Lieber Herr Francke,
liebe Frau Bischöfin,
lieber Herr Dr. Garbe,
liebe Frau Hertz-Eichenrode,
liebe Angehörige von Antoon Verberne,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
in ihrer berühmten Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden sagte die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann im Jahr 1959:
„Die Wahrheit (. . .) ist dem Menschen zumutbar.
Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag.“
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
Was aber ist die Wahrheit?
In der Moderne gibt es keine unumstößlichen Wahrheiten mehr; aber es gibt vieles, das wir heute als Wahrheit gemeinsam anerkennen.
Die Wahrheit, dass knapp 44 Prozent der Deutschen bei der Reichstagswahl im März 1933 Hitler zum Sieg verholfen haben. Und dass sich auch in der Folgezeit die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ihm und seinem Regime nicht in den Weg gestellt hat, sondern mitgelaufen ist.
Die Wahrheit, dass während des Krieges vielen Menschen auf allen Seiten großes Leid und Unrecht widerfuhr und dass unzählige Menschen getötet wurden.
Die Wahrheit, dass aus diesem Morden die systematische Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen durch den SS-Staat als singuläre Barbarei herausragt.
Die Wahrheit, dass die Einsätze der Alliierten eine Antwort auf das menschenfeindliche, verbrecherische Unrechtsregime der Nationalsozialisten waren, in der Hoffnung und der Absicht, dieses endlich zu beenden.
Die Wahrheit, dass auch dabei viele Menschen getötet wurden. Und dass Menschen getötet haben, um endlich das systematische Morden der Nazis zu beenden.
Und die Wahrheit, dass Menschen, die tagtäglich im KZ Neuengamme von den Nazis mit dem Tod bedroht wurden, nach dem „Feuersturm“ in Hamburg die Trümmer beiseite räumen und die Leichen bergen mussten. Und somit fast Übermenschliches geleistet haben angesichts der eigenen Bedrohung, die sie erleiden mussten.
Was also ist die Wahrheit?
Die Wahrheit ist, dass in einem Krieg niemand gewinnen kann.
Die Wahrheit ist, dass im Krieg die Menschlichkeit verloren geht.
Daran müssen wir uns erinnern. Immer wieder.
Erinnern kann viele Facetten haben und ich möchte dem ein bisschen nachspüren.
Es gibt die persönliche und die öffentliche Erinnerung, die emotionale und die faktenreiche, es gibt die verdrängte Erinnerung und auch die false memory, die bruchstückhafte oder die sehr detailscharfe Erinnerung.
Das gemeinsame und das institutionalisierte Erinnern sind deshalb so wichtig, weil es uns die Möglichkeit gibt, die vielen Einzelschicksale und vielen vereinzelten Erinnerungen zu einem Gesamten zu verbinden.
Erst durch den Kontext der Geschichte können wir begreifen, was dem Einzelnen widerfuhr und wie geschehen konnte, was geschah.
Erst so erkennen wir Strukturen und Mechanismen und können aus ihnen lernen.
Es ist aber ebenso wichtig, aus dem Gesamtkontext immer wieder auch die Einzelschicksale herauszulösen.
Die Geschichte, wenn sie droht, zum Historienbild zu erstarren, wieder zu verlebendigen, indem wir uns vergegenwärtigen, was sie für den einzelnen Menschen bedeutet hat.
Jedes Einzelschicksal ist von Bedeutung.
Für die Identität jeder Person – und als konkrete, als erlebte Geschichte, als Geschichte, die eben nicht nur aus Daten, Zahlen und Fakten besteht, sondern die immer auch die Geschichten von Menschen ist.
Meine Damen und Herren,
das institutionalisierte Erinnern ist auch für uns Nachgeborene wichtig.
Im Gästebuch des Mahnmal St. Nikolai habe ich folgenden Eintrag gefunden:
„Very good but terrifying exhibition. Thank you for showing that – no matter in which side you are – a war is always a war.”
Dieses und viele weitere Zitate aus dem Gästebuch zeigen, welche Bedeutung diesem Mahnmal hier im Herzen der Stadt – auch von auswärtigen Gästen – zugewiesen wird.
Es ist ein Ort, der Erinnerung und Wissen bündelt – und für alle zugänglich macht.
Denn solche traumatischen Erlebnisse wie die des Zweiten Weltkrieges haben nicht nur Auswirkungen auf jene Menschen, die es selbst erleben mussten.
Sondern auch auf die Nachfahren.
Geschichte prägt Familien.
Es gibt vererbte Traumata oder verdrängte Geschichte auf allen Seiten: auf der Seite derjenigen, die Kinder und Enkelkinder von Opfern sind; auf der Seite derjenigen, deren Vorfahren zu den Streitkräften der Alliierten gehörten; als auch auf der Seite derjenigen, deren Eltern oder Großeltern als Täterinnen und Täter die nationalsozialistische Herrschaft ermöglicht hatten.
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme arbeitet deshalb seit einigen Jahren mit Vertreterinnen und Vertretern der zweiten und dritten Generation zusammen, in Recherche- und Gesprächsseminaren. So lässt sich das Netz der Erinnerung weiter in die Zukunft knüpfen.
Meine Damen und Herren,
Erinnerung ist die Voraussetzung von Bewusstsein.
Und Bewusstsein die Voraussetzung von Orientierung.
Der Historiker Golo Mann hat einmal sehr anschaulich deutlich gemacht, warum Geschichte und das Verständnis von Geschichte so wichtig für uns sind. Er beschreibt darin, wie es ist, morgens in einem Hotelzimmer aufzuwachen. Man weiß im ersten Moment nicht, wo man ist, die Lampe steht links anstatt wie zu Hause rechts, das Licht ist anders usw. Erst wenn die Erinnerung zurückkommt, dass man gestern in eine andere Stadt gereist ist und sich in einem Hotel befindet, erst dann gelingt es uns, uns in der Gegenwart des Hotelzimmers zu orientieren.
Erinnerung ist also unersetzlich für das Verstehen von Gegenwart und somit auch für das Gestalten der Zukunft.
Nur wenn wir uns bewusst sind, dass es ein Gestern gegeben hat und ein Morgen geben wird, können wir zu handelnden Menschen werden.
Der Historiker Jörn Rüsen hat das einmal sehr genau beschrieben, als er sagte, die Handlungsfähigkeit eines Menschen hänge eben nicht nur davon ab, dass wir die notwendigen materiellen Ressourcen für unser physisches Leben haben – also ein Dach über dem Kopf, ausreichend zu essen, Gesundheit.
Es brauche mehr als das – nämlich die Übersicht über und die Einsicht in die komplexen Verhältnisse von Mensch und Welt und die Befähigung zur Interpretation derselben. Erst das ermögliche es uns, Orientierung und damit Handlungsfähigkeit zu gewinnen.
Jörn Rüsen fasst dies kurz und bündig zusammen in dem Satz:
„Man muss die Welt immer schon interpretiert haben, um sie verändern zu können.“
Damit hat Rüsen kurzerhand Karl Marx auf den Kopf gestellt, der in seiner elften These über Feuerbach schrieb:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert;
es kömmt drauf an, sie zu verändern.“
Rüsen hingegen besteht darauf, dass das eine das andere bedingt. Der Mensch muss verstehen, und das heißt ja auch interpretieren, um die Welt verändern zu können.
Die Neuzeit hat unser Geschichtsverständnis dahingehend revolutioniert, dass wir ihren Verlauf nicht mehr als Beweis einer (göttlichen) Vorsehung begreifen, sondern als etwas Menschengemachtes.
Das ist Freiheit und Verantwortung zugleich.
Voltaire, dem Vordenker der Aufklärung, verdanken wir die Einsicht, dass die Vernunft dabei als prüfende Instanz gelten muss.
Denn die Vernunft, so Voltaire, wirke aufklärend gegenüber Bosheit und Zerstörungswille und könne die von den Menschen selbst verschuldeten Missstände beseitigen.
Deshalb sollten wir die Vernunft, die ja immer auch mit dem Glauben an eine gerechte Welt verbunden ist, zur gestaltenden Kraft der Geschichte machen.
Wahrlich keine einfache – und vor allem eine immer wieder aufs Neue aktuelle Aufgabe.
Der Jahrestag der ‚Operation Gomorrha‘ und die heutige Ausstellungseröffnung sind uns eine besondere Mahnung, dass aus Ressentiments und Hass eine unaufhaltsame Spirale der Gewalt mit unfassbaren Ausmaßen entstehen kann.
Gerade deshalb müssen wir Demokratie und Freiheit verteidigen und den populistischen Tendenzen unserer Zeit unseren wehrhaften Humanismus entgegensetzen.
Das Gedenken an die zahlreichen Opfer vor 75 Jahren ist uns gleichzeitig Mahnung für ein friedliches Miteinander in der Zukunft.
Oft beginnt die Eskalation von Gewalt mit der Verrohung von Sprache. Das können wir gegenwärtig erleben an den Pöbeleien, Diffamierungen, Manipulations- und Skandalisierungsversuchen, die leider auch in den Bundestag eingezogen sind. Populistische Schlachtrufe und eine aggressive „Wir zuerst“-Rhetorik, in der jeder Sinn zerfällt und nur die manipulative Agitation übrigbleibt – das führt zurück in finstere Zeiten.
Sprache ist aber unser zentrales Mittel der Verständigung – im Alltag ebenso wie im gesellschaftlichen Miteinander und in der politischen Auseinandersetzung.
Wir brauchen daher einen demokratischen Diskurs, der nicht auf Provokation, sondern auf die Klugheit und die Stärke des besseren Arguments setzt.
Wir brauchen das Gespräch, das nicht darauf aus ist zu gewinnen, sondern das auf Verständnis, Verstehen und Meinungsaustausch zielt.
Orte wie dieser übernehmen dabei eine wichtige Aufgabe.
Sie bieten Raum und Gelegenheit, das öffentliche Gespräch zu führen.
Meine Damen und Herren,
ich möchte mich sehr für das große Engagement des „Förderkreises Mahnmal St. Nikolai“ bedanken, der seit 30 Jahren diesen Gedenkort zusammen mit der Stadt erhält und auf privater Grundlage betreibt.
Der „KZ-Gedenkstätte Neuengamme“ danke ich für die gemeinsame Erarbeitung dieser neuen Ausstellung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für die Finanzierung eines Films mit Zeitzeugenberichten, der die Tafeln der Ausstellung medial ergänzt.
Ich bin froh und dankbar, dass heute Nachfahren von Antoon Verberne nach Hamburg gekommen sind, um an der Eröffnung dieser Ausstellung teilzunehmen.
Antoon Verberne war erst 18 Jahre alt, als er in den besetzten Niederlanden verhaftet wurde und in das KZ Neuengamme verschleppt wurde.
Er war einer der Häftlinge, die im August 1943 für die Arbeit in der zerstörten Hamburger Innenstadt, die Leichenbergung und Massenbestattung zugeteilt wurden.
Wir haben zu Beginn gehört, was diese Arbeit für diese Menschen konkret bedeutete. Und wir werden gleich in Antoon Verbernes Worten Weiteres erfahren.
Wir müssen uns erinnern, um im Heute handeln und das Morgen gestalten zu können.
Danke, dass Sie uns dabei helfen.