Sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
sehr geehrter Herr Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrter Herr Schneider,
sehr geehrte Frau Reemtsma,
sehr geehrter Herr Reemtsma,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Architekt Richard Buckminster Fuller sagte einst:
„Keine Freude ist so groß wie jene, für die Menschheit zu arbeiten und das zu tun, was man gut kann.“
Ich denke, Sie alle stimmen mir zu, dass dieses Zitat auch auf Barbara Kisseler nur allzu gut zutrifft. Sie konnte gut für die Künstler und mit ihnen arbeiten und das mit großer Freude. Sie war eine herausragende Kulturpolitikerin, die mit enormer fachlicher Expertise, leidenschaftlichem Elan und klugem Witz für die Vielfalt der Hamburger Kulturlandschaft eingestanden ist, ihre Forderungen meist erfolgreich durchsetzen konnte und stets den direkten Dialog mit den Künstlerinnen und Kultureinrichtungen gesucht hat.
Das ist Vorbild und Ansporn bis heute: Ich versuche, das Amt in Ihrem Sinne weiterhin auszufüllen.
Ihr Todestag jährte sich am 7. Oktober nun schon zum dritten Mal. In ihrem Gedenken verleihen wir den „Barbara Kisseler Theaterpreis“, den die Hermann Reemtsma Stiftung großzügig mit 50.000 Euro dotiert.
Als streitbare Kämpferin für ein gesellschaftlich engagiertes Theater hätte sich unsere ehemalige Kultursenatorin über die diesjährige Entscheidung der geheimen Jurystimme sicher gefreut.
Nach der Auszeichnung des Lichthof-Theaters ist das Altonaer Theater nun das zweite Privattheater in dem „Theater-Hochburg-Bezirk-Altona“, das von dem Preis profitieren kann.
Die Häuser könnten unterschiedlicher nicht sein: Während das kleine Lichthof Theater als Ort der Freien Szene den gesellschaftlichen Diskurs über das Experiment, das Ausloten von neuen Spielformen und mit einer in der Regel eher partizipatorischen Arbeitsweise führt, wählt das große Altonaer Theater einen anderen Zugang: Es zeigt, dass spannende Auseinandersetzungen mit unserer Gesellschaft auch durch einen cleveren Zugriff auf Film und Literatur gelingen können – und zwar tadellos!
Mit dem Blick auf die deutsche Geschichte hat sich das Altonaer Theater mit Romanadaptionen sein besonderes Profil erarbeitet und einen wichtigen – und noch dazu sehr überzeugenden – Baustein für Geschichtsbewusstsein gelegt.
Das Motto „Wir spielen Bücher“ könnte in Tagen, in denen die Frankfurter Buchmesse gerade zu Ende geht und wir mit Saša Stanišić den Träger des Deutschen Buchpreises bei uns in Hamburg wissen, kaum aktueller und prägnanter sein.
Das Altonaer Theater beweist als eines der großen Privattheater in Hamburg immer wieder aufs Neue seine Fähigkeit, Romane für die Bühne zu verdichten, sie spannend zu inszenieren und dabei ein breites Publikum zu begeistern.
Das braucht immer wieder auch gehörigen Mut, denn letztlich ist jede dieser Adaptionen ein Wagnis. Nicht jeder Prosa-Plot überlebt schließlich seine Dramatisierung für die Bühne. Hier die richtige Wahl und dann die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Für die Zuversicht, diese Wagnisse immer wieder einzugehen, wird das Altonaer Theater heute mit dem „Barbara Kisseler Theaterpreis" ausgezeichnet.
Axel Schneider entwickelt mit seinem Team einen Spielplan, der sowohl aus engagierten ernsten wie auch unterhaltsamen Inszenierungen klug zusammengesetzt ist. Das macht ihn attraktiv für Altona, Hamburg, und über die Stadtmauern hinaus.
Dass das Programm sowohl im Kleinen, durch jede einzelne Inszenierung, als auch im Großen, durch die Zusammenstellung der Stücke, in der letzten Spielzeit besonders überzeugend geglückt sind, darauf hat nun der anonyme Juror oder die anonyme Jurorin hingewiesen – auch ich weiß nicht, wer dahinter steckt.
Für die Laudatio kehre ich dann gleich noch einmal auf die Bühne zurück.
Die letzte Spielzeit des Altonaer Theaters war gekennzeichnet durch ganz unterschiedliche erfolgreiche Produktionen, wie beispielsweise die Filmadaption „Absolute Giganten“, die Produktion „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ von Joachim Meyerhoff, und einem Sherlock Holmes in „Baskerville“ der mit dem spielfreudigen Ensemble den Krimi gehörig auf die Schippe nimmt.
Den eigentlichen Höhepunkt bilden aber die vier ambitionierten Inszenierungen, die auf den Romanen aus Walter Kempowskis insgesamt neunteiliger „Deutschen Chronik“ basieren: „Aus großer Zeit“, „Tadellöser und Wolff“, „Ein Kapitel für sich“ und „Herzlich Willkommen“. Sie erzählen von der Familie Kempowski und den Erinnerungen des norddeutschen Autors Walter Kempowski. Seine Romane thematisieren den Niedergang des Bürgertums im 20. Jahrhundert, schöpfen aus Walter Kempowskis persönlichen Kriegserinnerungen und der Zeit danach.
„Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln“ – diese Ziele kennen wir vorzugsweise aus der Museumsarbeit – sie durchziehen aber auch das Werk Walter Kempowskis.
Er war ein akribischer Faktensammler, der, so sagte er selbst, „Archiv“ werden wollte und es auch wurde – das verdeutlicht wohl vor allem sein Monumentalwerk „Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch“, eine Collage von Tagebüchern verschiedener Urheberinnen und Urheber aus dem Zweiten Weltkrieg. Und das spiegelt die „Deutsche Chronik“, in der er seine persönlichen Erinnerungen minutiös genau mit historischen Fakten kombinierte.
„Tagebücher sind meine Leidenschaft“ hat Walter Kempowski einmal geschrieben. Und vermutlich ist es ja gerade diese zeitliche Unmittelbarkeit des Geschriebenen, die weniger die Verklärung der Vergangenheit in sich trägt. Dass man aber nicht um die Veränderung der Erinnerung und der Erlebnisse umhin kommt, dessen war sich Kempowski, der sich selbst nicht als Chronisten, sondern als Romancier sah, bewusst. Er schrieb:
„Erlebnisse: bedeutungsschwere Partikel, die im Gedächtnis kristallisieren. Die Erinnerung an das Erlebte ist nicht gleich dem Erlebten. Es hat ein Austausch mit dem Allgemeinen und mit dem Gegenwärtigen stattgefunden.“
Wir Zuschauerinnen und Zuschauer werden mit den Inszenierungen ganz nah an die Welt vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg herangeführt. Wir erleben individuelle Schicksale aus einer Zeit, in der alles was war, alles was bisher galt, zerbrach und nicht mehr galt. Wir werden zur Auseinandersetzung aufgefordert.
Die Politik gedenkt der Geschichte und versucht, aus ihr zu lernen. Die Wissenschaft erforscht sie. Aber es sind die Künste, die von ihr in ganz anderer, freierer Form erzählen, sie interpretieren und erfahrbar machen – und die uns durch die Fiktion vielleicht manches Mal viel näher an die Realität bringen können.
Theodor W. Adorno sagte einst, die Aufgabe von Kunst sei es, Chaos in die Ordnung zu bringen – ein Satz, den auch Barbara Kisseler gern zitiert hat. Kunst ist wie ein sperriges Möbelstück im Raum, über das man immer wieder stolpert aber dennoch keinesfalls missen möchte. Es irritiert und behindert uns – und erlaubt uns gerade deshalb einen wacheren Blick auf die Umstände.
Kunst bleibt hängen. Davon zeugen auch die detailreichen Chronikschriften Walter Kempowskis, mit denen er Generationen von Leserinnen und Lesern erreicht hat. Er setzt sich mit seinem Werk gegen das Verdrängen und Vergessen ein – dieser Triebfeder folgen auch die Inszenierungen am Altonaer Theater.
In der szenischen Umsetzung dieser herausragenden Zeitdokumente gelang es Axel Schneider und seinem Team, sehr überzeugende Charaktere mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zu erarbeiten und mit einem guten Gespür für zeitliche Abfolge der Narration einen überzeugenden Bogen zu schlagen, der viel Platz lässt für Kempowskis manchmal sarkastisch-schnackigen Erzählton.
Im Theater sehen wir, welche Wirkmächtigkeit von Kunst ausgeht: Romane, die nicht für das Theater geschrieben wurden, werden in dem Spiel auf der Bühne lebendig und schaffen ein Gesamtkunstwerk, das für die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht selten in einer Ganzkörpererfahrung widerhallt.
Für Kempowski übernahm das Schreiben eine sinnstiftende Funktion: Er begann mit dem Schreiben, um die Zeit der Leere während seiner Verhaftung in der damaligen DDR zu füllen und um Vergangenes zu verarbeiten: Er sagte:
„Den ganzen Tag lag ich also untätig auf der Pritsche, ich war der Vergangenheit ausgeliefert, musste mich mir ihr stellen, wollte ich nicht in Sorge um die Zukunft zerrieben werden. Ich gab mich exzessivem Erinnern hin, frühe Kindheitserinnerungen von unmerklicher Süße.“
Das ist ein starkes Beispiel dafür, wie die Beschäftigung mit Erinnerung künstlerische Prozesse freisetzen kann, um sie dann einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ob mittels Sprache, Schrift oder szenischem Spiel ist dabei zweitrangig. Wichtig ist, im Dialog zu bleiben, Erinnerungen zu sammeln und zu reflektieren – das galt gestern und gilt auch heute.
An dieser Stelle möchte ich kurz aus dem Förderantrag des Altonaer Theaters zitieren. Dort heißt es: „Heutige politische und gesellschaftliche Phänomene wie ein erneut aufkeimender Nationalismus, der Zerfall der EU und stärker auftretende faschistische Parteien lassen die Befürchtung zu, dass das, was Kempowski als demokratischen Aufstieg nach dem 2. Weltkrieg bis in die 1960er Jahre beschrieben hat, sich auf europäischer Ebene umkehrt und eine Generation, die die Kriege längst vergessen hat, in ähnliche Situationen bringt, wie sie Kempowski am Beginn der Chronik vor den Weltkriegen geschildert hat."
Das macht die Kempowski-Saga auch auf der Bühne so wichtig. Indem wir als Gesellschaft die Vergangenheit nicht verdrängen, sondern uns ihr im demokratischen Dialog auf Augenhöhe und mit Mut widmen, gehen wir einen entscheidenden Schritt, uns politisch extremen Tendenzen entgegenzustehen.
Sie, lieber Herr Schneider, zeigen mit viel Mut, leidenschaftlichem Engagement und großem Einsatz – nicht nur in der Leitung des Altonaer Theaters, sondern auch in den anderen Häusern der Staitsch Gruppe, den Kammerspielen und dem Harburger Theater –, in jeder Spielzeit aufs Neue, welche theatrale Kraft in bewegenden Romanen steckt und vor allem, zu welchen befreienden Erlebnissen ein Theaterraum fähig ist. Sie suchen den Dialog, den wir in unserer freien Gesellschaft brauchen. Sie schrecken nicht zurück von schwierigen Themen, die manchmal im positiven Sinn eine Zumutung für das Publikum sind, sondern fordern uns Zuschauerinnen und Zuschauer immer wieder heraus – auch das brauchen wir.
Ich freue mich daher sehr darüber, Ihnen gleich den „Barbara Kisseler Theaterpreis“ für das Altonaer Theater überreichen zu können.
Ihnen und Ihrem Theater wünsche ich weiterhin viel Resonanz und ein neugieriges Publikum mit Lust an der Adaption von starken Texten, die uns durch ihre klugen Regiekniffe in Erinnerung bleiben. Bleiben Sie risikofreudig und abenteuerlustig und betrachten Sie das als Wunsch und Aufforderung zugleich.
Und betrachten Sie, meine Damen und Herren, es als Wunsch und Aufforderung, von diesem Theater gehörig weiterzuerzählen.
Bevor ich nun gleich nach einem weiteren Kempowski-Einblick die Laudatio verlesen werden, möchte ich mich schon jetzt bei der Hermann Reemtsma Stiftung – und stellvertretend bei Bernhard und Henrike Reemtsma – bedanken, die den Preis für insgesamt zehn Jahre zugesagt haben. Vielen Dank für diesen großartigen Preis, der immer mit dem Gedenken an meine beeindruckende Vorgängerin verbunden ist.
Mit dem Preis ermöglichen Sie nicht nur die Weiterführung der künstlerischen Arbeit von Theatern oder Freien Gruppen, sondern fördern auch neue künstlerische Akzente – das ist für die Kunstszene und damit unsere Stadt ein ungemein großer Gewinn.
Liebes Altonaer Theater,
herzlichen Glückwunsch zum Barbara Kisseler Theaterpreis!
Vielen Dank – und bis gleich.