Echtes Leben
Wilhelmsburg ist ein junger Stadtteil. Ein Viertel der Bewohner ist unter 25 Jahre alt. Mit schönen Gründerzeithäusern, netten Lokalen, seinem Inselflair und der einzigartigen Natur zieht Wilhelmsburg immer mehr Zuzügler an.
Doch gentrifizieren lässt sich die größte Flussinsel Deutschlands wohl auch in Zukunft nicht – zu nah gelegen sind der Hafen, der schmutzige Luft und Lärm mit sich bringt und die Raffinerie, aus dessen Schornsteinen es manchmal ordentlich stinkt. Vielen Bewohnern ist es ganz recht, dass Wilhelmsburg nicht so schick, dafür aber multikulturell und lebendig ist.
Auch ungewöhnlich ist, dass Wilhelmsburg als Stadtteil kein Zentrum hat. Das Rathaus wurde 1903 mit dem Ziel gebaut, eine neue Stadtteil-Mitte zu gründen – aber das geplante Wohnviertel um das Rathaus herum wurde nie Realität. Heute wird das Rathaus als Ortsamt genutzt.
Mit der Fähre nach Wilhelmsburg
Werktags verkehrt die Fähre 73 zwischen Landungsbrücken und der Ernst-August Schleuse. Bei der 12-minütigen Passage geht es hinein in den Reiherstieg, an dessen Ufern sich altes Hafengelände erstreckt. Hinter grasbewachsenen Ziegel-Kaimauern liegen in die Jahre gekommene Hafen- und Werftgebäude aus dunkelrotem Backstein – eine Filmkulisse! Wer mit der S-Bahn nach Wilhelmsburg kommt, hat es nicht weit zu einer weiteren Wilhelmsburger Besonderheit: der Windmühle Johanna. Die heutige Windmühle ist seit 1875 praktisch unverändert, auch wenn sie über die Jahrzehnte hinweg unter anderem durch Bombenangriffe, Stürme und Verwahrlosung einiges ertragen musste. Inzwischen kümmert sich ein Mühlenverein um den Erhalt des historischen Gebäudes und verwandelte die Windmühle in ein Museum mit Café und einen beliebten Ort für Hochzeiten. Nur ein paar Straßen weiter befindet sich das ehrenamtlich betriebene Museum Elbinsel Wilhelmsburg. In dem Amtshaus von 1724 finden sich allerlei Informationen zur Eindeichungsgeschichte ab dem 14. Jahrhundert, über die von den Welfen geprägte Barockzeit bis hin zum Umbruch von der bäuerlichen Kultur zum Hafen- und Industriegebiet.
Reiherstieg-Viertel und Veringkanal
An der Schleuse können Sie durch das beliebte Reiherstieg-Viertel an stuckverzierten Gründerzeithäusern vorbei spazieren und bis zum Stübenplatz laufen. Auf diesem Wilhelmsburger Hotspot findet zweimal wöchentlich ein Wochenmarkt statt. Um das Leben und Treiben auf dem Platz zu beobachten, lohnt es sich, zum Beispiel im gemütlichen Café Flutlicht eine Pause einzulegen. Nicht weit davon am Veringkanal liegt das Kulturzentrum Honigfabrik, das seit Jahrzehnten engagierte Jugend- und Kulturarbeit leistet. Entlang des Kanals finden sich außerdem das Atelierhaus23, das seit Herbst 2013 eine aktive Künstlercommunity beherbergt, das Kreativzentrum Wilhelmsburger Zinnwerke, auf dessen Gelände auch der beliebte FlohZinn-Flohmarkt stattfindet, sowie die ehemalige Soul Kitchen, die Drehort des gleichnamigen Films von Fatih Akin war.
Chillen am Spreehafen
Wer lieber am Wasser läuft, kann alternativ von der Ernst-August Schleuse am Spreehafen weiterwandern. Bei schönem Wetter tummeln sich Jogger, Skater und Spaziergänger auf dem grünen Deich. Grüppchen junger Leute haben sich auf dem saftig grünen Rasen niedergelassen und machen es sich mit einem Kasten Bier gemütlich. Jemand stimmt eine Gitarre an, aus der Entfernung blöken Schafe. Der Blick fällt auf kleine Frachter im Spreehafen und fest vertäute Hausboote am Ufer. Am Horizont ist die Innenstadt-Silhouette mit den Kirchtürmen und der Elbphilharmonie deutlich zu erkennen – eine ungewöhnliche Perspektive. Kurz vor Deichende, nahe der S-Bahnhaltestelle Veddel, kommt uns ein Schäfer mit einer Herde Schafe entgegen, die sich gemächlich vorwärts bewegt.
Nach über 100 Jahren freie Sicht
Von 1903 bis 2013 gehörte der Spreehafen zum Zollhafengelände und war nicht für die Öffentlichkeit freigegeben. Der Deich war durch einen meterhohen Zaun, genannt „Eiserner Vorhang“, abgetrennt. Verständlich, dass die Anwohner jetzt den großartigen Blick auf die Stadt und aufs Hafengelände genießen.
Unterwegs mit der Wilden 13
Für Bewegungsmuffel: Von der Haltestelle Veddel aus lässt sich Wilhelmsburg bequem mit dem Bus erkunden. Der legendäre Bus 13, genannt „Wilde 13“, düst durch ganz Wilhelmsburg und hält unter anderem am Energiebunker. Dieser riesige Flakbunker aus dem Zweiten Weltkrieg hat sich von einem funktionslosen Betonmonster in ein ökologisches Wärmewunder verwandelt. Als Kraftwerk versorgt er jetzt die Umgebung mit klimafreundlicher Wärme. Oben auf seinem Dach lädt das Café vju zu Kaffee und Kuchen oder abendlichen Events. Lohnt sich, denn die Aussicht aus 30 Meter Höhe ist spektakulär! Bei der Bustour kommen Sie auch an der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt vorbei, deren Fassade mit farblich abgesetzten Streifen und wellenförmigen Außenwänden beeindruckt.
Durch den Elbtunnel
Tipp für Radfahrer: Fahren Sie durch den Alten Elbtunnel. Nach etwa zwei Kilometern durchs Industriegebiet und über die Argentinienbrücke erreicht man Wilhelmsburg. Hier kann man auf dem „“ weiterradeln, dem 6,5 Kilometer langen Weg, der die Haltestellen Veddel und Wilhelmsburg miteinander verbindet.
Wilhelmsburg erfindet sich neu
In die Aufwertung Wilhelmsburgs investierte die Stadt mehr Geld als in jeden anderen Stadtteil. Seit 2007 werden günstige kleine Wohnungen an junge Studierende vermietet. Gemeinsam mit Mietern wurden bereits Sanierungsmodelle für ganze Wohnviertel erarbeitet. Man renovierte Häuser und Straßenzüge und legte neue Wander- und Fahrradwege an. Die Schulen auf der Elbinsel erhielten zusätzliches Budget, um allen Kindern eine Perspektive zu geben. Und das Wachstum geht weiter: In den nächsten Jahren sollen mindestens 5.200 neue Wohnungen im Elbinselquartier, im Spreehafenviertel und am Haulander Weg entstehen. Außerdem wird weiter in Kitas, Schulen und Sportzentren investiert, um vornehmlich junge Familien in den Stadtteil zu locken.
Auch der schon von weitem gut sichtbare Wasserturm ist nicht nur ein beliebtes Fotomotiv, sondern auch ein gutes Beispiel für eine sinnvolle Umnutzung: 1911 wurde der Turm fertiggestellt um dem Viertel sauberes Trinkwasser zu liefern. Doch schon im zweiten Weltkrieg entstanden Notwohnungen in dem Turm. Seit 1991 gehört das denkmalgeschützte Gebäude dem angrenzenden Krankenhaus, das die schon bestehenden Wohnungen in dem Turm sanierte und jetzt Mitarbeitern zur Verfügung stellt.
Die große Flut
Mit der Internationalen Bauausstellung 2013 in Wilhelmsburg verband Hamburg die Vision vom „Sprung über die Elbe“. Wilhelmsburg sollte endgültig sein Schmuddel-Image ablegen, das ihm seit den 70er Jahren anhaftete, als nach der verheerenden Sturmflut 1962 ganze Straßenzüge und Industrieanlagen zerstört wurden. Alteingesessene Wilhelmsburger verließen damals den Stadtteil. Gleichzeitig begann eine Abwärtsspirale, weil moderne Krananlagen und die Containertechnik die Arbeit vieler Hafenarbeiter überflüssig machten. So breitete sich hier bereits in den 70er Jahren die Arbeitslosigkeit aus.
Woodcube, Hochseilgarten und Inselpark
Den Anschub durch die Internationale Bauausstellung sehen die Wilhelmsburger durchweg positiv, denn sie haben profitiert. Das ehemalige Gartenschau-Gelände lädt jetzt als „Inselpark“ zu Spaziergängen, zum Grillen und Spielen ein. Sportliebhaber freuen sich über die Nordwandhalle und das neue Schwimmbad. Extra für Familien errichtete man bezahlbare Ökohäuser wie den Woodcube, ein Mehrfamilienhaus aus naturbelassenen Hölzern, das ohne Holzschutzmittel, Plastik und Fremdstoffe auskommt.
Urwald Heuckenlock
Wenn Sie sich südwärts halten, erreichen Sie das Heuckenlock-Naturschutzgebiet, eine der wenigen Süßwasserwattzonen in Europa, die bei Flut überspült werden. In diesem Wald-, Wiesen- und Sumpfgebiet gedeihen der Schierlingswasserfenchel und die Schachbrettblume. Beide Pflanzen sind Indikatoren dafür, dass das Süßwasser-Watt noch gänzlich intakt ist. Es lohnt sich, den Deichweg zu verlassen und den „Urwald“ zu betreten. Das Heuckenlock (der Priel der Familie Heucken) ist das artenreichste Naturschutzgebiet Hamburgs. Nahe an der Elbe graben sich schmale, schilfbewachsene Priele ins Land. Mit Glück begegnen Sie hier einem Seeadler.
Bunthäuser Spitze
Im Südosten Wilhelmsburgs erstreckt sich das 222 Hektar große Naturschutzgebiet Auenlandschaft Obere Tideelbe von der Bunthäuser Spitze bis zur Brücke der Autobahn A1. An der Bunthausspitze teilen sich Norder- und Süderelbe. Der pittoreske Leuchtturm und das Tideauen Zentrum Bunthausspitze (im Winter sonntags und im Sommer samstags und sonntags geöffnet) sind hier besonders sehenswert. Im kleinen Naturschutzgebiet Rhee im Osten der Insel fliegen seltene Vögel wie der Eisvogel umher.
Arbeiterhochburg und Athleten-Club
Bis 1850 lebten auf Wilhelmsburg vor allem Bauern und Schiffszimmerer. Ab 1870 siedelten sich insbesondere Chemie- und Ölindustrie an, die den Stadtteil bis heute prägen. Die Weizenmühle G. Plange steht seit 1895 auf der Elbinsel und produziert bis heute das bekannte Diamant-Mehl. Ende des 19. Jahrhunderts explodierte die Hafenwirtschaft und man benötigte Arbeitskräfte, für die neuer Wohnraum unter anderem im Reiherstieg-Viertel geschaffen wurde.
Die Arbeiterbewegung Wilhelmsburgs förderte mit Bildungsveranstaltungen und sozialem Wohnungsbau – zum Beispiel durch die Schiffszimmerer-Genossenschaft – die Stadtentwicklung. Sportvereine standen hoch im Kurs. Junge Arbeiter trainierten im „Athletenclub“ oder in einem der 15 weiteren Turnvereine auf der Insel.
Ausgehrevier Wilhelmsburg
Bis zum Zweiten Weltkrieg genoss Wilhelmsburg den Ruf eines Ausgehviertels. Die vielen Kneipen, Bars und Tanz-Clubs auf der Elbinsel lockten junge Leute aus ganz Hamburg an. Die Vision vom „Sprung über die Elbe“ war damals also Realität. Viele ausgehfreudige Hamburger überquerten die Elbe Richtung Süden, um auf dem Wilhelmsburger Kiez zu schwofen und Spaß zu haben.
*Quelle: Hamburger Stadtteilprofile, Statistikamt Nord (Stand: Jan 2019)