Geist. In dem schon erwähnten Schreiben von Schöning an Heinrich Landahl am 15.5.1945, in dem er beklagt hatte, 1933 aus manchen „ehrenamtlichen Ämtern entfernt“ worden zu sein, schrieb er auch: „Ich hatte also keinen Grund, mit der neuen Partei zu sympathisieren, und das Gebaren, mit dem sich die Führung des NSLB einführte, war mir seiner Aufdringlichkeit wegen schon gar zuwider. Deshalb trat ich nicht in die Partei ein. Im August 1933 wurde ich auf Vorschlag von Berlin zum Gausachbearbeiter für Leibeserziehung im NSLB ernannt. Dies Amt habe ich indessen abgelehnt, weil ich in der einzigen diesbezüglichen Rücksprache mit dem Präsidenten Witt und dem Landesschulrat Schulz zu der Überzeugung hatte kommen müssen, dass meine Absichten in dieser beruflichen Angelegenheit nicht mit denen der beiden Herren in Einklang zu bringen sein würden. Ich habe bis heute mit meinen Ansichten immer im stärksten Gegensatz zu dem gestanden, was von Seiten der Partei durch die Herren Alwin Benecke und Jacobs, den Dezernenten in der Schulverwaltung, in der Durchsetzung der ‚Reichsrichtlinien‘ herausgebracht worden ist. In diesen Auseinandersetzungen ist es zeitweise so weit gekommen, dass mir vom Präsidenten Witt in Gegenwart von Oberschulrat Oberdörffer angedroht wurde, das Disziplinarverfahren gegen mich eröffnen zu lassen.“[29]
Es ist nicht völlig ersichtlich, worin der Konflikt zwischen Ernst Schöning und dem NSLB bestanden hatte. Die Auseinandersetzung mit OSR Wilhelm Oberdörffer fand 1936 statt. Der Hintergrund war ein Konflikt an der Lichtwarkschule um die tägliche Sportstunde. Und als Antipode fungierte damals der stellvertretende Schulleiter, Berthold Ohm.[30]
Ernst Schöning hatte sich darüber beklagt, dass in der Konferenz an der Lichtwarkschule am 28.10.1936 verkündet worden war, den Sportunterricht in der Woche um eine Stunde zu reduzieren. Schöning wies darauf hin, dass mit der täglichen Turnstunde „die Wünsche des Führers“ verwirklicht würden, es sich also um eine „nationalsozialistische Forderung“ handele und die tägliche Turnstunde „unter der alten liberalistischen Regierung 1925 eingeführt und acht Jahre durchgehalten werden konnte, während diese nationalsozialistische Errungenschaft durch die nationalsozialistische Staatsführung schon nach drei Jahren wieder preisgegeben wurde“. Schöning wies OSR Oberdörffer darauf hin, dass er „aus staatspolitischen Erwägungen“ ein ähnliches Schreiben auch an Reichsstatthalter Karl Kaufmann gerichtet habe. [31]
Oberdörffer hatte Schöning geantwortet, dass er sich nicht ohne Einhaltung des Dienstweges direkt an den Reichsstatthalter wenden dürfe.[32]
Dieser Konflikt konnte Ernst Schöning allerdings nicht davon abhalten, zum 1.5.1937 in die NSDAP einzutreten und seit Oktober 1937 auch die Funktion eines Blockleiters seiner Ortsgruppe zu übernehmen.
Obwohl Schönings Kontrahent an der Lichtwarkschule, Berthold Ohm, im Zuge mehrerer Konflikte an der Lichtwarkschule bei der Zusammenlegung der Schule mit dem Heinrich Hertz-Realgymnasium 1937 zur Oberschule für Jungen am Stadtpark als stellvertretender Schulleiter entpflichtet und versetzt worden war[33], beantragte Schöning zum 1.4.1939 seine Versetzung an die Walddörferschule, von der er allerdings 1941 wieder zurückkehrte. Der Schulleiter der Oberschule am Stadtpark, Bernhard Studt, hatte am 5.4.1939 seine Wertschätzung für Schöning in einem kurzen Bericht zum Ausdruck gebracht:
„Herr Ernst Schöning ist ein vorbildlicher Turnlehrer; ein gewissenhaft und mit kluger Überlegung aufgebauter Unterricht, aufs glücklichste unterstützt durch reiche Erfahrungen, sicherten ihm hervorragende Erfolge. Die Schüler schätzen Herrn Schöning sehr hoch; die Kollegen sehen ihn nur mit Bedauern aus ihrer Mitte scheiden.“[34]
Ernst Schöning fand nach Ende der NS-Herrschaft gewichtige Fürsprecher. Sein Schreiben an Heinrich Landahl war persönlich an seinen ehemaligen Schulleiter gerichtet. Darin begründete er, dass er in seiner Funktion als Blockleiter entgegen der Haltung vieler fanatischer Parteigenossen diese Aufgabe im Interesse der Mitbewohner ausgeführt habe. Er nannte dazu viele Beispiele, gab die Namen der von ihm betreuten Familien an, die jederzeit zu seinen Gunsten Aussagen machen könnten. Das Schreiben war klug aufgebaut unter der Überschrift: „Ich habe immer mit offenem Visier gekämpft, davon bin ich auch in der Partei nicht abgegangen und deshalb sehr bald dem Ortsgruppenleiter zu einem der unbequemsten Mitarbeiter geworden, weil ich mich nie an den sogenannten ‚blinden Gehorsam‘ habe gewöhnen können.“ Dafür nannte er Beispiele:
„Der Ortsgruppenleiter hatte angeordnet, dass im Alarmfalle alle politischen Leiter zu ihm in den Bunker zu kommen hätten. Ich habe nie einen Bunker von innen gesehen, weil nach meiner Meinung gerade im Ernstfalle der Blockleiter bei den Volksgenossen zu sein hat, die er betreuen soll. Als nach dem schweren Angriff Juli/August 43 der Ortsgruppenleiter mein Nichterscheinen im Bunker mit den Worten rügte, wo ich denn die ganze Zeit gesteckt hätte, konnte ich ihm antworten: ‚jedenfalls nicht bei der Ortsgruppe im Bunker, sondern bei meinen Volksgenossen auf dem brennenden Dach.‘ Und zur Bestätigung dessen konnte ich ihm meine beiden schwer verbrannten und verbundenen Hände vor Augen führen.“[35]
Mit einer gewissen Glaubwürdigkeit zeigte Ernst Schöning auch einen anderen Dissens an, den er mit der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis hatte:
„In einem ganz wesentlichen Gegensatz zur Partei habe ich immer in der Judenfrage gestanden. Die Formen und Mittel, die darin seit 1933 zur Anwendung kamen, habe ich abscheulich gefunden; die äußerliche Kennzeichnung fand ich infam und mehr beschämend für die Deutschen als für die Juden; die Entlassung aus dem Amt, nur des Glaubens wegen für gesetzwidrig, die Enteignung des Besitztums für ungerecht und politisch unklug. Diesen Standpunkt habe ich auch in der Partei rückhaltlos vertreten, wo es nötig war, auch nach eigenem Ermessen gehandelt. Einige Beispiele: Als die Kollegen Loewenberg und Liebeschütz entlassen wurden, bin ich persönlich bei dem neu ernannten Leiter Zindler vorstellig geworden und dafür eingetreten, dass er Sorge tragen möge, beide Kollegen bei uns zu belassen (Zeuge: Kollege Herbert Moltmann). – Den Parteigenossen war es untersagt, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen. Als der Ortsgruppe angezeigt worden war, dass Zahnarzt Dr. Seefeld (Mischling I. Grades) mich behandle, wurde ich wiederholt verwarnt. Ich bin ohne Unterbrechung bei Dr. S. in Behandlung geblieben (Zeuge: er selbst, Opitzstraße 24). – Gegen Ende 1942 wurde uns ein Schriftstück zur Unterschrift vorgelegt, wonach es Parteigenossen verboten wurde, Frauen zu heiraten, die vorher mit einem Juden verheiratet gewesen seien. Ich habe mich trotzdem im März 1943 wieder verheiratet mit einer Frau, die vorher mit einem hamburgischen Rechtsanwalt jüdischer Rassen- und Glaubenszugehörigkeit verheiratet gewesen war.“[36]
Freilich hatte Herr Schöning es unterlassen, alle seine Aktivitäten aufzulisten. In seiner umfänglichen Liste von Veröffentlichungen hatte er zwar seinen HLZ-Artikel aus dem Jahre 1932 aufgeführt, aber den aus dem Jahre 1934 verschwiegen, in dem er sich als Bewunderer der Ausführungen Adolf Hitlers in seinem Buch „Mein Kampf“ zur politischen Leibeserziehung offenbart hatte.[37]
Schöning hatte Erfolg. Er wurde nicht nur entnazifiziert, sondern konnte seine Tätigkeit bruchlos fortsetzen. Seit dem 19.11.1943 war er zur Arbeit an die Lehrerbildungsanstalt (LBA) abgeordnet gewesen. 1945 ernannte ihn Senator Heinrich Landahl zum Fachberater der Schulbehörde in Angelegenheiten der Leibeserziehung. Schöning schrieb dazu: „In dieser Funktion habe ich im Beirat für Leibeserziehung des derzeitigen Zonenerziehungsrates in nahezu 20 Tagungen Vorträge zu halten gehabt.“[38]
Gleichzeitig war ihm auch die Leitung eines Fachseminars für Studienreferendare übertragen worden.[39]
Ernst Schöning besaß neben seinem ehemaligen Schulleiter Heinrich Landahl, der seit 1945 Senator für den Schulbereich war, noch einen anderen wichtigen Bewunderer, der allerdings zu diesem Zeitpunkt noch keine politische Rolle spielte. Es war Helmut Schmidt, dessen Sportlehrer Ernst Schöning an der Lichtwarkschule gewesen war.
„Immer wieder würdigte Schmidt auch ihn als Vorbild, wenn er über seine eigene Vergangenheit nachdenkt“, schreibt Sabine Pamperrien in einer kritischen Biografie über Helmut Schmidt und dessen Jahre von 1918 bis 1945.[40] Sie zitiert, was Helmut Schmidt über Ernst Schöning gesagt hatte: „Er war ein gütiger Mann mit großem Einfühlungsvermögen in die Pubertätsprobleme heranwachsender Jungen. Zugleich verstand er es, unseren sportlichen Ehrgeiz zu wecken und uns zu fördern.“[41]
In einer Rede von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 zum Thema „25 Jahre Deutscher Sportbund“ hatte dieser gesagt:
„Ich werde nie vergessen, was ich auf dem Felde des Sports meiner Schule zu verdanken habe. Vielleicht haben wir Jungens damals nicht ganz so viel Sprachen oder Mathematik gelernt, aber wir haben sechs Tage in der Woche jeden Tag eine Stunde Sport gemacht, und eine von diesen sechs Sportstunden war eine Schwimmstunde. Mit 18 Jahren konnte niemand ein ‚genügend‘ in Sport bekommen, der nicht das Deutsche Sportabzeichen erworben hatte. Nie werde ich meine innere Dankbarkeit gegenüber meinem Turnlehrer Ernst Schöning aufgeben – er lebt heute noch, inzwischen wohl 90 Jahre alt – für das, was er uns jungen Leuten an menschlichem Vorbild gegeben hat. Er hat uns in nichts anderem unterrichtet, als wie man miteinander Handball spielt, wie man miteinander Faustball spielt, wie man seinen eigenen Körper zu beherrschen lernt im Geräteturnen. Von ihm ist der stärkste pädagogische Einfluss ausgegangen auf uns junge Menschen. Es gibt viele, denen es so gegangen ist.“[42]
Sabine Pamperrien bot eine eigene Erklärung für die Vorbildfunktion, die Ernst Schöning für den jungen Helmut Schmidt gehabt hatte, an:
„Bei Schöning fand Schmidt, was er bei seinem Vater vermisste. Der Sportlehrer half, die während Schmidts Pubertät erheblichen Spannungen zwischen Vater und Sohn zu kompensieren. Zwischen Vater und Sohn schwelte ein schwerer Generationenkonflikt, erinnert sich Schmidt. Schöning wurde das männliche Vorbild, das der Vater nicht sein wollte oder konnte. Beeindruckt war der Jugendliche auch von den soldatischen Fähigkeiten des Lehrers.“[43]
Als Beleg führte sie an, was Helmut Schmidt in einem Gespräch mit Fritz Stern über sein Vorbild Schöning sagte: „Er war nicht nur ein sehr netter Kerl, tüchtiger Pädagoge, er war im Ersten Krieg auch der Chef einer MG-Kompanie gewesen genau wie Heinrich Brüning. […] der Respekt vor einem Mann, der im Krieg eine MG-Kompanie geführt hatte, der war allgemein.“[44]
Sabine Pamperrien vermutete: „Es wird der bewunderte Lehrer selbst gewesen sein, der sich seinen Schülern und den neuen Machthabern als soldatisches Vorbild empfahl. Ernst Schöning erwies sich als einer der Lehrer, die sich sofort nach der Übernahme der Schule den neuen Herren als Gleichgesinnte zeigten. Sein leibeserzieherisches Ideal ließ sich bestens mit den Vorstellungen der Nationalsozialisten vereinbaren, wie er fand. In zahlreichen Veröffentlichungen nach 1933 verdeutlichte er die Parallelen zwischen seinen Vorstellungen und denen des Nationalsozialismus.“[45]
Der Effekt der Leibeserziehung an der Lichtwarkschule für Helmut Schmidt sei offensichtlich gewesen, schrieb Sabine Pamperrien:
„Durch den täglichen Sportunterricht entwickelte sich der schmächtige Helmut Schmidt zum durchtrainierten Sportler. Ein aus seiner Schulzeit für das Abiturjahr erhalten gebliebener Wertungsbogen bescheinigte ihm in fast jeder Übung gute und sehr gute Leistungen. Sportlehrer Ernst Schöning hatte die Wertungsbögen selbst entwickelt, ursprünglich, um die sportliche Leistung wissenschaftlich valider zu machen und damit zugleich den Beruf des Sportlehrers aufzuwerten, der damals noch als unwissenschaftlich galt.“[46]
Und zu Ernst Schöning stellte Sabine Pamperrien fest:
„Bereits in der Weimarer Republik hatte er sich publizistisch dafür eingesetzt, den Wertungsbogen flächendeckend einzuführen. Während dieser Zeit argumentierte er noch nicht mit etwaigen Interessen des Staates an gut trainierten Schülern. Das holte er nach der Einführung des Wehrsports umgehend nach. Den Nationalsozialisten diente er sein Konzept als überaus nutzbringend für die Erfassung der Wehrtüchtigkeit an. Von nun an erzog der alte Soldat neue Soldaten.“[47]
Am 14.12.1948 wurde Ernst Schöning in den Ruhestand versetzt. Bei der Arbeitsgemeinschaft der Referenten des Schulsports der Länder am 28. und 29.3.1949 in Marburg vertrat er Hamburg noch einmal. Da er danach von Prof. Carl Diem einen Ruf als Dozent an die Sporthochschule Köln bekam, fiel es Hamburg leicht, ihn von seiner bisherigen Tätigkeit als Fachberater für den Sport in Hamburg zu entbinden und „dieses Amt nunmehr Herrn Prof. Möckelmann“ zu übertragen, „der dafür zweifellos aufs Beste geeignet ist“, wie OSR Heinrich Schröder Ernst Schöning mitteilte. „Mit dem Ausscheiden von Herrn Direktor Harte aus dem Sportamt wird dann 1950 die ganze Frage des Referats für die Leibesübungen neu geregelt werden.“ Heinrich Schröder gratulierte Schöning zur Berufung nach Köln und dankte ihm für die Arbeit und Mühewaltung, die dieser „als Fachberater gerade auch seit 1945 für den Wiederaufbau der körperlichen Erziehung in Hamburg geleistet“ habe.[48]
Kurz zuvor hatte sich Ernst Schöning anlässlich seines Ausscheidens aus dem Hamburger Bildungsdienst noch einmal an Heinrich Landahl gewandt, wieder direkt an seine Privatadresse. Darin wurde noch mal deutlich, dass dem Sport nach Schönings Sicht immer noch nicht die gebührende Anerkennung zuteil geworden ist, sodass bei ihm alte Ressentiments geblieben waren. Dies wurde von OSR Heinrich Schröder im Einzelnen aufgelistet, der für Senator Landahl Argumente sammelte. Einen entsprechenden Brief schrieb Senator Landahl an Ernst Schöning dann am 26.11.1949.[49]
Für Ernst Schöning war es sicherlich eine große Ehre, von dem bekanntesten deutschen Sportfunktionär und Rektor der im Aufbau befindlichen Sporthochschule in Köln angesprochen zu werden. Bei der letzten Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Sportreferenten der Kultusministerien in Marburg, an der auch Prof. Carl Diem teilgenommen hatte, lud dieser Herrn Schöning zu fünf Gastvorträgen an der Sporthochschule Köln ein. Kurz darauf wurde Schöning von Diem dann als Dozent an die Sporthochschule berufen. Für Schöning Anerkennung und sicher ein Höhepunkt seiner beruflichen Arbeit. Carl Diem, am 24.6.1882 in Würzburg geboren, war zu diesem Zeitpunkt ein anerkannter Sportfunktionär, Sportwissenschaftler und Publizist. Er hatte 1913 die Verleihung des Sportabzeichens begründet, war seit den Olympischen Spielen von 1912 Kapitän der deutschen Olympiamannschaft. 1936 war er maßgeblich an der Planung und Durchführung der Olympischen Spiele in Berlin beteiligt, für die er schon vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten nominiert worden war. Erst in den 1990er Jahren wurde die Rolle von Carl Diem in der NS-Zeit problematisiert und neu beleuchtet. Diem, der niemals Mitglied der NSDAP gewesen war, allerdings als Generalsekretär des Organisationskomitees die Olympischen Spiele 1936 verantwortlich geleitet hatte und 1939 vom Reichssportführer mit der Leitung der Auslandsabteilung des NS-Reichsbundes für Leibesübungen betraut wurde. Von Historikern problematisiert wurde eine Rede von Carl Diem am 18.3.1945 vor Mitgliedern der Hitlerjugend im Kuppelsaal des Berliner Olympiageländes, in der er diese zu „finalen Opfergaben für den Führer“ aufgerufen hatte: „Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland ficht, für das Vaterland stirbt.“[50]
Als Carl Diem 1947 Ernst Schöning an die Sporthochschule nach Köln berief, gehörte er noch zu den unangefochtenen, geehrten Sportfunktionären und Sportwissenschaftlern in Deutschland. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatte auch im Bereich des Sports noch nicht angefangen.
Ernst Schöning fühlte sich auch in späteren Jahren von der Schulverwaltung nicht richtig anerkannt und angemessen besoldet. In mehreren Eingaben wies er darauf hin, anders als andere Seminarleiter und Fachreferenten niemals zum Oberstudienrat befördert worden zu sein. Dazu machte er 1963 noch einige Eingaben, in denen er berichtete, von Bundesinnenminister Schröder im Rahmen der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder 1961 in Göttingen für seine „hervorragenden Verdienste um die deutsche Leibeserziehung“ mit einem persönlich signierten Buch ausgezeichnet worden zu sein. Dies schrieb Schöning zuletzt am 5.9.1968 an Landesschulrat Wolfgang Neckel, nachdem dieser ihm zum 85. Geburtstag gratuliert hatte.[51]
Als sich Ernst Schöning 1971 noch einmal an die Hamburger Schulbehörde wandte mit einem Antrag, zum Oberstudienrat befördert zu werden, teilte ihm Senatsdirektor Glatz mit, dass „nachträgliche Beförderungen von Ruhestandsbeamten leider nicht möglich seien“.[52]
Ernst Schöning starb, fast 97-jährig, am 6.8.1980.[53]
Text: Hans-Peter de Lorent

Anmerkungen
1 Alle Angaben laut Personalakte Schöning, StA HH, 361–3_A 1618
2 Ebd.
3 Siehe dazu: Arbeitskreis Lichtwarkschule (Hg.): Die Lichtwarkschule. Idee und Gestalt. Hamburg 1979; Joachim Wendt: Die Lichtwarkschule in Hamburg (1921–1937). Eine Stätte der Reform des höheren Schulwesens, Hamburg 2000; Ursel Hochmuth: Lichtwarkschule/Lichtwarkschüler: „Hitler führt ins Verderben. Grüßt nicht!“, in: Ursel Hochmuth/Hans-Peter de Lorent (Hg.): Hamburg: Schule unterm Hakenkreuz, Hamburg 1985, S. 51 ff.
4 Siehe Personalakte a. a. O.
5 Ernst Schöning: Die Leibesübungen in der neuen Erziehung, in: HLZ 14/15-1932, S. 169.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Ernst Schöning, HLZ 14/15-1932, S. 170.
9 Siehe: Schule Vossberg 1886 – Heinrich-Hertz-Schule 1986, Dokumente zur Schulgeschichte, Hamburg 1986, S. 97.
10 Hans-Peter de Lorent: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz, Band 1, Hamburg 2016, S. 538 ff.
11 Wendt 2000, S. 344.
12 Wendt 2000, S. 356 f.
13 Ernst Schöning: Die Leibesübungen in der heutigen Jugenderziehung, HLZ 7/1934 S. 97 ff.
14 Schöning 1934, S. 97.
15 Ebd.
16 Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1933, S. 453 f., zitiert nach Schöning 1934, S. 97.
17 Schöning 1934, S. 97.
18 Schöning 1934, S. 98.
19 Ernst Schöning, Zusammenstellung seiner Schriften, in StA HH, 362-2/19_14
20 Ebd.
21 Entnazifizierungsfragebogen Ernst Schöning, StA HH 221-11_Ed 2994
22 Schreiben vom 15.9.1945, Personalakte Schöning, a. a. O.
23 Ebd.
24 Ebd. Siehe die Biografie Hans Reimers in: Hans-Peter de Lorent: Täterprofile Bd. 2, Hamburg 2017, S. 249 ff.
25 Schreiben von Oberregierungsrat Henry Edens vom 11. Mai 1933 an den Senat, Personalakte Schöning, a. a. O.
26 Siehe die Korrespondenz zwischen Ernst Schöning und OSR Prof. Meyer 1929, Personalakte Schöning, a. a. O.
27 Siehe die Biografie Wolfgang Meyer in: de Lorent 2017, S. 150 ff.
28 Vermerk von Erwin Zindler vom 8.5.1935, Personalakte Ohm, StA HH, 362-2/20_6 B1, Akte Ohm.
29 Schreiben von Ernst Schöning an Heinrich Landahl vom 15.9.1945, Personalakte Schöning, a. a. O.
30 Siehe die Biografie Berthold Ohm: de Lorent 2016, S. 575 ff.
31 Schreiben vom 28.10.1936, Personalakte Schöning, a. a. O.
32 Siehe die Vermerke Oberdörffers vom 30.10.1936 und 19.11.1936, Personalakte Schöning, a. a. O.
33 Siehe die Biografie Ohm in de Lorent 2016, S. 587.
34 Bericht vom 5.4.1939, Personalakte Schöning, a. a. O.
35 Schreiben an Heinrich Landahl, a. a. O.
36 Ebd.
37 Entnazifizierungsakte Ernst Schöning, StA HH 221-11_Ed 2994
38 Schreiben von Ernst Schöning vom 10.8.1963 an das Hamburger Personalamt, Personalakte a. a. O.
39 Ebd.
40 Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biografie 1918–1945, München 2014, S. 125.
41 Ebd.
42 Helmut Schmidt: Unsere „Tägliche Turnstunde“, Dank an Ernst Schöning, Auszug aus „25 Jahre Deutscher Sportbund“, abgedruckt in: Die Lichtwarkschule, a. a. O., S. 180.
43 Pamperrien 2014, S. 125.
44 Pamperrien 2014, S. 125 f.
45 Pamperrien 2014, S. 126.
46 Pamperrien 2014, S. 127. Der genannte Wertungsbogen ist auch abgedruckt in: Die Lichtwarkschule a. a. O., S. 180 f.
47 Pamperrien 2014, S. 127.
48 Heinrich Schröder in einem Schreiben am 1.12.1949, Personalakte Schöning a. a. O.
49 Schreiben von Ernst Schöning vom 27.9.1949 und Vermerk von OSR Heinrich Schröder vom 22.1.1949, sowie das Schreiben von Heinrich Landahl vom 26.11.1949, Personalakte Schöning, a. a. O.
50 Zu Carl Diem siehe: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich Koblenz 2013, S. 108 f.; Achim Laude/Wolfgang Bausch: Der Sport-Führer. Die Legende um Carl Diem, Göttingen 2000; Frank Becker: Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). 4 Bände, Universitätsverlag Rhein-Ruhr: Duisburg 2009–2011, 2. Auflage 2013; Michael Krüger (Hg.): Erinnerungen an Carl Diem, Münster 2009; Michael Krüger (Hg.): Erinnerungskultur im Sport: Vom kritischen Umgang mit Carl Diem, Sepp Herberger und anderen Größen des deutschen Sports, Münster 2012.
51 Siehe Personalakte Schöning, a. a. O.
52 Ebd.
53 Ebd.
 

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Erklärung zur Datenbank

Stand Januar 2024: 914 Kurzprofile und 332 sonstige Einträge.

Diese Datenbank ist ein Projekt in Fortsetzung (work in progress). Eine Vollständigkeit ist niemals zu erreichen. Sie startete online im Februar 2016 mit rund 520 Profilen und mehr als 200 weiteren Einträgen und wird laufend ergänzt und erweitert werden. Wissenschaftliche Institute, Gedenkstätten, Universitäten und zum Thema forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können gern ihre erarbeiteten Profile in diese Datenbank stellen lassen.

Quellenangaben, die sich auf Webseiten beziehen, sind die zum Zeitpunkt der Recherche gefundenen. Sollten Sie veraltete Links oder Aktualisierungen bzw. Verschiebungen der Inhalte feststellen, freuen wir uns über Hinweise.

Vor etlichen Jahren hat die Landesszentrale für politische Bildung Hamburg die Stolperstein-Datenbank www.stolpersteine-hamburg.de ermöglicht und gibt seit rund zehn Jahren gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der Deutschen Juden unter der Projektleitung von Dr. Beate Meyer und Dr. Rita Bake von der Landeszentrale für politische Bildung die Publikationsreihe „Stolpersteine in Hamburg, biografische Spurensuche“ heraus. Mit dieser Datenbank „Die Dabeigewesenen“ möchte die Landeszentrale für politische Bildung nun den Blick auf diejenigen lenken, die das NS-System stützten und mitmachten. Denn:

Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht,
muss [...] über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen
und Vergessen der Vergangenheit beruht.“ (Mario Erdheim Psychoanalytiker) 1)

Diese aktuell immer noch so wichtige Aussage bildet den inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Datenbank. Sie enthält eine Sammlung mit Kurzprofilen über Menschen, die auf unterschiedlichste Weise an den NS-Gewaltverbrechen in Hamburg Anteil hatten, z.B. als Karrierist/innen, Profiteur/innen, Befehlsempfänger/innen, Denunziant/innen, Mitläufer/innen und Täter/innen. Aber auch sogenannte Verstrickte, die z. B. nach durchlittener Gestapo-Folter zum Spitzel wurden. Unter all diesen Dabeigewesenen gab es auch Menschen, die in keiner NS-Organisation Mitglied waren, die aber staatliche Aufträge - zum Beispiel als Künstler oder Architekt - annahmen und so von dem NS-System profitierten, im Gegensatz zu denen, die sich diesem System nicht andienten, deshalb in die Emigration gingen oder in Kauf nahmen, keine Karriere mehr zu machen bzw. kaum noch finanzielle Einnahmen zu haben.

Ebenso wurden solche Personen aufgenommen, die zum Beispiel vor und während der NS-Zeit den Idealen des Heimatschutzes und der Technik-Kritik anhingen und das NS-Regime dadurch unterstützten, indem sie staatliche Aufträge annahmen, die diesen Idealen entsprachen, da das NS-System solche Strömungen für seine Ideologie vereinnahmte.

Für die Datenbank „Die Dabeigewesenen“ wurden alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Medizin, Justiz, Bildung und Forschung, Verwaltung, Kirche, Fürsorge und Wohlfahrt, Literatur, Theater und Kunst, Wirtschaft, Sport, Polizei und parteipolitische Organisationen berücksichtigt.

„denn wir können (…) das ganze Phänomen des Mitmachens und des Ermöglichens, das ja in der NS-Zeit eine genauso große Rolle gespielt hat, wie die Bereitschaft, selbst aktiver Täter vor Ort zu sein - das alles können wir nur verstehen, wenn wir die verschiedenen Facetten der Täterschaft noch viel genauer betrachten, als das bisher geschehen ist." 2)

In vielen Profilen wird der weitverbreitete Enthusiasmus vieler Deutscher für den Nationalsozialismus, gegenüber „seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, seine Architektur, seine Weltanschauung" 3) etc. deutlich. Und es zeigt sich, dass Menschen das NS-System stützten, indem sie z. B., ohne darüber nachzudenken und ohne zu hinterfragen, bereitwillig moralische und soziale Normen des NS-Staats übernahmen.

Mit Schaffung der „Ausgrenzungsgesellschaft“ war es für die „Mehrheitsgesellschaft“ möglich, u. a. NS-Rassentheorien praktisch umzusetzen.

Diese Erkenntnis ist angesichts heutiger aktueller gesellschafts-politischer Entwicklungen von Bedeutung. In einem Interview zum Thema Fremdenfeindlichkeit bemerkte der Antisemitismusforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz auf die Frage, ob aus der Geschichte zu lernen sei. „Wir könnten schon. Wir könnten zum Beispiel lernen, dass der Fremde nicht schuld ist an dem Hass, der ihm widerfährt. Es scheint tatsächlich schwierig zu vermitteln zu sein, dass das Opfer nicht dafür verantwortlich ist, dass es totgeschlagen oder misshandelt wird. Juden werden nicht verfolgt, weil an ihnen etwas ist, was sie zu Opfern macht, sondern weil die Mehrheitsgesellschaft Opfer braucht, und zwar zur eigenen Identitätsstiftung. Zuwanderer, Fremde, Andersgläubige werden ausgegrenzt. Das stärkt das Selbstgefühl der Mehrheit.“ 4)

Mit der Datenbank soll eine Hamburg Topographie der „Dabeigewesenen“ entstehen, um somit konkrete Orte des NS-Geschehens sichtbar zu machen. Deshalb werden auch nur diejenigen Dabeigewesenen aufgenommen, die zwischen 1933 und 1945 in Hamburg mit seinen Grenzen nach 1937 gelebt/gearbeitet haben. Neben Personenprofilen sind auch Adressen von NSDAP-Organisationen und -Einrichtungen zu finden. Darüber hinaus gibt es für einzelne Stadtteile Einträge, die die NS-Aktivitäten im Stadtteil beschreiben. In der Datenbank kann nach Namen, Straßen, Bezirken und Stadtteilen gesucht werden, damit also auch nach den Wohnadressen und/oder Adressen der Arbeitsstätten (soweit recherchierbar). Durch Hinzuziehen der Stolpersteindatenbank (hier sind die Adressen der NS-Opfer aufgenommen, für die bisher Stolpersteine verlegt wurden) und der virtuellen Hamburg-Stadt-Karte (sie verzeichnet die Zwangsarbeiterlager und Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben) wird eindringlich deutlich, wie dicht benachbart Opfer und Dabeigewesene in Hamburg gelebt und gewirkt haben. Mit diesen Informationen ist es immer schwerer, die altbekannte Entschuldigung aufrecht zu erhalten; wir haben doch nichts davon gewusst.

In den vorgestellten Profilen liegt der Fokus auf Handlungen und Einstellungen zum NS-Regime. Privates wird nur erwähnt, wenn es für die Haltung zum NS-Regime von Relevanz ist. Recherchegrundlage für diese Datenbank waren bereits vorhandene wissenschaftliche Veröffentlichungen (z. B. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Institut für Zeitgeschichte), Biographien, Sammelbände und Dissertationen zu Hamburg im Nationalsozialismus, aber auch in diversen Fällen Entnazifizierungsakten und andere Akten und Dokumente, die im Staatsarchiv Hamburg zur Verfügung stehen. Für die Adressenrecherchen wurden die digitalisierten Hamburger Adressbücher von 1933 bis 1943 der Staats- und Universitätsbibliothek genutzt. Trotz größter Sorgfalt beim Zusammentragen der Daten, ist es dennoch möglich, dass Schreibweisen von Namen variieren und Lebensdaten fehlerhaft sind. In den Profilen und den Beschreibungen der Funktionen sowie des „Wirkens“ des Dabeigewesenen konnte nicht komplett auf das NS-Vokabular – der Sprache der Täter – verzichtet werden, dennoch wurde versucht, diesen Anteil gering zu halten und neutralere Umschreibungen zu finden.
Die meisten der aufgeführten Personen wurden schnell nach Kriegsende durch die Entnazifizierungsstellen als entlastet eingestuft, sie mussten sich selten vor Gericht verantworten oder sie wurden aufgrund von Verjährung ihrer Taten nicht juristisch verurteilt. So stellt Can Bozyakali in seiner Dissertation z. B. zum Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht fest, dass auch in Hamburg bis Anfang der 1950er Jahre 63% aller Justizjuristen, die am Sondergericht tätig gewesen waren, wieder in den Justiz-Dienst eingestellt wurden. „[…] anhand dieser Werte [kann] von einer ‚Renazifizierung‘ gesprochen werden.“ 5)

Dr. Rita Bake, Dr. Brigitta Huhnke, Katharina Tenti (Stand: Anfang 2016)

1) Mario Erdheim: „I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei...“ (Herr Karl), in: Meinrad Ziegler, Waltraut Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.
2) Wolfram Wette: Deutschlandfunk-Interview am 20.11.2014, anlässlich seines neuen Buches: „Ehre, wem Ehre gebührt. Täter, Widerständler und Retter - 1933-1945“, Bremen 2015.
3) Raphael Gross: Anständig geblieben. Frankfurt a. M.  2010, S. 17.
4) Wolfgang Benz: „Ich bin schon froh, wenn es nicht schlimmer wird". Der Historiker Wolfgang Benz über die lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland – und was neu ist an den Pegida-Märschen. Interview: Markus Flohr und Gunter Hofmann, in ZEIT online vom 21. Dezember 2015. www.zeit.de/zeit-geschichte/2015/04/wolfgang-benz-pegida-antisemitismus-fremdenfeindlichkeit
5) Can Bozyakali: Das Sondergericht am Hanseatischen Oberlandesgericht: Eine Untersuchung der NS-Sondergerichte unter besonderer Berücksichtigung der Anwendung der Verordnung gegen Volksschädlinge, Frankfurt/ Main 2005, S. 235.

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