- Eine neue Gruppierung unter dem Namen „Muslim Interaktiv“ macht seit einiger Zeit auf sich aufmerksam. Die Gruppierung präsentiert sich auf Facebook, Instagram und YouTube. Auf Instagram erreicht sie aktuell knapp 4.000 Abonnenten, der Unterstützerkreis bei den medial inszenierten Aktionen vor Ort liegt derzeit bei rund 100 Personen. Zielgruppe von Muslim Interaktiv sind vornehmlich junge Muslime, die in Deutschland leben.
- Die Organisatoren und Unterstützer der Aktionen kommen nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes aus Hamburg. Die professionell gestalteten und provokativen Videos werden zumeist vor Hamburger Kulisse inszeniert. Der Aktionsbereich lag aktuell auch in Berlin.
- Die Themen sowie der von der Gruppierung verwendete Sprachgebrauch wie „Zwangsassimilation“, „Diffamierung des Islam“, „Dämonisierung von Muslimen“ und „Wertediktatur“ weisen deutliche Parallelen zu den bereits bekannten informellen Netzwerken Generation Islam (GI) und Realität Islam (RI) auf. Beide Netzwerke sind dem ideologischen Umfeld der – in Deutschland seit 2003 unter einem Betätigungsverbot stehenden – HuT zuzurechnen.
- In den veröffentlichten Posts greift Muslim Interaktiv aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen auf, um diese für sich zu instrumentalisieren. So werden die Reaktionen auf die Anschläge in Wien und Frankreich genutzt, um Muslime öffentlich als angebliche Opfer staatlicher Repression darzustellen und die vermeintlich vorherrschende, generelle Islamfeindlichkeit in der westlichen Welt zu betonen. Die Gruppierung instrumentalisiert auch die Corona-Pandemie oder das Thema Kindesmissbrauch als Beispiele für das vorgebliche Versagen des von Menschen gemachten Systems.
Protestaktion vor österreichischer Botschaft in Berlin
Am 20. November 2020 protestierte Muslim Interaktiv vor der österreichischen Botschaft Screenshot aus einem YouTube-Video der Gruppierung "Muslim Interaktiv" während einer Protestaktion vor der Botschaft Österreichs in Berlin.
Bild: © Screenshot (vom 03.12.2020) LfV HH; Quelle: YouTube Kanal "Muslim Interaktiv" vom 29.11.2020 in Berlin. An der Aktion unter dem Tenor „Rassismus und Diskriminierung in Österreich“ beteiligten sich etwa 100 Personen. Sie trugen einheitliche Masken mit dem Aufdruck „Muslim Interaktiv“. Im hierzu veröffentlichten YouTube-Video vom 29. November 2020 vergleicht die Gruppierung die vom österreichischen Kanzler Sebastian Kurz beabsichtigte Einführung des Tatbestandes „Politischer Islam“ mit den Zuständen in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus: „Im Jahr 2020 geht es nicht um die Marginalisierung von Juden, sondern der islamischen Glaubensgemeinschaft Österreichs“. Bei der Protestaktion selbst setzte Muslim Interaktiv Plakate und von den Teilnehmern ausgerufene Sprechchöre wie „Nein zur Merkeldiktatur“, „Muslime schweigen nicht“ und „Wehret den Anfängen“ ein, um ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen.
Aktion vor der französischen Botschaft
Größere mediale Aufmerksamkeit erlangte die martialisch auftretende Hamburger Gruppierung durch eine Protestaktion vor der französischen Botschaft in Berlin am 30. Oktober 2020. Anlass der Aktion waren die islamfeindlich motivierten Angriffe auf zwei muslimische Frauen in Paris am 18. Oktober 2020. Auch in diesem Fall nutzte die Gruppe das Ereignis in Paris nicht für den Akt des Gedenkens, sondern um ihren gegenüber dem französischen Staat herrschenden Unmut kundzutun. „Nicht der Islam, sondern Frankreich steckt in der Krise!“, so heißt es auf dem Banner, das einige Screenshot aus einem YouTube-Video der Gruppierung "Muslim Interaktiv" vom 03.11.2020 während einer Aktion vor der französischen Botschaft in Berlin.
Bild: © Screenshot (vom 03.12.2020) LfV HH; Quelle: YouTube Kanal "Muslim Interaktiv" Gruppenmitglieder vor der Botschaft hielten. Die Bilder der Aktion streute Muslim Interaktiv unter anderem in einem Video, das sie am 3. November 2020 bei YouTube online stellten. An derselben Stelle versammelten sich einen Tag zuvor rund 150 Menschen zu Ehren der Opfer der Messerattacke in Nizza. Vor und während dieser Protestaktion an der Botschaft traten die Teilnehmer in militärisch anmutender Formation am Brandenburger Tor zusammen und hielten versetzt Plakate hoch, die auf verschiedene Missstände in der französischen Geschichte sowie Politik hindeuten sollten („Völkermord Algerien“, „Ausbeutung Mali“ etc.). Dabei trugen alle Beteiligten identische schwarze Kapuzenpullover mit dem Logo der Gruppierung auf der Rückseite. Bilder hiervon postete Muslim Interaktiv am 3. November 2020 bei Instagram.
Screenshot des Instagram-Auftritts der Gruppierung "Muslim Interaktiv", der eine Aktion auf dem Pariser Platz in Berlin gegen das französische Staatsoberhaupt zeigt.
Bild: © Screenshot (vom 03.12.2020) LfV HH; Quelle: Instagram Kanal "musliminteraktiv" vom 03.11.2020
Autokorso in der Hamburger Innenstadt
Die Gruppierung Muslim Interaktiv geriet bereits kurz nach ihrer Gründung mit einem groß angelegten Autokorso in der Hamburger Innenstadt am 7. März 2020 in den Fokus der Hamburger Sicherheitsbehörden. Der Verkehr wurde zeitweise lahmgelegt. Ein Video der Aktion, bei der auch der Einsatz der Hamburger Polizei gezeigt wurde, verbreitete Muslim Interaktiv kurze Zeit später über die Video-Plattform YouTube. Ziel des – durch die Hamburger Innenstadt geführten – Autokorsos war es, der Screenshot aus einem YouTube-Video der Gruppierung "Muslim Interaktiv" zu einem im März 2020 in Hamburg durchgeführten Autokorso. Hier zeigt die Gruppierung auch die Konfrontation mit der Hamburger Polizei.
Bild: © Screenshot (vom 03.12.2020) LfV HH; Quelle: YouTube Kanal "Muslim Interaktiv" vom 15.03.2020 muslimischen Opfer des rechtsextremistischen Anschlags in der hessischen Stadt Hanau am 19. Februar 2020 zu gedenken. Am Ende richtete sich die Aktion jedoch mehr gegen die vermeintlich von Politikern verursachte „Hetze“ innerhalb der Gesellschaft gegen Muslime.
Provokative Aktionen dieser Art generieren eine enorme Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in den sozialen Netzwerken. Sie erhöhen die Reichweite der Gruppierung insbesondere bei der jüngeren Generation der muslimischen Community. Bei solchen Aktionen und Kampagnen ist nicht die Thematisierung gesellschaftlicher Missstände oder der Einsatz der Betroffenen für bestimmte Bevölkerungsgruppen problematisch, sondern die Zweckentfremdung bedeutsamer Themen unter Verschleierung der tatsächlichen Absichten.
Hintergrund-Informationen:
Generation Islam (GI) und Realität Islam (RI)
Die Verantwortlichen von GI und RI gehen in ihren Posts und veröffentlichten Videos auf aktuelle, gesellschaftlich relevante Themen ein und instrumentalisieren diese zur Darstellung einer vermeintlich fortwährenden Ablehnungshaltung der Politik und Gesellschaft in Deutschland gegenüber der gesamten muslimischen Community. Einer vergleichbaren Methodik bedient sich auch Muslim Interaktiv und versucht auf diesem Wege neue Abonnenten und Follower zu generieren, um ihre mediale Reichweite weiter auszubauen. Informelle Netzwerke dieser Art erweisen sich für die HuT als zweckdienlich, wenn es um die Gewinnung neuer Anhänger im Sinne ihrer Ideologie geht. Die Instrumentalisierung gesellschaftlich bedeutender Themen, um Kontakte zu nicht extremistischen Gruppierungen zu knüpfen, Bündnisse zu schließen und die Grenze zu demokratischem Engagement aufzulösen, wird im Verfassungsschutzverbund als „Entgrenzung“ bezeichnet.
Hizb ut-Tahrir (HuT)
Gemäß der Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Innern vom 15. Januar 2003 richtet sich die Organisation gegen den Gedanken der Völkerverständigung und befürwortet Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Sie verbreite unter anderem antisemitische Hetzpropaganda und fordere zur Tötung von Juden auf. Das Betätigungsverbot wurde durch das Bundesverwaltungsgericht am 25. Januar 2006 bestätigt, nachdem die Gruppierung gegen das Bundesinnenministerium geklagt hatte. Auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGMR) scheiterte die HuT am 19. Januar 2012 mit ihrer Klage gegen das Betätigungsverbot in Deutschland.
In Hamburg werden der Hizb ut-Tahrir (HuT) rund 300 Anhänger zugerechnet (2019: 250; 2018: 220). Gründe des Anstiegs sind der weitere Zulauf in die Szene sowie die konsequente Aufhellung des Dunkelfeldes durch den Verfassungsschutz. Dem islamistischen Spektrum in Hamburg werden insgesamt 1.660 Personen zugerechnet. Bei der HuT handelt sich um eine länderübergreifend aktive transnationale islamistische Organisation, die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Sie ist eine politische Bewegung, die den von ihr behaupteten Absolutheitsanspruch der Religion mit einem entsprechenden politischen Modell, einem weltweiten Kalifat, verbindet und jede hiervon abweichende „ungläubige Staatsform“ zurückweist. In der Konsequenz sieht die HuT die vollständige Einführung der Scharia als unumgänglich an. Ziel der HuT ist die „Vereinigung der weltweiten Ummah“ (Gemeinschaft der Muslime) in einem theokratischen, allein göttlich legitimierten, Staat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines Kalifen.
Der Verfassungsschutz ist durch die ihm gesetzlich zugeschriebene Informations- und Frühwarnfunktion verpflichtet auf extremistische Tendenzen von Gruppierungen wie Muslim Interaktiv aufmerksam zu machen und die Öffentlichkeit vor ihnen zu warnen.
Siehe auch…
- Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg: Verfassungsschutzbericht 2019, S. 55 ff.
- www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/11984240/hamburger-verfassungsschutz-informiert-hizb-ut-tahrir/
- www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/12393536/hamburger-verfassungsschutz-adil-ev-hut/
- www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/11944902/realitaet-islam-hut/
- www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/11946154/realitaet-islam-hut-update/