Vielfalt, Nischen und Underground
Ein besonderes Merkmal der Schanzenbewohner ist ihre Liebe zu Kultur und Konzerten. An Orten wie dem Haus 73 oder dem Kleinen Donner finden fast jeden Abend Konzerte, Lesungen, Poetry- oder Science-Slams statt. Und Platz für Live-Musik findet sich in Hamburgs kleinstem Stadtteil in jeder Bar. Das kleine Programmkino Kino 3001 zeigt ausgewählte Filme und kleinere Produktionen. Streng genommen gehört das MUT!-Theater zwar schon in das angrenzende Eimsbüttel – die Macher dieses multikulturellen Spielorts sehen sich aber selbst der Schanze zugehörig.
Das Leben findet draußen statt
Ein bisschen Hippie-Flair versprüht der Schanzenpark. Im Sommer picknicken und grillen hier Studenten mit Blumenkränzen im Haar und Blümchen-Muster auf den Kleidern, junge Eltern lassen ihren Nachwuchs im Gras krabbeln, Familien treffen sich zum gemütlichen Speisen im Grünen und mittendrin wird Fußball, Badminton und Frisbee gespielt.
Wer am Schanzenpark vorbeiradelt und gestreiften bunten Stoff durch die Büsche sieht, hat das Zirkuszelt gefunden. Fünf Wochen lang finden an diesem besonderen Ort Konzerte, Lesungen, Theaterinszenierungen und ein umfangreiches Kinderprogramm statt.
Wenn es dunkel wird, öffnet in den Sommermonaten das Schanzenkino: Auf einer riesigen Leinwand unten am Hang werden fast jeden Abend aktuelle Kinofilme, Sport-Dokumentationen und Filmklassiker gezeigt. Das Publikum macht sich auf Sitzsäcken, Decken und Kissen bequem, es werden Snacks mitgebracht, Bierchen und Wein getrunken.
Vintage-Wunderkiste: die Flohschanze
Seit dem 15. April 2000 findet über alle Jahreszeiten hinweg und auch zu bitterster Kälte der Schanzenflohmarkt rund um die Alte Rinderschlachthalle statt. Geografisch gesehen liegt zwar nur der kleinste Teil dieses beliebten Flohmarktes tatsächlich im Stadtteil Sternschanze, allerdings war der Flohmarkt schon vor den neuen Stadteilgrenzen von 2008 gegenüber der Haltestelle Feldstraße postiert und gehört für die meisten Hamburger einfach in den namensgebenden Stadtteil und weniger nach St. Pauli.
Hamburger und Touristen stöbern hier nach altem Silberbesteck, Bilderrahmen, Schallplatten, Möbeln, Fahrrädern, Ledertaschen und Klamotten-Schnäppchen. Cafés, Restaurants und Kaffee- oder Foodtrucks bieten Getränke und Stärkungen für zwischendurch an. Sobald das Wetter besser wird, spielen diverse Straßenmusiker und ihre Musik legt sich wie ein bunter Teppich unter die lauten Rufe der feilschenden Händler und Schnäppchenjäger.
Den Sommer feiern – Straßenfeste
Sommer ist Festival-Zeit und obwohl die Sternschanze ein so kleines Stadtviertel ist, finden hier zahlreiche Straßenfeste statt. Natürlich geht es ganz der ursprünglichen Atmosphäre der Schanze entsprechend, sehr alternativ zu. Das Augustenpassagenfest ist ein kleines Straßenfest der Anwohner mit Flohmarkt, feinem Essen und Trinken, Live-Musik und einer Party, die bis zum nächsten Morgen dauert. Und wie es sich gehört, räumen alle am nächsten Tag zusammen wieder auf.
Freunde von Food-Festivals und Co kommen in den Schanzenhöfen auf ihre Kosten. Zwar liegen auch diese geografisch schon in St. Pauli, die gefühlte Stadtteilgrenze ist aber eine andere. Mit Ratsherren befindet sich hier nicht nur eine eigene Brauerei, mit dem Ratsherren Store gibt es auch einen Fachladen und einmal im Jahr findet an der Lagerstraße das Hamburg Beer Festival statt. Wer es statt kühl und hell lieber dunkel und heiß mag, ist in der Kaffeerösterei Elbgold gut aufgehoben. Hier werden die Kaffeebohnen traditionell von Hand veredelt, nachhaltiger Anbau und fairer Handel sind dabei eine Grundvoraussetzung.
Genießer-Viertel
Ein typischer Samstag beginnt für viele Hamburger mit einem Frühstück in der Schanze – und endet mit einem Bierchen in selbiger. Hier befinden sich viele Restaurants, Cafés, Bars und Kioske. Von Cupcake, portugiesischen Pastéis de Nata, Matcha-Eis bis Döner, Fischbrötchen, Käsespezialitäten oder Pho-Suppe – hier wird jeder satt. Tagsüber treffen sich viele Familien zum Klönschnack, abends übernimmt das Partyvolk die Straßen. In den Bars und auf den Bänken davor werden Cocktails und Bier getrunken und die Straßenmusiker machen sich gegenseitig Konkurrenz. Besonders in lauen Sommernächten zieht es viele Schanzenbewohner an einen Ort, der sehr nach New York klingt und sich geografisch schon im Stadtteil Altona-Nord befindet: Im Beachclub Central Park werden die Füße im Sand vergraben, ein Lagerfeuer brennt knisternd vor sich hin und wenn das zu späterer Stunde nicht mehr ausreicht, werden wärmende Fleecedecken verteilt.
Eigensinnige Bewohner
Die Sternschanze ist immer noch Startpunkt vieler Demonstrationen und auch nicht jedes Geschäft oder Boutique werden toleriert. Am ersten Mai jeden Jahres endet die traditionelle Demonstration zum Tag der Arbeit in der Sternschanze – und leider auch häufig mit eingeworfenen Schaufenstern, brennenden Autos und Wasserwerfer-Einsätzen der Polizei.
Vandalismus der anderen Art sind die vielen Graffitis, die die Häuserwände des Schanzenviertels zieren. Diese Schriftzüge sind häufig das Sprachrohr für Gesellschaftskritik – und werden von den Sprayern als Kunstform verteidigt.
Ein Monument stetigen Protests – die Rote Flora
Das wuchtige freistehende Gebäude, über und über von Plakaten und Graffitis bedeckt, mit Obdachlosen auf den Treppen und einem zwielichtigen Ruf: das ist die Rote Flora. Über Hamburgs Grenzen hinaus steht die Flora für linksradikalen Widerstand und gilt als Zentrum der Autonomen. Doch das Gebäude hat auch ganz andere Dinge erlebt.
1888 wurde das Gesellschafts- und Concerthaus Flora errichtet, in dem sich Gesellschaftsräume und ein Konzertsaal, Wiener Café und Wintergarten und sogar in den oberen Etagen Privatwohnungen befanden. In dem Garten lustwandelten die Besucher, wie man Spazierengehen damals bezeichnete. In den nächsten Jahren wurden weitere Gebäude in der Juliusstraße angeschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es finanziell bergab und Teile der Flora wurden verkauft und vermietet. Das hintere Ballhaus wurde vor dem Zweiten Weltkrieg erst zu einer Garagenhalle und später zu einem Bunker umgebaut. Bis 1943 fanden sogar noch Theatervorstellungen statt, dann konnten ausgebombte Hamburger ihre Möbel dort sicher unterstellen. Nach dem Krieg zogen ein Kino und der 1.000 Töpfe-Laden in das Gebäude. 1987/88 sollte die Flora einem Musicaltheater weichen. Die Anwohner protestierten und das Ergebnis ist das Musicaltheater Neue Flora an der Holstenstraße – anstatt in der Roten Flora. Seit 1989 gilt das Haus als besetzt, im Jahr 2000 kaufte es der Hamburger Klausmartin Kretschmer. Eine „Veränderungssperre“ der Stadt sicherte, dass der Immobilienkaufmann das Haus nicht umbauen ließ. Daraufhin folgten jahrelange Auseinandersetzungen und gegenseitige Androhungen zwischen dem Besitzer und Besetzern. Ende 2014 wurde die Flora schließlich von der Stadt zurückgekauft und seit 2015 von ehrenamtlichen Helfern renoviert.
Die Geschichte und Neugründung der Sternschanze
Seit etwa 1700 trägt das Schulterblatt in der Sternschanze seinen Namen. Auf der Straßenecke befand sich ein Restaurant, dessen Wirt ein bemaltes Wal-Schulterblatt vor die Tür gehängt hatte. In dem Lokal verkehrten hauptsächlich Seemänner, aber die Anwohner begannen, die ganze Straße nach diesem ‚Schulterblatt’ zu bezeichnen.
Auch der Name „Sternschanze“ ist wörtlich zu nehmen: Der Name leitet sich von einer dort 1682 erbauten sternförmigen Verteidigungsanlage ab, die sogar die dänische Belagerung scheitern ließ. Ab dem 19. Jahrhundert wurden anstelle der Befestigung Wohnungen gebaut und ein kleinbürgerliches Gebiet entwickelte sich. Sogar der Tierpark Hagenbeck befand sich anfangs hier, bis der Tierhändler Carl Hagenbeck aus Platzgründen nach Stellingen umzog. Ab den 1970er-Jahren entwickelte sich durch den Zuzug von Studenten und Künstlern ein linkes und alternatives Viertel, das immer noch von diesem Ruf zehrt. Eine zwischenzeitlich aktive Drogenszene konnte diesem Ruf nicht weiter schaden, auch weil ab den 2000er-Jahren viele kleine Firmen und Startups in das Viertel zogen. Erst seit 2008 ist die Sternschanze ein eigenständiger Stadtteil und somit genauso jung wie die HafenCity. Bis in dieses Jahr gehörte das Viertel zu den Bezirken Altona, Mitte und Eimsbüttel. Heute umfasst der kleine Stadtteil eine Fläche von gerade einmal 0,6 Quadratkilometern und gehört zum Bezirk Altona.
Einmal quer durchs Viertel geht die Susannenstraße, vermutlich benannt nach der Tochter des Grundeigner Clas Julius Bieber. Die kreuzende Bartelsstraße trägt den Namen des ehemaligen Hamburger Senator und Bürgermeisters Dr. Heinrich Bartels (1761-1850).
Gentrification live
In den letzten Jahren wurden viele der schönen Altbauwohnungen in der Sternschanze renoviert und saniert – steigende Mietpreise und die Verdrängung der alten Viertelbewohner waren die Folge. Der Mietraum ist nicht nur bei Wohnungen knapp, auch die spärlichen Gewerbeflächen sind heiß begehrt. Teilweise stiegen die Mieten hier um 60 Prozent pro Jahr und auf die schließenden kleinen Läden folgten Supermärkte oder größere Ketten. Doch gegenüber von strahlend weißen Hausfassaden befinden sich immer noch Graffiti-übersäte Wände, von denen der Putz bröckelt. Und auf der Straße vor den teuren Läden spielen Straßenmusiker und das Publikum sitzt auf dem Bordstein. In der Hand ein Kiosk-Bier und eine bunte Tüte mit Lakritze und Gummibärchen.