Politische Ideologie auf religiöser Basis
Im Rahmen des Beobachtungsauftrages der Verfassungsschutzbehörden umfasst Islamismus extremistische Bestrebungen auf religiöser Basis, die sich gegen die Werte- und Ordnungsvorstellungen der westlichen Staatengemeinschaft und damit gegen die in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes niedergelegten Werte, richtet. Ziel der Islamisten ist es, eine ausschließlich auf ihrer Vorstellung vom Islam basierende Gesellschafts- und Rechtsordnung zu errichten. Ihre Vertreter stellen die in der islamischen Tradition auch vorhandenen kriegerischen und expansiven Elemente auf Kosten anderer Strömungen in den Vordergrund. Islamisten behaupten, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Authentizität seien ausschließlich auf der Grundlage einer auf Koran und islamischem Recht (Scharia) beruhenden Gesellschaftsordnung möglich. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass ein Islam in idealisierter Reinform zu keiner Epoche der Geschichte existierte, die gelebte Religion vielmehr in stetigem Wechselspiel mit bestehenden Verhältnissen Wandlungen und Anpassungen vollzog. Von der eigenen Konstruktion eines "wahren Islams" im "Goldenen Zeitalter" der vier rechtgeleiteten Kalifen (632-661) verblendet, bekämpfen Islamisten abweichende Sichtweisen auch von Muslimen als unstatthafte Neuerungen (arab. bid’a) und Verlust des wahren Glaubens. Islamisten wenden sich damit gegen den für ein menschliches Zusammenleben in allen freiheitlichen Gesellschaften unentbehrlichen Pluralismus. Weiterhin sprechen Islamisten Muslimen in islamischen wie auch nichtislamischen Gesellschaften das Recht auf Selbstbestimmung ab und betonen den Vorrang kollektiver vor individuellen Menschenrechten. Dies verstößt gegen den Gedanken der Völkerverständigung und ist mit den Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung nicht vereinbar. Islamisten behaupten eine dem islamischen Gesellschaftsverständnis zu Grunde liegende Untrennbarkeit von Religion und Politik (Din wa Daula) und lehnen säkulare Vorstellungen als Sonderweg des christlichen Abendlandes und mit dem Islam angeblich unvereinbar ab. In Abgrenzung zu westlichen demokratischen Ordnungs- und Wertvorstellungen fordern sie eine Gottesherrschaft auf Erden (Gegensatz zur Volkssouveränität) als einzige dem Islam wahrhaft angemessene Regierungsform. Dabei kann von einer Einheitlichkeit der islamistischen Lehre und ihren Zielen – wie sowohl von Anhängern als auch Gegnern immer wieder behauptet wird – nicht die Rede sein. Vielmehr zeichnet sich auch das islamistische Lager durch eine Vielzahl ideologischer Zersplitterungen und persönlicher Rivalitäten und Animositäten aus. Das Spektrum islamistischer Bewegungen reicht dabei von Einzelpersonen, Kadergruppen und Massenorganisationen über regionale Befreiungsbewegungen bis hin zu internationalen Netzwerken.
Historische Ursachen
Trotz der aufgezeigten Unterschiede verbindet alle Islamisten der gemeinsame Wille nach einer Etablierung "des Islams" als politisches Gesellschaftsmodell in Konkurrenz zum säkularen Staat der westlichen Moderne.
Dabei ist auch der Islamismus nichts anderes als ein Produkt dieser Moderne selbst. Entstanden im späten 19. Jahrhundert als Antwort auf die koloniale Durchdringung Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens durch europäische Staaten, drückte sich in ihm das kulturelle Trauma und die Abwehrhaltung einer einstmals überlegenen Zivilisation aus. Ursprünglich eine Reformbewegung zum Ausgleich eines Fortschrittsgefälles auf wissenschaftlichem, technischem und militärischem Gebiet, forderte der Islamismus schon bald die Bewahrung kultureller Authentizität gegen als übermächtig empfundene fremde Einflüsse.
Dabei spielte Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieser Ziele zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Dies änderte sich erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders aber seit den 70er Jahren, als das Verständnis von islamischer Reform zunehmend mit der Auffassung von einem islamischen Aktivismus verknüpft wurde, der auch Militanz einschloss.
Die gewandelten politischen Bedingungen zum Ende der 70er Jahre – das Verschwinden politischer Legitimität in den post-unabhängigen arabischen Regimes – haben wesentlich zum Anwachsen und zur Popularität der islamistischen Bewegungen beigetragen. Das Fehlschlagen des pan-arabischen Nationalismus und arabischen Sozialismus, das nach der Niederlage der arabischen Staaten 1967 im Krieg mit Israel manifest wurde, hat den Prozess der Radikalisierung der islamistischen Gruppen ebenso beschleunigt wie die offensichtliche Unfähigkeit der arabischen Staaten, regionale (innerarabische) Konflikte wie den libanesischen Bürgerkrieg und den iranisch-irakischen Krieg zu lösen.
Hinzu kamen eine Reihe interner Niederlagen, vom explosionsartigen Bevölkerungswachstum über hohe Urbanisierungsraten, die nicht vom Wirtschaftswachstum aufgefangen werden konnten, bis hin zu Schwierigkeiten bei der Grundversorgung der Bevölkerung oder Beschäftigungsproblemen einer ständig breiter werdenden Schicht von jungen Arbeitern, Angestellten und Akademikern. Die Unzufriedenheit äußerte sich seit Ende der 70er Jahre zunehmend in öffentlichen Demonstrationen, Streiks und so genannten Brotunruhen (Ägypten 1977, Tunesien 1978, Jordanien 1988). Hauptanklagepunkte der Islamisten waren die unzureichende Anwendung der islamischen Gesetze und die wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit der Regimes vom Westen.
In diesem Spannungsfeld zeichnete sich seit Mitte der 70er Jahre in den islamischen Ländern eine wachsende Radikalisierung und steigende Akzeptanz von Gewalt als legitimem Mittel zur Durchsetzung des eigenen Religions- und Politikverständnisses ab, und schlug sich in den 80er und 90er Jahren in einer Zunahme terroristischer Aktivitäten nieder, die sich ausgehend von der Bekämpfung (lokaler) arabischer Regime (Interner Jihadismus) mittlerweile zu einer weltumfassenden Bedrohung mit klarer anti-westlicher Stoßrichtung ausgeweitet hat (Globaler Jihadismus).
Die zunehmende amerikanische militärische Präsenz auf der Arabischen Halbinsel, die im Zweiten Golfkrieg (1990/1) mit der Stationierung US-amerikanischer Truppen in Saudi Arabien ihren Höhepunkt erreichte, gilt dabei als Wendepunkt von einem unorganisierten "Widerstandskampf" hin zu organisierten terroristischen Anschlägen. Seit den 90er Jahren wurden US-Militäreinrichtungen auf der Arabischen Halbinsel mehrfach Ziel terroristischer Anschläge (Riad 1995, Khobar 1996, Aden 2000 etc.).