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Frauenbios

Annie Kalmar

( Annie Kalmar (Anna Kaldwasser) )
(14.9.1877 Frankfurt am Main - 2.5.1901 Hamburg)
Schauspielerin
Adenauer Allee 10 Parterre (damals: Große Allee) (Wohnadresse)
Garten der Frauen, Ohlsdorfer Friedhof, Fuhlsbüttler Straße 756 (Historischer Grabstein)
Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee (Wirkungsstätte)
Annie Kalmar, Salondame, um 1900, Bild: via Wikimedia Commons, Rudolf Krziwanek / gemeinfrei
Annie Kalmar starb bereits im Alter von 23 Jahren. Die eigentliche Todesursache sieht der Wiener Schriftsteller und Herausgeber der „Fackel“, Karl Kraus, in der Indolenz von Publikum und Kritikern gegenüber der Begabung Annie Kalmars: „Drei Wochen später starb die junge Schauspielerin, an Nichtachtung des Talents, die sicherlich hier wie so oft die letzte Ursache allen physischen Ruins war“ [1].
Über Annie Kalmars Herkunft und Jugend ist nichts herauszufinden. Nach ersten Auftritten an kleinen Bühnen ging sie nach Wien und nahm Unterricht bei Rosa Keller-Frauentahl. 1895 erhielt sie ein Engagement im Deutschen Volkstheater. Doch weder Publikum noch Kritiker erkannten ihr Talent, sie sahen in ihr nur die schöne, anmutige Frau, an deren Anblick man sich delektierte. Empört prangerte Karl Kraus im April 1899 in der „Fackel“ diesen Sachverhalt an: „Von den Darstellern des ‘Schlafwagencontrolor’ ist außer Girardi nur das Fräulein Anni Kalmar zu erwähnen. Sie die Herrlichste von Allen, wird von Publicum und Kritik immerzu noch als die ‘Solodame’ pur sang, als Ausstattungsgegenstand des Theaters behandelt. Vermuthlich auch von der Direction, die nur allzu selten der feinen und graciösen Art der Dame größeren Spielraum gewährt. Ihre Schönheit steht ihr hinderlich im Wege. Wenn sie, wie im ‘Biberpelz’, ‘Le Amants’, ‘Unser Käthchen’ und jetzt wieder in der Bisson'schen Novität eine wirkliche und gemein natürliche Humorbegabung erweist, so scheinen dies die Leute, geblendet von ihrem Anblick, gar nicht zu merken. Die Direction sollte das Publikum endlich der schon pensionsfähigen Anmuth der Frau Odilon entwöhnen und einen Theil ihrer Agenden dem Fräulein Kalmar übertragen“ [1]. In der nächsten Ausgabe der „Fackel“, Ende April 1899, nahm er das Thema noch einmal auf: „ Das Ensemble des ‘Deutschen Volkstheaters’ verwahrlost zusehends. Man denke sich Frau Odilon als Märchenkönigin. … Frl. Annie Kalmar erwies sich in der langen Erzählung des ersten Aktes als die beste, weil einzige Sprecherin dieses Theaters. Ich habe jüngst Fr. Kalmar als vornehmes, natürliches, besserer Beschäftigung würdiges Talent zu loben mich erkühnt. Dies verhalf mir zu dem Anblicke etlicher breit grinsender Gesichter, und gewisse Leute konnten es nicht fassen, dass eine Schauspielerin, deren von Gott und der Direction gegebenes Amt es wäre ‚bloß schön’ zu sein, am Ende auch Begabung zeigen könne. Herrn v. Bukovics mag es freilich unbequem sein, wenn er einer Dame, die er ausschließlich als Augenweide für ein Stammpublicum von Lebemännern engagiert hat, allmählich auch Rollen wird zutheilen müssen; ich aber pflege mir aus grinsenden Gesichtern nichts zu machen“ [1].
Annie Kalmar hatte Karl Kraus bereits für sein erstes Eintreten für sie gedankt. Am 22. April 1899 schrieb sie an ihn: “Sehr geehrter Herr; Mir wurde vor kurzem die ‘Fackel’ eingeschrieben übersendet und ich fand darin Ihren Artikel über mich. Ich muss Ihnen meinen aufrichtigen Dank aussprechen, dass Sie in Ihrem hochintelligenten Werken meiner gedachten. Sie sind der erste und einzige Journalist, der mich zu verstehen scheint. Seit Jahr und Tag ist mir meine Stellung, ein Schau- und Ausstellungsstück für minderwertige französischen Komödien zu sein, zuwider und oft versuchte ich, mich legal der lästigen Fessel, dem 5. jähr. Contracte, den ich als unerfahrenes 17 jähr. Mädchen unterschrieb, zu entledigen. Aber der Cartellverein, diese moderne Vehme, die für Ihre geistvolle Feder reif ist, legt mir eiserne Fußschellen an. Mir fehlt es nicht an ehrenvollen Anträgen für erste Stellungen an ersten Bühnen – ich musste refüsieren! Ab und zu versuchte ich mich in der Provinz in classischen Rollen, wie Goethe's Gretchen, mit großem Erfolg, um dann wieder hier künstlerische Frohndienste zu leisten, die mich unglücklich machen und meine besten Jahre unnütz vergeuden. Sofort verschaffte ich mir Ihr erstes Heft und war ergötzt über Ihre geistreiche Satire auf den Paradies-‘Dichter’, diesen Gelegenheits-Harlekin. Es ist jedes Wort wahr und ehrlich, bedeutend und geistreich, was ich da las, und werde ich in Zukunft eine eifrige Leserin Ihrer Schrift sein. Empfangen Sie meinen anerkennungsvollen Dank für Ihre Äußerung über mich, die ich um so höher schätze, als sie aus ganz reiner Quelle fließt, da ich nicht persönlich in irgendwelchen Beziehungen zu Ihnen stehe. Ihr kühnes und vornehmes Beginnen begleiten alle meine Glückwünsche, und füge ich diesen meinen hochachtungsvollen Gruß unbekannter Weise an!
Anni Kalmar“ [2].
Persönlich lernten Annie Kalmar und Karl Kraus sich erst nach Abschluss der Theatersaison im Jahre 1900 kennen, als Annie Kalmar das Volkstheater verlassen und einen Vertrag für das neu eröffnete Deutsche Schauspielhaus in Hamburg unter Alfred von Berger hatte. Er besuchte sie täglich im Sanatorium Pukersdorf bei Wien, wo sie den Sommer über ihre angegriffene Gesundheit zu kräftigen suchte, um sich auf das neue Engagement vorzubereiten. Doch schon ihre erste bedeutende Rolle am Schauspielhaus im November 1900, die Maria Stuart, musste sie kurz vor der Premiere aus gesundheitlichen Gründen absagen. Trotz sorgfältiger Pflege erholte sie sich nicht mehr. Sie starb am 2. Mai 1901. Die Todesnachricht erreichte Karl Kraus, der sie alle zehn Tage in Hamburg besuchte, auf dem Weg zu ihr in Berlin.
Für Karl Kraus war die Begegnung mit Annie Kalmar offenbar von lebenslanger Bedeutung. Über zwanzig Jahre nach ihrem Tod, im Jahre 1924, widmete er ihr sein „Traumtheater“, ein Spiel in einem Akt, in dem er den Dichter auf die Frage, wie lange er die Schauspielerin kenne, antworten lässt: „Seit jeher. Ich kannte eine, die mir für alle das Einssein des Weibes mit der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt, zum Bewusstsein gebracht hat. Sie ging den Schicksalsweg aller zeitwidrigen Urkraft“ [3].
Und anlässlich ihres 30. Todestages erschien in der „Fackel“ das folgende Gedicht und das hier abgebildete Photo von Annie Kalmar:
„Annie Kalmar
Gestorben in Hamburg am 2. Mai 1901“
(Aus „Worte in Versen“ IX)

Sie schwand dahin, dass man ihr Bild ersehne.
Mit ihrer süßen Stimme brach ein Stern,
unirdisch mild, und klang so hoch und fern.
In ihrem Aug war alle Erdenwonne.

Als ob es gestern war, dass eine Sonne
hinging in Nacht, noch gnadet sie dem Blick,
und einen Schimmer ließ sie ihm zurück,
die Abschied in die Dunkelheit genommen.

Wie war Natur an jenem Tag beklommen,
da sie den heißen Atem aus der Not
befreite und so still zu stehen gebot
dem Herzen, das sich an ihr selbst verbrannte.

Wie sich die Schöpfung in dem Bild erkannte,
so brannte sie danach, zurückzunehmen
das Wunderwerk aus einer Welt von Schemen,
um es erbarmungsvoller zu umarmen.

Denn Lust ist ohne Dank, und ohn Erbarmen
Vernichtet sie die Schönheit, ihr gespendet,
erstickt den Glanz, der Menschliches geblendet,
und kehrt befriedigt in die Niederungen.

Mir ist ein Lied von irgendwann verklungen,
ein Himmelskörper hat mit letzter Gnade
beschienen diese dunklen Erdenpfade,
und jenem Glück erweis ich Dank und Denken.

Und immer wieder will es hin mich lenken,
wo es gelandet, nah bei einem Hafen,
und herbstlich war’s, bald wird die Welt
entschlafen,
und krank erklang die Stimme der Sirene.

Und wie ich mich in ferne Tage wähne,
so ist’s, als ob’s Antonias Stimme sei,
sie schwand dahin mir bis zum Tag des Mai,
und alle Pracht versank für eine Träne [1].

Aber auch auf einen anderen Schriftsteller übte Annie Kalmar eine besondere Anziehungskraft aus, den Wiener Dichter Peter Altenberg, der das Wesen und die Begabung Annie Kalmars ebenfalls verstand und das ihr geschehene Unrecht anprangerte. Unter der Überschrift „Wie Genies sterben“ veröffentlichte Karl Kraus den folgenden Brief von ihm, der zugleich eine provokante These zur männlichen und weiblichen Genialität enthält, die hier aber nicht weiter erörtert werden kann:
„Lieber Karl Kraus!
Ich unterschätze manche der Uebel nicht, die Ihre Feder bekämpft. Doch sind sie alle greifbar, an den einzelnen Repräsentanten kenntlich, und der ahnungslose Wanderer zwischen socialen Klüften ist gewarnt.
Aber fassen wir einmal die Gesellschaft, der all Ihr Hassen gilt, dort an, wo sie ihre furchtbare Macht in täglichem Zerstörungswerk bethätigt, wo sie nicht materielle und geistiger Werte corrumpiert, sondern der Allgemeinheit das Beste, Tiefste und Nothwendigste, was diese hat, entzieht: den genialen, vollkommenen Menschen, diese Ausnahme aller Ausnahmen auf Erden, in die Welt gesetzt, um alle Anderen aus ihren Alltäglichkeiten zu reißen und ihnen einen unausgeführten Plan Gottes endlich in seiner letzten Vollendung zu zeigen!
Denken Sie sich, böse, egoistische Menschen hätten Beethoven in seinem dreiundzwanzigsten Jahre ermordet, körperlich und seelisch in Fetzen gerissen, zugrunde gerichtet … Er durfte aber leben, zum Wohle der Menschheit, weil er als Mann seine heilige Organisation vor Schaden bewahren konnte. Sie wissen, dass es meine vom ‘Normalmenschen’ als krankhafte Schrulle verspottete Lebensanschauung ist, der geistigen Genialität des Mannes die ästhetische Genialität der Frau vollkommen gleich zu stellen und ebenso die Wirkung dieser auf die Schar derjenigen, die in Unzulänglichkeiten dahinvegetieren verurtheilt sind. So wie sich die gesamte Menschheit gleichsam zu unerhörten Mütterlichkeiten, Zartheiten und Rücksichten organisiert dem geistigen Genie gegenüber, so hat sie dieselben zärtlichen und mütterlichen Betreuungspflichten gegen dieses gottähnliche Wesen ‚schöne und anmuthreiche Frau’!
Was ich hier schreibe, ist Grabschrift und Anklageschrift.
Die schönste, genialste, sanfteste, kindlichste Frau, die wie ein Gnadengeschenk des Schicksals in diese hintrauernde Welt der Unvollkommenheiten gesendet ward, hat sterben müssen. Das Licht von Anmuth und süßer Menschlichkeit, das von ihr ausging, wurde nicht – oder zu spät – von treuen, zärtlichen, brüderlichen, väterlichen Händen erhalten; die schändliche, feige Satanskralle infamer Lebenskünstler durfte die Lichtvolle in die dunklen Abgründe reißen. Im labilen Gleichgewichte einer künstlerischen Persönlichkeit, brauchte sie desto drängender an jedem Tage und zu jeder Stunde tausend und abertausend selbstlose Helfer und Betreuer! Statt ihrer findet eine solche Ahnungslose, Unbewusste, an Abgründen ewig Heitere – Meuchelmörder, von sich selbst und mit ihrem eigenen bösen Reichthum gedungen! Sie bleiben immer wach, wachend über ihr eigenes Wohl, ewig bewusst, bewusst ihrer schurkischen Lüste, während die Kindliche, unbewacht, unbewusst, zum Opfer wird. –
Ist denn nie in diesen grausamen Augenblicken ein väterliches Wort, eine freundschaftliche Gebärde da? Nirgends ein Weiser, der mahnend seine Stimme erhebt, nirgends ein Guter, der eine Betäubte auf starkem Ritterarm von hinnen trüge?
Alle Künstler, alle Adelmenschen sollten trauern ob solcher Mordthat.
Die Zerstörkräfte des geselligen Wien hatten ihre Wirkung gethan, und es konnte dem künstlerischen Edelmann in der Fremde nicht mehr glücken, eine Begabung zu jenen Höhen zu geleiten, auf welchen ihrer die Verkörperung einer Adelheid, Rahel und Katharina harrte.
Fern der Stadt, welche sie als Künstlerin nie erkannt, sondern zum schönen Schaustück für alle, so da unwürdig sind, zu schauen, erniedrigt hat, ist sie, dreiundzwanzig Jahre alt, gestorben. Und die Stadt, die sie nie verstand und nie erkannte, wusste ihr nichts anderes nachzurufen, ihr, der allen Künstlermenschen Theuersten, als eine schäbige Berechnung der angeblich von ihr ‘gesammelten’, also zusammengescharrten Juwelen. Nun, der Inhalt dieser Schmuck-Notizen war erfunden und einer Lebensführung angepasst, die die Ihre nicht war und nicht sein konnte und die dem gütigen Naturell fernlag, das nicht zum Sammeln, nur zum Verlieren geschaffen war!
Wie merkwürdig, oh verblendete irregeleitete Welt! Alles Edelrassige, Exceptionelle hütest du sonst mit tausend Vorsichten und Kräften, hegst zitternd Sorge um aussterbende Bisons im Lithauerwalde, um Pferd und Hund und ihre Rein-Erhaltung. Nur für dieses zarte gebrechliche Wesen ‘genial-schöne Frau’ hat die Erde keine Sorgfalt! Es vergehe, werde zerstört und sterbe hin!
Lieber Karl, ich habe diese Grab- und Anklageschrift Ihnen eingehändigt, weil Sie allein – es war in den ersten Heften der ‘Fackel’ – die Erkenntnis fanden, dass diese Edle, Helle, Kindliche mehr sei als ‘Augenweide für ein Stammpublicum von Lebemännern’. Sie starb in Schönheit – das heißt, unter der völligen Theilnahmslosigkeit der beteiligten Mörderkreise.
Annie Kalmar, ruhe in Frieden!
Peter Altenberg, Wien im Juni 1911 [1].
Die Wiener Presse dagegen verfolgte Annie Kalmar bis über ihren Tod hinaus mit Verleumdungen, die sie aufgrund der Ehrenbeleidigungsklage, die Annie Kalmars Mutter zum Schutze des Andenkens ihrer Tochter beim Wiener Landgericht einbrachte, öffentlich widerrufen mussten. Karl Kraus griff auch diesen Vorgang in der „Fackel“ auf und verknüpfte die Darstellung des Falles mit der Forderung nach einer Reform des Pressewesens. Zu den Artikeln der „Wiener Caricaturen“ und des „Neuen Wiener Journals“ über Annie Kalmar schreibt er: „Die Betrachtungsweise der beiden Herren unterschied sich nur in einem Punkte. Das ‚Witzblatt’! Wartete den Tod des Fräuleins Kalmar ab, um, gestützt auf die in der ganzen Ehrenpresse damals verbreitete Lüge über den Schmuckreichthum, den die Künstlerin hinterlassen haben sollte, ein paar dreckige Bemerkungen anzubringen. Ein Hamburger Rechtsanwalt berichtigte eines von den vielen Blättern, die da geglaubt hatten, die Kunde von dem Juwelennachlaß einer Schauspielerin der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten zu dürfen: in der ‚Arbeiter-Zeitung’ vom 18.Juni 1901 sah man den Millionenschmuck der Reporterphantasie zu einem Gesamtvermögen von 15.000 Mark zusammenschrumpfen. Die Glosse der ‚Wiener Caricaturen’ war nicht zu berichtigen; sie konnte nur mit der Hundepeitsche oder mit dem Strafparagraphen beantwortet werden. Der Chroniqueur des ‚Neuen Wiener Journal’ aber aspirierte schon vor dem Tode der Künstlerin auf eine der beiden Behandlungsarten. Er scheute sich nicht, am 13. April 1900 in die Reihe der schmackhaften Untertitel, die den Inhalt der samstäglichen Rubrik ‚Hinter den Coulissen’ verlockend machen, die Worte aufzunehmen: ‚Die Kalmar im Sterben’, und er erörterte unter dieser ‚pikanten’ Spitzmarke, wie, wo und warum sich dieses Sterben vollziehe. Die Gemeinheit des Inhaltes war hier vielleicht noch von der Niedrigkeit übertroffen, die den Zeitpunkt der Publication so passend gewählt hatte“ [1].
Sowenig wie Karl Kraus mit dem Platz einverstanden war, den man Annie Kalmar im Leben zugewiesen hatte, so wenig war er es offenbar mit dem auf dem Ohldorfer Friedhof. Über ihre Umbettung schreibt Alfred von Berger am 15. Dezember 1903:
„Hochverehrter Herr Kraus!
Soeben kehre ich von der Umlegung der irdischen Reste unserer armen Annie Kalmar zurück und berichte Ihnen darüber, die Finger noch steif von der ausgestandenen Kälte. Die tote Annie hat diesen Akt posthumer Treue still über sich ergehen lassen, wie sie in ihrem Leben zu ihrem Unglück fast alles mit sich geschehen ließ. Ich hatte gehofft, dass außer mir Fräulein Balling und Detlev von Liliencron der Ceremonie beiwohnen würden: Eine Hetäre, ein Dichter und ein Theaterdirektor. Wenn noch Sie dabeigewesen wären, der noch die Tote so liebt, wie der dritte Bursch in Uhlands Lied der Wirtin Töchterlein, so hätte die Szene selbst, auch ohne Worte und Reime, ein Gedicht gegeben, wie es kein Moderner besser machen könnte. Leider war ich allein dabei, aber der Theaterdirektor vereinigt ja in sich etwas von den drei Typen, die fehlten. Als ich morgens nach Ohlsdorf fuhr, bedeckte eine dünne Schneeschicht die Erde; sie löste sich aber bald in braunen Koth. Auf der Fahrt fiel mir weiter draußen in Barmbeck ein kleines Haus auf, über dessen Thüre zwei Inschriften in großen Lettern zu lesen waren. Sie lauteten: ‚Die Kunst schafft Seligkeiten’ und ‚Die Weisheit ist das Glück’.
Auf dem Friedhof erfuhr ich, dass der Sarg schon in’s Grab übertragen ist und um zehn Uhr versenkt werden soll. Ich fand das Grab nicht gleich, und ein Arbeiter, dem ich den Friedhofszettel vorwies, sagte mir: Dort hinter dem Rosengarten. Annie hat nun einen schönen Platz, von Fichten und Föhren umstanden. Der Aufseher sagte: er hat den ganzen Tag Sonne. Das heißt, er würde sie haben, wenn die Sonne schiene. Der Sarg schwebte auf Seilen und Brettern über der tiefen Grube. Den Metallgriffen und der schwarzen Holztruhe, die den Metallsarg umschließt, wars’s anzumerken, dass die Erde schon energisch begonnen hat, diesen zarten Bissen zu verdauen. Auf dem Metallschilde am Kopfende der Truhe las ich den Namen Annie’s. Wir warteten einige Minuten, dann wurde der Sarg herabgesenkt. Er stand ein klein wenig schief, worauf ihn der Aufseher zurechtrücken ließ. Ich warf drei Schaufeln Erde hinab, auch in Ihrem Namen, sie schlugen dumpf und hohl auf die bauchige Holztruhe auf. Der Aufseher meinte, die Verwesung sei noch nicht ganz vollendet, und wenn die Leiche nicht in einem Metallsarg steckte, würde Verwesungsgeruch zu verspüren sein. Ich erwartete, etwas wie die Kirchhofszene in ‚Hamlet’ werde zu folgen, aber der Aufseher brach, während drei Arbeiter das Grab zuschaufelten, mit einem ‚Guten Morgen, mein Herr’ rasch ab. Ich gab jedem der Arbeiter eine Mark und ging. Die tiefe Stille auf dem Friedhof that mir wohl, und ich wäre gerne länger geblieben, aber ich musste zur Probe. Das Monument wird heute Nachmittag aufgestellt. Seine Stücke lagen und lehnten neben dem Grab. Annie’s Marmoranlitz [Karl Kraus hatte durch den Wiener Bildhauer Richard Tautenhayn ein Grabmal aus Gravensreuther Syenit mit einem Flachrelief aus Laaser Marmor und einem Rosenornament aus gelbem Unterberger Marmor erstellen lassen mit der Aufschrift: ‚Annie Kalmar / 14. September 1877 / 2. Mai 1901 / Ihrem Andenken gewidmet von / Karl Kraus’] sah ihrer Umbestattung lieblich lächelnd zu. Mit diesem holden Bilde schließe ich diesen traurigen Bericht.
Mit herzlichen Grüßen Ihr Berger“ [2].
Der Dichter Detlev von Liliencron besuchte das Grab der Schauspielerin häufig. Am 30. Dezember 1903 berichtet er nach Wien:
„Lieber Karl Kraus,
heut Morgen war ich in Ohlsdorf. Es war ein fürchterlicher Hamburger Nebeltag. Der ‚gelbe’ Nebel. Auf dem Friedhof war kein Mensch. Kein Sarg wurde getragen. So dass es schien, als gäbe es keine Gestorbenen mehr. Und auch keine Lebenden mehr.
Ich weilte lange an dem lieben Grabe. Das Relief ist herrlich. Es lagen eine Menge Kränze davor. Und noch so frisch, als wenn sie erst einige Tage gelegen hätten. Ich senkte zwei frische Rosen darauf. Eine von Ihnen und eine von mir. Und sende Ihnen von Ihrer Rose einige Blätter in diesem Briefe. Rosenblätter der Liebe. Das Grab liegt still und an ernster Stelle. Hinter ihm ist ein großer Blumenplatz, den man erst durchschreiten muss.
Ihr alter Detlev Liliencron“ [2].
Text: Brita Reimers
Zitate:
1 Karl Kraus (Hrsg): Die Fackel. Wien 1899-1936.
2 Ernst Schönwiese (Hrsg.): Das Silberboot. Zeitschrift für Literatur. Heft 1. 5. Jg. 1951.
3 Karl Kraus: Traumtheater. Wien, Leipzig 1924.
 

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