Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Duden,
sehr geehrter Herr Generalkonsul Sungchul,
sehr geehrter Herr Dobschall,
sehr geehrte Frau Chin,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
„If I had a world of my own, everything would be nonsense.
Nothing would be what it is,
because everything would be what it isn’t.
And contrary wise, what is, it wouldn’t be.
And what it wouldn’t be, it would.
You see?”
Dieses Zitat stammt vom Autor von „Alice in Wonderland“ Lewis Carroll. Es erzählt von der fabelhaften Möglichkeit einer verkehrten Welt, in der alles anders ist, als es in Wirklichkeit scheint. Und es lässt durchscheinen, dass Caroll nebenbei auch noch Dozent für Logik und Mathematik war . . .
So eine Welt, in der die Wirklichkeit komisch verzerrt erscheint, genau darin aber auch von wunderlicher Wahrhaftigkeit ist, schaffte Lewis Carroll mit seinem Kinderbuch „Alice im Wunderland“. Alice erlebt in der Geschichte eine Abenteuerreise in eine Welt, die geprägt ist von Nonsens und Absurditäten. Sie trifft surreale Gestalten wie die Grinsekatze, den verrückten Hutmacher und das weiße Kaninchen.
In Lewis Carrolls Rahmenhandlung jedoch ist Alice ein ganz normales Mädchen. Erlebbar wird die verkehrte Welt für sie im Traum. Seinen Leserinnen und Lesern dagegen eröffnet Lewis Carroll seine Traumwelt über die Kunst – in diesem Fall die Literatur.
Unsuk Chin, der dieses Portraitkonzert der Reihe „NDR das neue werk“ gewidmet ist, ließ sich wiederholt von Carroll inspirieren, etwa für ihre Oper „Alice in Wonderland“.
Sie habe eine Affinität zum Abstrakten und Surrealen, sagt Unsuk Chin:
„Schon als Kind erlebte ich sie in meinen Träumen, in von Licht- und Farbphänomenen durchwirkten Traumzuständen, in denen die Gesetze der Physik und der Logik auf den Kopf gestellt wurden. Sie waren und sind für mich eine existenzielle Erfahrung und eine wesentliche Anregung beim Komponieren“.
So erlaubt uns Unsuk Chin mit ihrer Musik einen Einblick in ihre Traumwelt. Sie eröffnet uns einen Zugang zum Surrealen darin. Ganz ähnlich wie Lewis Carroll schafft Unsuk Chin mit ihrer Musik eigene Welten, Kunstwerke.
1961 in Südkorea geboren, studierte Unsuk Chin zwischen 1981 und 1985 Komposition an der „Seoul National University“. Ab 1985 kam sie mit einem Stipendium an die „Hochschule für Musik und Theater in Hamburg“, um bei dem ebenso renommierten wie anspruchsvollen ungarischen Komponisten György Ligeti zu studieren. Drei Jahre verbrachte Unsuk Chin dann in Hamburg. Diese Zeit war prägend, aber künstlerisch herausfordernd.
Denn obwohl sie sich bereits einen Namen als Komponistin gemacht und erste Preise gewonnen hatte, war ihr Lehrer Ligeti damals nicht zufrieden. Das führte dazu, dass Unsuk Chin ganze drei Jahre lang nicht komponiert. Nach dieser Schaffenskrise löste sie sich von ihren künstlerischen Vorbildern – ein wichtiger Schritt. Aber einer, den Unsuk Chin rückblickend als bedeutsam ansieht: „Wenn man als junger Komponist keine Krisen erlebt, kann man gar nicht weiterkommen.“
Und weitergekommen ist sie in der Tat.
Ihr Weg führte sie 1988 von Hamburg nach Berlin, wo sie noch heute lebt und ihre persönliche musikalische Stimme gefunden hat. Spätestens 1991 gelingt mit dem Werk „Akrostichon-Wortspiel“ der Durchbruch. Seither nimmt Unsuk Chin die Zuhörer erfolgreich mit auf ihre ureigene musikalische Entdeckungsreise.
Denn wie Alexander von Humboldt, dessen 250. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, oder wie Alice im Wunderland ist Unsuk Chin eine Entdeckerin neuer Welten, eine Suchende und Kosmopolitin. Sie hat nicht nur mit 24 Jahren eine neue Heimat auf einem fernen Kontinent erobert. Sie ist auch in der Musik stets als Entdeckerin unterwegs:
Es ist ihr wichtig, so hat sie einmal gesagt, mit jedem Musikstück etwas Neues auszuprobieren.
Und dabei orientiert sich Unsuk Chin wenig an Grenzen – ganz egal ob an geographischen, kulturellen oder musikalischen. In ihrem Verständnis von „Musik als Klang“ verlieren auch Unterscheidungen in populäre und ernste Musik an Bedeutung.
Sie betrachtet sich selbst nicht als Komponistin, die einer koreanischen oder einer europäischen Musiktradition verpflichtet wäre. Sie sieht sich vielmehr als Teil einer internationalen Musikkultur und bewegt sich virtuos zwischen unterschiedlichsten musikalischen Welten.
Zu den Interpreten ihrer Musik zählen bedeutende Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Alan Gilbert und Kent Nagano sowie die Geiger Viviane Hagner und Christian Tetzlaff.
Ihre Musik wurde unter anderem von den Berliner Philharmonikern, dem Chicago Symphony Orchestra ebenso wie dem Ensemble Intercontemporain und der London Sinfonietta gespielt.
Sie war unter anderem Composer-in-Residence beim Lucerne Festival und beim Acht-Brücken-Festival der Kölner Philharmonie sowie in der laufenden Saison beim NDR Elbphilharmonie Orchester, was uns in Hamburg natürlich besonders freut.
Eine lange Liste – und bei Weitem nicht vollständig!
Aber schon diese Aufzählung zeigt eindrücklich die Wertschätzung, die Unsuk Chin im internationalen Konzertleben entgegengebracht wird.
Bevor wir ihre Musik gleich endlich hören, möchte ich einen Versuch starten, sie mit Worten zu charakterisieren. Wissend, dass das immer unvollkommen bleiben muss, wähle ich nicht meine eigenen, sondern möchte zitieren.
Unsuk Chin selbst sagte, ihr Ziel sei es, ein „Spiel von Licht und Farbe“ – inspiriert von Ihren Träumen darzustellen, das „unmittelbar die Gefühle anspricht und Freude und Wärme vermittelt“.
Ihre Fähigkeiten als Komponistin scheinen bei der schreibenden Zunft auf ganz besondere Weise die Kreativität anzuregen. Da ist die Rede von „zerbrechlicher Zartheit“, „wahren Klangfarbenexplosionen“, oder von „Farben, die schimmern, schweben und sich durch die Musik Unsuk Chins schlängeln“.
Es wird wortreich berichtet von ihrem „Gespür für flirrende Steigerungen, für instrumentale Überraschungen und virtuose Sondereinlagen“ und ihrem „phänomenalem, synästhetischen Sinn für Farbe und Aroma der Musik“.
Mitunter wird es geradezu poetisch, wenn es beispielsweise in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ heißt:
„Das sanfte, scheinbar ziellose Schweben in der Zeit, das die meisten Stücke Chins prägt, findet auch zu Brüchen, Kanten; die Klänge, so ziseliert und kostbar geschliffen sie scheinen, sind nicht von widerspruchsloser Glätte, in ihrer Biegsamkeit blitzen auch Momente von harter, elementarer Expressivität auf, sind treibender Untergrund dieser Musik.“
Ich bin schon gespannt auf die „musikalischen Traumwelten“, in die wir heute entführt werden. Aber ich bitte Sie, liebes Publikum, noch einen Moment in der Realität zu verweilen!
Meine Damen und Herren,
der alle vier Jahre zu vergebende Bach-Preis wurde im Jahre 1950 anlässlich des 200. Todestages Johann Sebastian Bachs vom Hamburger Senat gestiftet. Gewürdigt werden sollen „Komponisten, deren Werke unter dem hohen Anspruch, den der Namensgeber setzt, Auszeichnung verdienen.“
Den Stiftern des Bach-Preises war es ebenso ein Anliegen, über die Auszeichnung von bereits etablierten Komponisten hinaus auch den Nachwuchs zu fördern.
Das „Bach-Preis-Stipendium 2019“ erhält Herr Samuel Penderbayne, dem ich dazu herzlich gratuliere. Dass er heute keine Urkunde erhält, liegt daran, dass wir ihn noch bei einem eigenen Stipendiatenkonzert würdigen werden.
Liebe Frau Unsuk Chin,
dem ersten Bach-Preisträger Paul Hindemith folgten u.a. Persönlichkeiten wie Ihr ehemaliger Lehrer György Ligeti, Olivier Messiaen, Alfred Schnittke, Karl-Heinz Stockhausen, Wolfgang Rihm und zuletzt 2015 Pierre Boulez.
Liebe Frau Chin, in diesem Jahr reihen Sie sich in diese beeindruckende Reihe großer zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten ein.
Lewis Carroll schreibt in „Alice im Wunderland“: „There is a place like no place on Earth. A land full of wonder, mystery and danger”.
Sie schaffen mit Ihrer Musik einen solchen Platz, der ist wie kein anderer auf der Erde – eine eigene Welt, die Abenteuer verspricht. Schön, dass Sie in der Elbphilharmonie auf ein Publikum treffen, das Sie als „aufgeschlossen und abenteuerlustig“ erleben.
Liebe Frau Chin,
ich gratuliere Ihnen im Namen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg zum Bach-Preis 2019!