Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Tatsächlich haben Sie ja einen bemerkenswerten Zeitpunkt für Ihren 75. Geburtstag. Den Zeitpunkt seines Geburtstags kann man sich ja nicht aussuchen und manchmal hat man das Gefühl, dass man große Feste nur feiern kann, wenn es gerade ohnehin gut läuft. Und davon kann man, gesamtgesellschaftlich betrachtet, eher nicht sprechen, sondern wir erleben eher eine dicke Unterstreichung des Satzes, den Erich Fried vor mehr als 40 Jahren gesagt hat, als die Wettrüstungsdebatte so richtig tobte: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.“ Dieser Satz hat in den vergangenen vier Jahrzehnten an Dringlichkeit und Bedeutung eher noch gewonnen, als dass er nachgelassen hat, obwohl wir das 1989 vielleicht mal kurzzeitig anders gedacht haben.
Das Problem, das wir derzeit erleben, ist, dass wir im Gegensatz zu diesem programmatischen Satz von Erich Fried in der Mentalität des Landes eine ganz andere Stimmung feststellen. Wenn Sie sich beispielsweise folgende Zahl aus der Befragung „Jugend in Deutschland“ von Ende 2021 ansehen: Befragt wurden 14- bis 29-Jährige und 56 Prozent von ihnen haben gesagt, dass sie lieber in der Vergangenheit leben würden, denn da hätte es weniger Krisen und Kriege und mehr Sicherheit und Beständigkeit gegeben.
56 Prozent der jungen Leute haben gesagt: Lieber früher als morgen!
Und ehrlicherweise: Wer will es ihnen verdenken? Wir haben das öffentliche Leben des Landes radikal beschränkt, um die Ausbreitung eines Virus einzudämmen. Wir haben vor wenigen Wochen erleben dürfen, dass Technik anfängt, mit New York-Times-Redakteuren zu flirten und ihnen zu erklären, dass sie unglücklich verheiratet sind. Wir haben mitten in Europa einen Angriffskrieg in dem Russland versucht, in der Ukraine mit militärischer Gewalt und brutalen Mitteln Grenzen zu verschieben. Wir erleben, dass bereits im März in Frankreich und Italien Flüsse trockenfallen und jeden Tag sterben auf der Welt 150 Tierarten irreversibel aus. Und es gibt mittlerweile nicht Wenige in unserer Gesellschaft, die sich in endzeitlich-dystopischer Manier als „letzte Generation“ betrachten.
Das heißt, irgendetwas ist aus dem Lot. Und irgendwo ist uns momentan die Zuversicht abhandengekommen. Und ganz ehrlich, wenn ich mir so die Nachrichtenlage angucke, dann gibt es auch die Momente, in denen ich mir denke: Wäre es nicht schön, einfach wieder auf der Wiese hinter dem Mietshaus in Gelsenkirchen, in dem ich groß geworden bin, zu stehen? Auf der einen Seite der Bahndamm, auf der anderen Seite das Mietshaus, dann auf der anderen Seite eine Glasfabrik. Kein schöner Ort, aber irgendwie einer, an dem alles geordnet, überschaubar, bewältigbar schien. Und ein Ort, an dem ich gelernt habe, Freundinnen und Freunde zu finden und mit Menschen, die ich nicht mag, klar zu kommen. Dort habe ich ein paar grundlegende Regeln des Zusammenlebens begriffen.
Und natürlich denke ich darüber nach und frage mich: War es damals nicht irgendwie schöner? Aber wenn ich dann genauer darüber nachdenke und diese anfängliche emotionale Verklärung rational betrachte, desto mehr wird mir klar: So ganz friedlich-geordnet wie in meiner Erinnerung war es damals vermutlich in der Realität auch schon nicht. Warum waren wir eigentlich die, die wir da waren? Wer fehlte auf der Wiese? Was passierte da eigentlich um uns herum und was geriet da schon in den 1970ern und 1980ern im Ruhrgebiet ins Bröckeln? Insofern ist diese Vergangenheit ein falsches Versprechen und die Sehnsucht der Jüngeren nach mehr Sicherheit und Beständigkeit in der Vergangenheit ist es auch.
Aber wir müssen gesellschaftlich damit umgehen, dass junge Menschen dieser Ansicht sind. Dass Träume, von denen etwa die Generationen, die hier im Saal sitzen, noch so selbstverständlich ausgehen konnten, dass es realisierbare Träume sind, heute an vielen Stellen unerfüllbar erscheinen. Und seien es nur die kleinen Träume, die sich etwa in der Erzählung zusammenfassen lassen: „Ich finde einen sicheren Job, finde einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin, suche irgendwo einen Ort, an dem ich leben kann, gründe eine Familie und komme irgendwie klar.“ Das ist nicht mehr selbstverständlich. Damit müssen wir umgehen.
Und wir müssen uns als Gesellschaft auf den Weg machen, neue Träume anzubieten. Wir müssen in der Lage sein, von besseren und besser möglichen Zukünfte zu erzählen. Ich möchte jetzt nicht das tun, was wir momentan in gefühlt jeder zweiten politischen Rede hören: Der kräftige Appell, jetzt bitte endlich mal zuversichtlich zu sein. Ich kann das ehrlicherweise selbst nicht mehr hören. Dieser Ausdruck der im Grunde leeren Überzeugung, dass alles schon gut wird, wenn wir nur fest genug daran glauben.
Ich glaube hingegen, dass das nicht reicht. Ich glaube, dass diese Beschwörungen und Appelle an die Zuversicht von vielen Bürgerinnen und Bürgern im Lande als hohl wahrgenommen werden, weil sie wahrnehmen, dass da ein Zwischenschritt fehlt. Um diesen Schritt konkreter darzustellen und zu erklären, wie sich begründen lässt, dass es gut gehen kann, werden häufig Analogien aus Geschichten und Erzählungen unserer Gesellschaft benutzt.
Die wahrscheinlich am meisten bemühte Analogie ist von Michael Ende und betrifft einen der beiden besten Freunde des kleinen Mädchens Momo aus dem gleichnamigen Roman. Darin begegnet uns Beppo, der Straßenkehrer. Er ist ein älterer Herr, der jeden Tag eine lange Straße zu kehren hat. Momo fragt ihn: „Wie schaffst du das?“ Er sagt: „Ich gucke nicht hoch, ich fege einmal, atme aus und fege dann erneut. Und abends ist die Straße dann sauber.“ Oft wird diese Geschichte zitiert, um damit tatsächlich Zuversicht zu erzeugen. Das Problem ist aber: Wir wissen heute nicht mehr, wie der Straßenverlauf ist und wir wissen gar nicht, wo die Straße endet. Oder: Wir arbeiten den ganzen Tag durch und übersehen dabei, dass die Straße mittlerweile eine ganz andere Abbiegung genommen hat. Insofern reicht der Verweis auf Beppo Straßenkehrer allein nicht aus.
Es gibt eine Geschichte, die auch in „Momo“ auftaucht, aber viel seltener zitiert wird. Es ist jene von Fremdenführer Gigi, dem zweiten besten Freund Momos. Der empfängt ahnungslose Touristinnen und Touristinnen und erzählt denen die wildesten Geschichten davon, was in der Stadt, in der „Momo“ spielt, angeblich so alles Tolles passiert ist.
Wenn er konfrontiert wird von denen, die sagen „Aber hier in einem Reiseführer steht das doch gar nicht drin, das stimmt doch gar nicht“, dann antwortet er: „Aber wer sagt euch denn, dass die Geschichten in euren Reiseführern stimmen? Vielleicht stimmt ja auch meine Geschichte. Die ist doch sowieso viel schöner als eure Geschichten. Glaubt doch meine Geschichten und dann haben wir eine gute Zeit.“
Die Beispiele, wohin es politisch führt, wenn die Politik so erzählt, muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht detaillierter auseinandersetzen. Die Stichworte „Trump“ und „Brexit“ dürften reichen. Das faktenfreie Fabulieren ist also als Weg in eine gute Zukunft genau so wenig Erfolg versprechend wie einfaches Abarbeiten und auf den Boden direkt vor den eigenen Füßen blicken.
Es gibt mindestens einen weiteren empirischen Befund, der mich beunruhigt: In der PISA-Studie von 2018 sind 15-Jährige weltweit befragt worden, ob sie glauben, dass sie etwas an den Problemen der Welt ändern können und dass ihr konkretes Handeln einen Einfluss hat auf die Probleme der Welt. Im Schnitt haben 60 Prozent der 15-Jährigen in der Befragung gesagt: „Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich glaube, mein Handeln hat einen Impact.“ Portugal hatte die höchsten Werte in den OECD-Ländern, dort waren es 74 Prozent, in Taiwan, der höchste Wert insgesamt, über 80 Prozent und in Deutschland? 40,9 Prozent. Nur 40,9 Prozent der 15-Jährigen in diesem Land, sagen, dass sie glauben, etwas an den Problemen der Welt verändern zu können. Dieser Mangel an Zuversicht hat vielleicht auch etwas damit zu tun, wie wir die Probleme der Welt darstellen und welche Lösungsmöglichkeiten wir selbst vorstellen und vorleben.
Diese melancholische Mischung aus einerseits der Erfahrung von Vergeblichkeit und von überwölbenden Erzählungen schier unüberwindlicher Herausforderungen andererseits, ist ein Problem. Und mit diesem Problem müssen wir uns auseinandersetzen. Denn solange wir dieses Problem nicht lösen, müssen wir uns nicht wundern, dass viele sich zurückwünschen in die Zeit, in der Züge noch verlässlich fuhren, in der der Strom einfach ohne weitere Überlegungen aus der Steckdose kam, in der kaum jemand über das Klima sprach, sondern viele nur übers Wetter und dann auch darüber sangen, dass die SPD schuld daran wäre, wenn der Sommer ausbleibt. Das letzte ist eine Konstante, die bleibt, immer, auch unter heutigen Bedingungen…
Wie überwinden wir das? Wie schaffen wir eine Perspektive einzubringen, die einen Ausweg zeigt? Ich glaube, dass – und das ist jetzt natürlich die professionelle Deformation eines Kulturpolitikers – der Bereich der Kunst, nicht der Kultur im Allgemeinen, aber der Kunst im Speziellen, uns tatsächlich Auswege aufzeigt, weil die Kunst etwas kann, etwas, das wenige andere Bereiche können:
Sie kann Bilder, Erfahrungswelten und Geschichten von möglichen anderen Zuständen unserer Gesellschaft zeigen.
In den 1950er Jahren hat Max Frisch vor einer Tagung von Dramaturgen in Frankfurt gesprochen und ein sehr dystopisches Bild gezeichnet: Jemand hat den Intendanten vor sein Theater gesetzt, das Theater ist aber abgeschlossen und keiner in der Stadt weiß mehr, wofür dieser Bau hintern dem Intendanten genutzt wurde. Nur der Intendant weiß das noch. Was erzählt er den Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt, warum es diesen Ort der Kunst braucht? Und Frisch, in seinem mäandernden Suchen nach dem Visionären, nach dem Utopischen, kommt zum Schluss zu dem Hinweis, dass es sich um einen Ort handelt, der hochpolitisch sei und hoch sozial relevant. Nicht, weil er der Gesellschaft sage: So musst du handeln! Nicht, weil er eine inhaltliche Programmatik habe, sondern weil man im Theater (und das gilt für viele andere Künste auch) eine Wirklichkeit, die nicht ist, aber sein könnte, spielen kann. Und weil man in dem Imaginieren des anderen Zustandes, im Spiel des anderen Zustandes, erfährt, dass die Welt veränderbar ist, weil sie anders gedacht und anders gespielt werden kann als sie gerade ist.
Und so fällt die Zuversicht aus dem Andersdenken und Andersspielen in das Andersmachen, das man in die Realität mitnehmen kann. Und das ist eine viel, viel stärkere programmatische Wirkung und eine viel, viel stärkere politische Wirkung als plakative Appelle. Die Erfahrung der anderen Möglichkeiten tatsächlich in die Köpfe hineinzubringen, ist etwas was Kunst und Kultur originär auszeichnet.
Ein anderes Beispiel dafür lässt sich finden im wunderbaren Roman „Ein Garten im Norden“, den Michael Kleeberg Ende der 1990er Jahre veröffentlicht hat. In der Geschichte bekommt jemand in Prag nach dem Fall der Mauer ein leeres Buch in einem Antiquariat in die Hand gedrückt und gesagt: „Du kannst da eine Geschichte reinschreiben, und wenn du sie geschrieben hast, wird diese Geschichte in der Realität passiert sein.“ Und der Protagonist erfindet dann die Geschichte eines Bankiers im 19. Jahrhundert in Berlin, der einen Garten der Künste und der Intellektuellen schafft. Wenn Sie so wollen ist er also ein früher Stifter, der sich überlegt wie er den Reichtum und sein Vermögen tatsächlich in Engagement ummünzen kann.
Dazu schafft der Bankier den titelgebenden Garten, in dem dann Wagner Konzerte für zwei Gitarren zur Aufführung bringt und sich Heidegger in der Geschliffenheit seiner eleganten Sprache mit französischen Philosophen messen kann. Also eine durchaus utopische Realität des Geisteslebens des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Und diese Geschichte nähert sich immer mehr der Frage: Kann man den Nationalsozialismus weg-imaginieren, sozusagen wegschreiben? Ist es möglich, die Geschichte durch die eigene Vorstellung soweit zu verändern, dass er nicht stattfindet?
Ich verrate Ihnen jetzt nicht, wie es ausgeht. Nur so viel: Den Garten gibt es zum Schluss nicht mehr. Das Buch hat einen unfassbar programmatischen letzten Satz. Dieser lautet: „Ja, alles bleibt noch zu tun.“ Alles bleibt noch zu tun.
Dieser Satz gilt jeden Tag: Alles bleibt noch zu tun. Wir können es immer anders denken, wir können es tatsächlich immer anders machen. Und das Imaginieren von Geschichten in der Kunst hat den schönen Vorteil, dass es dieses „Als ob“, also diese alternative Wirklichkeit, die die Politik versucht zu verschleiern, wenn sie Geschichten erzählt, die auch Interessengruppen gesellschaftlich versuchen zu verschleiern, transparent macht und das Spekulieren über die Alternative und die Erfahrung des alternativen Möglichen transparent, durchschaubar und damit denkbar.
Ich glaube, dass das ein ganz, ganz wesentlicher Zusammenhang ist, der auch etwas anderes ist als dieser generelle Reflex gegenüber der Kunst, den wir kulturell immer haben, dass wir sie entweder auf ein Podest stellen, wo wir sie als unangreifbar betrachten, sodass wir sie egal finden können oder dass wir sie auf der anderen Seite banalisieren zum „Kitt der Gesellschaft“, der dann dafür sorgen muss, das wieder zusammenkleben, was wir vorher sozialpsychologisch zerrissen haben. Beides muss die Kunst nicht, aber sie kann unsere Phantasie stärken, anders mit den Dingen umzugehen.
Und dann kommt ein zweiter Aspekt hinzu: Der Komplex der Öffentlichkeit. Kunst blüht nicht im Verborgenen. Und eine Gesellschaft, wie die unsrige, verständigt sich auch nicht im Verborgenen darüber, wie sie solche scheinbar ausweglosen Situationen umgeht, in denen wir uns derzeit befinden. Nein, wir verhandeln öffentlich und in Begegnungen, wie wir sie heute haben, im Gemeinsamen und im gemeinsamen Erzählen über die alternativen Möglichkeiten, die wir gesellschaftlich ergreifen können.
Einer der Hauptreaktionsmechanismen auf Komplexität, der nach wie vor häufig greift, ist der Versuch diese Komplexität durch Geschichten verdaubar und verarbeitbar zu machen. Das Spektakuläre ist nur, dass uns das momentan in grandioser Art und Weise gesellschaftlich misslingt. Wir erleben ganz andere Formen der radikalen Vereinfachung. Mit zwei davon müssen wir uns momentan massiv in der Öffentlichkeit auseinandersetzen: Auf der einen Seite eine radikale, rückwärtsgewandte Form der Freiheit des Einzelnen beginnend bei „Das wird man doch noch mal sagen dürfen“ bis hin zu jeglicher Negation der Idee gemeinsamer Absprachen darüber, wie wir gesellschaftlich miteinander klarkommen wollen. Und auf der anderen Seite eine Hypermoralisierung von Moral, die versucht, schon vor dem Beginn einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu definieren, was wahr oder falsch ist. Beides sind enorme Rückschritte in unserer Entwicklung von Moderne. Das eine führt uns im Prinzip zurück zu einer Form von Naturzustand, der ungeregelt den Zustand vor dem Gesellschaftsvertrag wiederbelebt. Wenn Sie sich die Bücher dieser libertären Autoritäten durchlesen, dann bekommen Sie durchaus das Gefühl, dass sie sich genau diesen Zustand zurückwünschen. Sie finden die Vorstellung von Hobbes vor dem Leviathan eigentlich ganz vernünftig.
Und auf der anderen Seite führt uns Hypermoralisierung der Moral zurück in traditionale Erzählungen von Wahrheit, die unser gemeinsames gesellschaftliches Miteinander präfigurieren. Wohlgemerkt bevor wir überhaupt angefangen haben, miteinander darüber zu sprechen, was wir richtig oder falsch finden.
Aber was setzen wir dagegen? Dagegen setzen wir das Bewusstsein, dass wir Dinge im Gespräch miteinander regeln können. Und auch das ist jetzt nicht die abstrakte Forderung „Redet mal mehr miteinander“, sondern eine konkrete Erfahrung. Es gibt einen wunderbaren Satz, den ich gelesen habe in einem Buch von Jan Philipp Reemtsma, in seiner großen Studie über Vertrauen und Gewalt. Darin schreibt er ganz zum Schluss über den „Zauberberg“ von Thomas Mann. Diese gefühlten 2.000 Seiten, auf denen die Figuren die längste Zeit durchs Gebirge gehen und sich unterhalten. Spannenderweise darüber, ob das Miteinander-Sprechen eigentlich etwas bringt.
Es gibt Hans Castorp, einen jungen Ingenieur. Aber vor allen Dingen streiten sich Settembrini und Naphta. Settembrini ist ein schwärmerischer Aufklärer, der fest daran glaubt, dass Aufklärung einen Sinn hat, dass wir uns tatsächlich überzeugen können, dass, wenn wir miteinander sprechen, wir auch wirklich schlauer werden können. Die Vernunft, wie Habermas gesagt hat, liegt in der Vielheit ihrer Stimmen, also im individuellen Wissen, dass es so oder so sein kann. Und dann gibt es den Zyniker Naphta, der sagt „Was willst du eigentlich? Um uns herum ist Krieg. Das stimmt doch alles nicht, Das ist doch alles Augenwischerei. Das hat doch nichts mit dem zu tun, wie wir tatsächlich leben.“
Und Reemtsma schreibt den Satz „Dass Naphta mitdiskutierte, gab Settembrini recht.“ Das heißt: Derjenige, der die Idee der Lösung unserer Probleme im Gespräch vehement ablehnt, macht in diesem Buch was? Er steigt ins Gespräch ein und versucht im Gespräch, den anderen davon zu überzeugen, dass das alles Unsinn ist. Das heißt, er begibt sich, wie Habermas sagen würde, in den performativen Selbstwiderspruch. Wenn er wirklich der Meinung wäre, dass das alles nichts bringt, müsste er schweigen und einfach gehen.
Und könnte uns Leserinnen und Lesern so auch diese ewig langen Spaziergänge ersparen. Aber sie reden und reden und reden und reden. Und der eine redet und redet und redet, dass das mit dem Reden nichts bringe. Darin steckt ein zuversichtlicher Kern und ich halte den Satz von Reemtsma für einen der zuversichtlichsten Sätze, die ich seit langem gelesen habe. Selbst diejenigen oder viele von denen, die das, was unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält, nämlich das Miteinander sprechen darüber, wie wir miteinander leben wollen, anzweifeln oder für falsch halten, nutzen Sprache und Sprechen um sich gegenseitig zu überzeugen und dazu, diese Haltung in der Gesellschaft durchzusetzen.
Das heißt, offensichtlich ist da so eine Intuition, dass es gelingen kann, im Gespräch gemeinsam miteinander klar zu kommen.
Das löst Kommunikation aus: Die Auseinandersetzung mit einem Zusammenhang, über den man vorher noch nie nachgedacht hat oder die Antwort auf eine Problematik, von deren Existenz man vielleicht noch gar nichts wusste.
Das geht mir regelmäßig so in Konzerten, in Theaterstücken, im Kino. Und dann stehe ich in der Pause mit anderen zusammen und stelle fest, dass sie solche Erlebnisse ebenfalls hatten, aber an anderen Stellen mit ganz anderen Wirkungen. Und das, was mich besonders berührt hat, hat die Anderen vielleicht vollständig kalt gelassen. Und dann fangen wir an, darüber zu reden. Das heißt, wir bekommen den Impuls durch die Kunst und bekommen dann die soziale Verbreiterung ins Miteinander-Reden darüber, wie wir eigentlich gemeinsam klarkommen wollen.
Das wirkt zwar erstmal nur wie ein ganz schwaches Band, aber ich glaube, es ist nach wie vor das Plausibelste, was in der Moderne Gesellschaften zusammenhält.
Damit komme ich abschließend zur Rolle der Stiftung und der gesellschaftlichen Verantwortung dafür, dass sowohl diese künstlerischen Erlebnisse als auch diese öffentlich fragilen Kommunikationsstrukturen vorhanden sind und bleiben. Diese Verantwortung trägt natürlich eine Gesellschaft vor allem über ihr Instrument, den Staat. Den verstehen wir in Kontinentaleuropa als das Gewährleistungsinstrument gesellschaftlicher Infrastrukturen und als Mechanismus, mit dessen Hilfe eine Gesellschaft in der Lage ist, ihre eigenen Belange zu organisieren.
Aber das ist er natürlich nicht allein. Der Staat ist ein wesentlicher Akteur, der Rahmenbedingungen und ordnungspolitische Bedingungen schaffen muss. Aber wir reden bei Kunst und Kultur über etwas, das maßgeblich davon lebt, frei vom Staat zu sein. Die Debatten zu diesem Problemfeld haben wir in den letzten Jahren alle erlebt, im letzten Jahr etwa rund um die documenta fifteen Wie frei sind die Bereiche unserer Gesellschaft, die wir staatlich gewährleisten und finanzieren, obwohl wir sie staatlich gewährleisten?
Das ist ein inhärenter Widerspruch, mit dem wir umgehen müssen, weil der Staat das aushalten muss: Dinge, die sich sogar gegen ihn richten, trotzdem zu ermöglichen, weil das Teil der Freiheitsvorstellung unserer Gesellschaft ist. Solange wir uns gesellschaftlich darauf verständigen, dass wir das tatsächlich wollen und dass wir Mechanismen haben, wie wir damit umgehen. Das ist ein Spannungsfeld und wird es bleiben. Ein Spannungsfeld, das auch dazu führt, dass wir immer wieder an Grenzen kommen, an denen der Staat zum unsicheren Kantonisten wird, weil er sagt: „Dafür habe ich jetzt kein Geld mehr.“ Oder: „Das finde ich falsch.“ Oder: „Kunst, erledige das doch gleich noch mal mit.“ Und dann sollen von Staat geförderte Akteurinnen und Akteure nicht mehr nur Kunst machen, weil sie Kunst machen wollen. Sie sollen Kunst machen, weil sie Bewusstsein für den Klimawandel schärfen oder die Gesellschaft zusammenhalten sollen und nicht nur Kunst, um Kunst zu machen und zu sehen, was sich daraus ergibt.
An dieser Stelle sind Stiftungen ein wesentliches und wichtiges Korrektiv, weil sie diese Ausgangslage nicht haben, weil sie aus der speziellen Position von Engagement und Vermögeneine Freiheit haben, die der Staat nicht hat. Sie können Relevanz erzeugen, in Bereichen Fragen zuzuspitzen, auch auf Prozesse drängen oder Strukturen vorantreiben, die der Staat mit seiner fundamentalen Gemeinwohlorientierung und seiner demokratiepolitischen Fundierung in Mehrheitsposition der Gesellschaft immer etwas schwerer begründen kann als das eine einzelne Institution tun kann. Die kann sagen: „Ich setze jetzt mal alle Chips nur auf ein Feld!“
Das kann die Kulturpolitik des Staates nicht, obwohl Kulturpolitik schon diskursiver ist und nicht so administrativ und machtvoll verfasst ist wie alle anderen Politikbereiche.
Stiftungen sind ein wesentlicher Garant dafür, dass die Freiheit der Kunst und des öffentlichen Gesprächs in unserer Gesellschaft weiterhin garantiert sind und es gelingt, das Bewusstsein dafür erhalten, dass wir Aufklärungspotenziale haben, die an vielen anderen Stellen in unserer Gesellschaft momentan negiert sind. Das sage ich auch aus dem Bewusstsein Hamburgs heraus, dass unsere ganze kulturelle Landschaft und auch unsere Verortung in der europäischen und deutschen Geistesgeschichte gar nicht hätten funktionieren können, wenn wir nicht immer auch darauf angewiesen gewesen wären, dass eine freiheitliche Bürgergesellschaft sagt: „Wir wollen das.“
Bei uns gab es nie einen Potentaten, einen Monarchen oder einen Bischof, der gesagt hat: „Ich mach das, weil ich das für meine Herrschaftsansprüche brauche.“ Was wir hatten, war eine Bürgergesellschaft, die gemeinsam gesagt hat: „Wir wollen das, und das brauchen wir gesamtgesellschaftlich auch.“
Ich danke Ihnen von Herzen für das Engagement, das Sie in Ihren Stiftungen zur Bewahrung dieser Freiheitsräume, die uns zuversichtlich sein lassen, an den Tag legen. Ich sage dem Bundesverband Deutscher Stiftungen Danke für die Vernetzungs- und Reflexionsarbeit.
Ich wünsche mir, dass wir es gesellschaftlich hinbekommen, ihnen auch weiterhin gute Rahmenbedingungen zu schaffen in der Novelle des Stiftungsrechts. Ich hoffe, dass wir bald die Ausweitung der Gemeinnützigkeitskataloge auf den Journalismus und die öffentliche Gewährleistung des öffentlichen Gespräches schaffen. Die steht da nämlich noch nicht drin.
Ich will darauf hinweisen, dass Sie mit 1948 natürlich auch ein Gründungsjahr haben, dass 100 Jahre nach dem ersten deutschen Versuch, überhaupt eine Demokratie, eine freiheitliche und soziale, auf dem Boden dieses Landes zu errichten, liegt. Das ist auch noch mal ein historischer Bezug, dem ich jetzt nicht nachgehen kann, den ich aber für wichtig und wesentlich halte.
Und wie jeder Dank aber ist auch dieser Dank natürlich die sanfte, nur leicht verklausulierte, Aufforderung weiterzumachen.
Machen Sie weiter mit Ihrer Arbeit, fördern Sie, stiften Sie. Gerade auch an den Stellen, an denen der Staat nicht fördert. Treiben Sie uns an, da, wo Sie glauben, dass wir nicht genug tun.
Aber füllen Sie nicht nur Lücken, sondern entwickeln Sie eigene Programmatiken, die uns, im beschriebenen Sinne, zeigen, wozu wir als Gesellschaft fähig sind, wenn wir uns die Freiheit nehmen, die Welt anders zu denken, als sie ist. Denn nichts, wirklich nichts, haben wir aus meiner Sicht momentan nötiger als die Kreativität und Fantasie unsere Wirklichkeit anders zu denken, damit wir sie danach auch verändern. Denn wenn wir die Welt nicht verändern wollen, dann wird sie nicht mehr sein. Dieser Satz stimmt. Und das darf nicht sein, insofern sollten wir sie verändern. Ich hoffe dabei auf ihre tätige Leidenschaft. Stiften Sie Zuversicht, indem Sie konkrete Erfahrungen von Kunst und die aufklärerische Kraft des gesellschaftlichen Gesprächs auch in Zukunft ermöglichen.