Es gilt das gesprochene Wort
"Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
es ist unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung, Kinder und Jugendliche zu stärken, ihre Entwicklung zu ermöglichen und zu fördern sowie ihre Rechte zu schützen. Nicht zuletzt die Pandemie macht deutlich, dass Kinderrechte zwar in politischen Entscheidungen mit bedacht werden, aber nicht die herausragende Stellung einnehmen, die sie verdienen. Kinder und Jugendliche gehören aber ins Zentrum der Politik!
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland spiegelt diesen Anspruch allerdings nicht wider. Kinder sind Grundrechtsträger*innen und besonders schutzbedürftig, allerdings sucht man schon eine explizite Erwähnung der Grundrechte von Kindern im Grundgesetz vergeblich. Lediglich in Zusammenhang mit dem Elternrecht, dem Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft sowie dem Gleichbehandlungsgrundsatz von ehelichen und nichtehelichen Kindern findet das Wort „Kind“ überhaupt Erwähnung im Verfassungstext. Die Rechte von Kindern und Jugendlichen gehören aber in die Verfassung!
Die Notwendigkeit zur Umsetzung dieser Forderung ist keine Erkenntnis der jüngeren Vergangenheit. Zahlreiche Arbeitsgruppen, Studien und Fachdiskussionen in den vergangenen Jahren haben ebendiese Forderung aufgestellt, um die Interessen von Kindern stärker zu berücksichtigen, aber auch deren Schutz zu fördern. Beispielhaft möchte ich an dieser Stelle die Arbeit der Enquete-Kommission der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg erwähnen, die erkannt hat, dass Bedingung für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes eine Stärkung der Kinderrechte ist. Die Enquete-Kommission hatte den Auftrag, Empfehlungen zu erarbeiten, die der Stärkung des Schutzes und der Rechte von Kindern und Jugendlichen dienen sollen. Hierzu wurden diverse Untersuchungsfragen definiert. In ihrem Bericht aus dem Jahr 2018 hat die Enquete-Kommission in bemerkenswerter Weise festgestellt, dass sie „als Konsequenz und übergeordnete Antwort auf alle gestellten Fragen […] die Verankerung von spezifischen Kinderrechten im Grundgesetz“ für geboten hält.
Der dem Bundesrat von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzesentwurf bleibt hingegen eindeutig hinter den an ihn gerichteten Erwartungen zurück. Durch den Gesetzesentwurf werden die Berücksichtigung des Kindeswohls geschwächt statt gestärkt, der Kindeswille und die wachsende Selbstbestimmung der Kinder nicht geregelt, das Beteiligungsrecht für Kinder nicht vorgesehen, das Recht auf Förderung der Kindesentwicklung nicht verankert und durch Wiederholung bestehenden Rechts die Verfassungslage verunklart sowie die Rechtsanwendung und -auslegung erschwert.
Insbesondere die durch den Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorgeschlagene Änderung, das Wohl des Kindes lediglich „angemessen“ zu berücksichtigen, bleibt weit hinter den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zurück, nach der das Wohl des Kindes ein „vorrangig“ zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund des Geltungsvorrangs des Grundgesetzes problematisch, da die UN-Kinderrechtskonvention lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat. Eine durch die vorgeschlagene Verfassungsänderung sogar zu befürchtende Unterschreitung bereits geltender Kinderrechte ist nicht akzeptabel.
Anwendungs- und Auslegungsprobleme ergeben sich ferner durch den im Gesetzesentwurf der Bundesregierung eingeführten Hinweis auf die „Erstverantwortung der Eltern“. Dieser zusätzlichen Erwähnung steht lediglich eine Wiederholung bereits bestehender Kinderrechte gegenüber, was ebenfalls zu einer Abschwächung der Kinderrechte gegenüber dem Status Quo führen kann. Schließlich erscheint auch das Fehlen eines Rechts von Kindern und Jugendlichen auf Förderung ihrer Entwicklung – angesichts der vielerorts defizitären Bildungsgerechtigkeit in Deutschland – völlig unangemessen.
Damit verfehlt der Gesetzesentwurf die durch ihn eigens aufgestellten Ziele, die Rechte von Kindern als wesentliche staatliche Wertentscheidung ausdrücklich im Verfassungstext zu verankern und sichtbarer zu machen. Ich stehe mit meiner Kritik nicht alleine da. Unter anderem Teile der Rechtswissenschaft, der deutsche Anwaltsverein, Vertreter*innen aus der Politik und Kinderschutzverbände sowie nicht zuletzt auch viele Kinder und Jugendliche selbst blicken enttäuscht auf den uns heute vorliegenden Gesetzesentwurf.
Eine Änderung des Grundgesetzes, gerade im Katalog der Grundrechte, steht nicht häufig auf der Tagesordnung. Umso mehr haben wir die Pflicht, es jetzt richtig zu machen."