Lieber Saša Stanišić,
sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,
lassen Sie uns einige Monate zurückschauen: Frühsommer in Hamburg. Die schönste Jahreszeit in unserer Stadt – außer vielleicht für 8.701 Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2019.
Eines der Themen für die Deutsch-Klausur: „Fürstenfelde erzählen“, Referenztext „Vor dem Fest“ des Autors Saša Stanišić. Unter anderem soll man ein zusätzliches Kapitel für den 2014 erschienen Roman verfassen.
Die „Schülerin“ „Elisabeth von Bruck“ erreicht 13 Punkte. Die korrigierende Lehrerin ist unter anderem vom Gebrauch des Konjunktivs mehr als angetan und lobt:
„Fans von Stanišić wird die Gestaltung des Kapitels ein Lächeln ins Gesicht zaubern!“
Was die Twittergemeinde aus erster Hand und die Kulturmenschheit wenig später aus dem Feuilleton erfuhr: 2019 gab es beim Deutsch-Abi 8.702 Teilnehmende. Der Autor selbst hatte sich in die Abiturklausur eingeschlichen und als „Elisabeth von Bruck“ einen Text zum eigenen Text verfasst – fünf Stunden und 22 Seiten lang. Und damit einen Punkt mehr geholt als 1997 beim eigenen Abi über einen anderen großen deutschen Dichter – Goethe.
Was wie eine charmante Anekdote klingt, zeigt darüber hinaus den Willen eines Autors, sich mit dem eigenen Werk auseinanderzusetzen. Dahinter steht literarische Nachhaltigkeit, die Lust sich einzubringen, der Mut zur Reibung und auch die kritische Distanz zu sich selbst:
„Schulbehörden, traut Euch, mehr Gegenwart zuzulassen“, lautete sein Fazit in diesem konkreten Falle.
Auseinandergesetzt hat sich Saša Stanišić in diesem Jahr permanent, auch und vor allem mit der Gegenwart – das ist niemandem von Ihnen entgangen.
Einer der besten Autoren dieses Landes, wie mehrere Jurys, unter anderen des „Deutschen Buchpreises“, des „Eichendorff-Literaturpreises“ und des „Hans-Fallada-Preises“ , in den vergangenen Monaten immer wieder hervorhoben, hatte zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse einen „dicken Hals“, gegen den auch „1.200 Ibuprofen“ – die er vor seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis eingeworfen hatte – nicht helfen konnten.
Ich bin auf eine Art froh über diesen Unmut, der sich in Form einer veritablen Schilddrüsenentzündung seinen Weg gebahnt hatte. Nicht über die Krankheit natürlich. Aber ich bin froh, dass Saša Stanišić die Öffentlichkeit vor dem erlesenen Publikum im Frankfurter „Römer“ genutzt hat – so dass seine Verwunderung und seine Wut in die Welt getragen wurden.
Nun konnte ihnen eine echte Debatte folgen, die noch lange nicht zu Ende diskutiert ist und die es braucht in einer Zeit, in der die Beziehung zwischen Autor und Werk wieder einmal der Neubestimmung harrt. Doch kommen wir zum Wichtigsten: Zum aktuellen Werk von Saša Stanišić.
„Herkunft“ ist im Frühjahr bei „Luchterhand“ erschienen und seither stimmen Publikum und Kritik unisono in die Begeisterung ein: Alle haben es gelesen, und wer es noch nicht gelesen hat, nimmt es sich gerade vor und zu Weihnachten wird es sowieso verschenkt.
Dabei geht es schon bei der Gattungsbezeichnung los: Ist das ein Roman? Ein Memoir? Ein Erinnerungsband? Ja – spielt das denn eine Rolle?
Immer wollen wir alles in Schubladen wegsortieren, sogar einen Text, der sich so schlängelt und windet und manchmal auch Feuer speit, wie der Drache, der auf seinem Titel abgedruckt ist.
In „Herkunft“ geht um das Erinnern, um die Erinnerungen, die der Großmutter Kristina eine nach der anderen abhanden kommen und um den Enkel Saša, der diese auffängt, verwundert betrachtet und in seine Lebenserzählung einpasst. Und an den Stellen, an denen sie sich noch nicht passgenau ins Lebensgemäuer einfügen, da kommt ein wenig Kitt hinzu: Erfundenes, Vorgestelltes, Fabuliertes.
Wie funktioniert Erinnerung? War es so? Hat sie jenes gesagt? Oder doch eher dieses? Lesen Sie weiter auf Seite 271. Was keiner mehr weiß, das wird erfunden. Und was keiner mehr wissen will, das auch.
„Geschichte wird gemacht“ sang die Band Fehlfarben.
„Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden“ schrieb Giordano Bruno.
Auf eine spielerisch-ambitionierte Weise wird Saša Stanišić zum Chronisten eines versunkenen Mitteleuropas. Er, der Jugoslawe mit der bosnischen Mutter und dem serbischen Vater, wird ein Europäer mit Herz und Verstand. Ein Künstler, der in Deutschland lebt, der auf Deutsch schreibt und dessen Geschichten sich aus den Verlusten des 20. Jahrhunderts, aus dem Zerbersten eines Landes und der Zersplitterung einer Familie speisen.
So hat seine Biografie ihn zum Autor gemacht, das Zeug zum Schriftsteller trug er schon immer in sich, vielleicht haben es ja seine Flößer-Vorfahren in der Drina aufgefischt. In Heidelberg hörte der junge Dichter Saša von seinem Deutschlehrer den ermunternden Rat: „Schreib sie auf Deutsch, Deine Gedichte. Du kannst das.“
Alle, die „Herkunft“ gelesen haben, werden bei dem Wort „Geflüchtete“ künftig an einen 14-jährigen dunkelhaarigen Jungen denken, dem seine Mutter ein Eis kauft, der sich mit staunenden Augen das Heidelberger Schloss besieht und sich denkt, dass er sich in diesem Deutschland wohl ein wenig zu Hause fühlen könnte.
Saša Stanišić hat auf federleichte Weise ein Plädoyer für eine offene Gesellschaft in sein Buch geschrieben. Durch seine Menschlichkeit entlarvt er die Ungerechtigkeit hinter den Zuschreibungen des Fremden, die auch er ertragen musste. Und er erzählt davon, dass und wie es anders gehen könnte.
Zum Beispiel in den Erzählungen vom Zahnarzt Dr. Heimat, der den jungen Saša nicht nur unbürokratisch behandelte, sondern ihn und seinen Großvater auch zum gemeinsamen Angelausflug einlud. Der fremde Mann wurde so zum Ausdruck des Ankommens in einer neuen Welt.
„Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg. Ich erzähle, wie Dr. Heimat meinen Großvater und mich zum Angeln an den Neckar eingeladen hat. Wie er Angelscheine für uns besorgt hat. Wie er Brote geschmiert und sowohl Saft als auch Bier dabei hatte, weil man ja nie weiß. Wie wir Stunden nebeneinander am Neckar standen, ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten.“
Durch die Kraft seiner Literatur wird Saša Stanišić zum Fürsprecher für eine offene und vielfältige Gesellschaft, für ein buntes Verständnis von Heimat, für die Grundlage von Demokratie, die alle einschließt. Mit seiner Imagination visioniert er für uns alle ein Leben, das ohne Hass und Verletzungen, ohne Phrasen und Endzeitszenarien auskommt, in dem jede und jeder „seiner unbestochnen / von Vorurteilen freien Liebe“ nacheifern kann, wie es uns schon Lessings alter, weiser Nathan gewünscht hat.
Und deshalb sind wir froh und dankbar, dass Saša Stanišić in Hamburg, dass er in Deutschland lebt, dass wir ihn bei uns haben.
Saša Stanišić ist der erste Preisträger einer neuen Auszeichnung. Erstmals werden die Hamburger Literaturpreise in diesem Jahr gleich in sieben Kategorien verliehen. Zu den bisherigen Kategorien „Roman“, „Erzählung“, „Lyrik, Drama, Experimentelles“ und „literarische Übersetzungen“ gesellen sich nun drei weitere Kategorien: „Kinder- und Jugendbuch“, „Comic“ und letztlich die Auszeichnung „Buch des Jahres“ in der Saša Stanišić ausgezeichnet wird.
Mit der Kategorie „Buch des Jahres“ möchten wir Werke von Hamburger Autoren und Autorinnen ehren, die binnen eine Jahres erschienen sind und auf besondere Weise auf die Gegenwart Bezug nehmen.
Ich beglückwünsche die Jury für ihre Entscheidung, die ihr sicherlich nicht leicht gefallen ist, standen doch so wunderbare und eindrucksvolle Bücher wie „Miroloi“ von Karen Köhler, „Laufen“ von Isabel Bogdan, „Die bessere Geschichte“ von Anselm Neft, „Hotel Cartagena“ von Simone Buchholz und „Mikadowälder“ von Marie-Alice Schultz zur Wahl. Es ist bemerkenswert, wie produktiv und kreativ die Hamburger Autorinnen und Autoren sind, wie viel sie zu sagen haben und wie stark sie den öffentlichen Diskurs beeinflussen. Das belegen die Preisträgerinnen und Preisträger der anderen Kategorien ganz genauso – wir werden davon hören.
Nun könnte man argumentieren, wir hätten unser Pulver schon in den ersten zehn Minuten „verschossen“, wenn wir mit dem prominentesten Preisträger beginnen. Mitnichten: Ich sehe es eher so, dass Saša Stanišić, der bereits 2015 einen Förderpreis der Stadt Hamburg entgegen nehmen konnte, als Pate, als guter Geist für unseren weiteren Abend und für diese Preisverleihung steht.
Wir sind sehr stolz darauf, dass sich in „Herkunft“ auch ein Stück Hamburgischer Alltag spiegelt, der weit über die noch steigerungsfähigen Leistungen des HSV hinausgeht.
„Wenn es ein Buch gibt, das Du gerne lesen möchtest, aber was noch nicht geschrieben wurde, dann musst Du es selbst schreiben“, hat Toni Morrisson, die große amerikanische Schriftstellerin und Saša Stanišić auf magisch-realistische Weise verwandt, einmal gesagt.
Lieber Saša Stanišić,
ich bin sehr froh, dass Sie mehr über Ihre Zugehörigkeit und über die Herkunft Ihrer Familie erfahren wollten. Auch für mich war Ihr Buch das literarische Ereignis des Jahres, weil dieses fabulierfreudige Werk wie ein Prisma zahlreiche Facetten des Aufwachsens und Klarkommens zwischen den Kulturen zur Geltung bringt.
Vielen Dank für „Herkunft“ und für Ihre wunderbaren Bücher – die, die Sie schon geschrieben haben und die, die Sie noch schreiben werden. „Niemals aufhören: zu erzählen.“ Wir warten, wir freuen uns darauf – und wir brauchen sie.
Im Namen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg gratuliere ich Ihnen herzlich zum Hamburger Literaturpreis in der Kategorie „Buch des Jahres“.
Herzlichen Glückwunsch!