Inmitten des Trubels abseits vom Trubel
Millionen LED-Lampen in pink, rot, gelb, blau, grün und lila leuchten an Shaker, DOM-Dancer, Wellenflug und anderen Attraktionen. Überall ist der fast ohrenbetäubende Bass der Musik zu hören, die echoartigen Ansagen schallen über den Platz, Menschen kreischen vor Freude oder Angst aus den rasanten Karussells und der Duft nach Zuckerwatte und Schmalzgebäck, Bratwurst und Fischbrötchen lockt an jeder Ecke. Auf dem Heiligengeistfeld ist der DOM los. Vier Wochen lang heißt es "höher, schneller, weiter" und Millionen Menschen drängen sich in die Warteschlangen, um das Besondere zu erleben. Doch mitten im Trubel gibt es einen Ort, an dem der Blick gerade nicht auf das Äußerliche gerichtet ist, der nicht auf Reizüberflutung setzt, sondern an dem gezielt nach innen geschaut wird, auf das Seelenleben von Menschen. Neben dem majestätischen Riesenrad, das in 55 Metern Höhe in den Farben des Hamburg-Wappen leuchtet, steht der fast unscheinbare hölzerne Zirkuswagen, in dem die weise Frau von Hamburg sitzt: Karin Tietjen. Umgeben von Bauchläden, Luftballon-Verkäufern, WC-Wagen, Crêpe- und Grillbuden wirkt das Gefährt schlicht und erweckt dennoch die Neugierde der Passanten. Was mag sich wohl hinter dieser Tür verbergen? Welche Geheimnisse offenbaren sich demjenigen, der diesen Wagen betritt? Ein lächelnder Weihnachtsmann heißt die Besucher willkommen, nur drei Stufen trennen den DOM-Besucher von der DOM-Meile und der Eingangstür.
Begegnung im Zirkuswagen
"Ich zeige Ihnen mal meine Glaskugel. Das ist Rosi-Prognosi!", sagt die weise Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und zeigt auf eine winzige bunte Überraschungsei-Figur mit einer Glaskugel in der Hand. "Die Figur ist aus Plastik und ich habe sie von meiner Tochter geschenkt bekommen." Mit ihrer offenen Art und der lauten Lache bricht sie das Eis, löst die Befangenheit auf und gewinnt sofort das Vertrauen der Anwesenden. Der beheizte Raum ist erfüllt von einem zitronenartigen Duft, indirekte Lichtquellen sorgen für eine angenehme Beleuchtung. Auf den Regalen stehen Holzfiguren: Rehe, Eulen, knorrige Äste, die wie Gesichter erscheinen, Mondsicheln, Tannenbäume und kleine Weihnachtsmänner. Mystische Rauchschwaden, Glaskugeln und andere klischeebelastete Utensilien - Fehlanzeige. Vor Karin Tietjen liegen zwei Stapel Karten, die sie nacheinander vor dem Besucher aufgefächert ausbreitet. "Sie ziehen Ihre Karten selber, zuerst drei Karten aus der großen Arkana, dann mehrere aus der kleinen Arkana. Damit gucke ich, welcher Prozess in Ihnen läuft, welche Reflexionen in Ihnen vorgehen, wo Sie gerade festsitzen. Ich erzähle etwas zu den Karten, dann steigen wir in die Themen ein und Sie stellen solange Fragen bis Sie es verstanden haben."
Die Bilder bleiben hängen
Frau Tietjen erklärt, dass die Menschen, die zu ihr kommen, nach Lösungen für Probleme suchen. Sie erwarten, dass sie einen Fahrplan erhalten. Doch es ginge vor allem darum, aufzuzeigen, dass es nicht nur einen Weg gebe. "Eigentlich braucht kein Mensch die Karten. Aber durch die Bilder entstehen Reflexionen und diese bleiben nachhaltig im Gedächtnis hängen. Entscheidungen abgenommen werden hier nicht", stellt Frau Tietjen deutlich fest. "Durch das Gespräch werden die Leute angeregt selbst zu reflektieren. Dadurch entstehen die Lösungen."
Zwischen Himmel und Erde
Dass es dabei schon mal gehörig in die Tiefe geht, versteht sich von selbst. Doch um das, was sich an der bloßen Oberfläche befindet, geht es hier weder für die Besucher noch für Frau Tietjen. Die gelernte Köchin fing nach einer Krankheit im Alter von 28 Jahren an, sich mit Dingen außerhalb ihres gelernten Berufs zu beschäftigen. Zehn Jahre lang machte sie mehrere Ausbildungen als Klangtherapeutin und Heilpraktikerin bis sie über Tarot stolperte und sich intensiv mit der Kunst des Kartendeutens auseinandersetzte. Den Karten widmet sie sich seit nunmehr 25 Jahren und seit 1998 auch auf Jahrmärkten. "Ich habe gemerkt, dass es ein paar mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt und bin einfach neugierig gewesen," stellt Frau Tietjen rückblickend fest.
Ans Eingemachte geht es
Diese Neugier nimmt man der sympathischen Frau mit grau gelockten Haaren auch sofort ab. So verwundert es auch nicht, dass die Menschen mit den persönlichsten Fragen an Frau Tietjen herantreten. Die meisten Themen kreisen dabei um die Bereiche Liebe und Beruf. Treffe ich den richtigen Partner? Kann ich mich selbständig machen? Behalte ich meine Stelle? Am Wandel der Fragen und am Publikum erkennt die weise Frau vom Dom zudem, wie sich die Gesellschaft in den letzten 25 Jahren gewandelt hat. Drehten sich zu Beginn ihrer Karriere als Tarot-Legerin die Fragen vor allem um die Liebe, stehen heute in Zeiten von befristeten Arbeitsverträgen berufliche Fragen genauso im Fokus. "Früher kamen 99,9 Prozent Frauen zu mir, heute sind es ein Drittel Männer." Und sogar Familien suchten Rat bei ihr. "Seit Jahren kommt eine Familie mit Kindern. Zuerst war es nur der Vater, dann kamen auch die Kinder und die Frau, die erstmal nur zuhörten. Nun stellen auch die Kinder Fragen zu schulischen Problemen, Hobbys, Schwierigkeiten im Klassenverbund." Kinder seien oft viel klarer und strukturierter als Erwachsene in ihren Fragestellungen bescheinigt Frau Tietjen den kleinen DOM-Besuchern. Ein Mindestalter für ihre Sitzungen gebe es zwar nicht, aber sie sehe sich die Situation genau an und antworte altersgerecht.
Von der Flaschensammlerin bis zum Großindustriellen
Nicht nur auf dem DOM auch bei ihr zu Hause können Termine vereinbart werden. Frau Tietjen hat eine Praxis, in der sie ganzheitliche Beratungen anbietet, Seminare gibt, in Tarot ausbildet, Rückführungen, Klangmassagen und Räucherrituale durchführt. Das Reizvolle am DOM sei aber, dass die Klientel nicht einschätzbar sei. "Von der Flaschensammlerin bis zum Großindustriellen habe ich hier die gesamte Bandbreite der Gesellschaft. Das macht die Sache so spannend für mich. Das ist für mich jedes Mal wieder ein Lernen." An aufregenden Geschichten mangelt es Frau Tietjen denn auch nicht. Vor einigen Jahren sei ein junger Mann in ihren Wagen gekommen und habe eine Pistole auf den Tisch gelegt. Er war auf dem Weg in den Knast. "Wir haben uns dann die Karten angesehen und festgestellt, dass er bald richtig lange abwandert, wenn er nichts tut. Nach ein paar Jahren kam er wieder zu mir und erzählte, dass er im Gefängnis die Schule nachgeholt hat und eine Ausbildung beendet hat."
Vielschichtigkeit des Tarot
Warum Frau Tietjen so vom Tarot fasziniert ist? Wegen der Vielschichtigkeit, man könne alle Aspekte, die das Leben bietet, einbinden. Über die Bilder, Figuren, Haltungen, Farben und Zahlen auf den Karten und dem, was eine Person darin sieht, entsteht für Frau Tietjen ein kompaktes Bild. Da jeder etwas anderes sieht, ist die Deutung der Karten bei jedem Menschen anders. Während Frau Tietjen von Farbenlehre, Gefühlswelten und Numerologie spricht, sind die Anwesenden gleichsam von der Kunst des Kartendeutens und von der vertrauenswürdigen, in sich ruhenden Frau beeindruckt, die an der Wagentür mit dem Satz wirbt "Tarot-Karten sind das Spiegelbild unserer Seele. Sie öffnen uns Türen für die Zukunft." Und da klopft es schon an der Tür.