„(…) Juli 1945.
Es hat sich in dem Elbvorort herumgesprochen, dass wir rassisch Verfolgte des Naziregimes waren. Die Folge: viele Leute kommen auf der Straße zu uns, beteuern ihre Nazigegnerschaft, zählen jüdische Freunde von einst auf, ja, wollen sogar Juden zeitweise versteckt gehalten haben.
September 1945.
Die Gefahr der Beschlagnahme von Wohnraum durch die Besatzungsmacht ist gebannt – das britische Hauptquartier wird nicht in Hamburg, sondern in Niedersachsen unterkommen. In dem Maße, wie sich das bestätigt, verfällt auch die Freundlichkeit des Hausbesitzers uns gegenüber. Bis zur Aufforderung, das obere Stockwerk wieder zu verlassen – er brauche das ganze Haus für seine Verwandtschaft.
Also abermaliger Besuch beim Wohnungsamt Blankenese, mit unserer Frage: ‚Kommt der Hausbesitzer damit durch?‘ Darauf der Vorsteher, der gleiche wie im Mai, den wir damals gerade noch davon abhalten konnten, vor uns auf die Knie zu fallen, nun mit wiedergefundenem Selbstvertrauen: ‚Hoffentlich kommt er damit durch.‘
Oktober 1945.
Vor mir, auf der Grindelallee, geht ein großgewachsener Mann mittleren Alters, in Begleitung zweier Frauen, denen er plötzlich laut gestikulierend zuruft: ‚Die Juden, die Juden sind an allem schuld.‘ Das hat er im nächsten Augenblick bereut, denn ich sauste ihm im Hechtsprung mit den Schultern von hinten in die Kniekehlen, was ihn umwarf, ehe er, der doppelt soviel wog wie ich, mit langen Sprüngen und ohne sich zu wehren davonlief. In Unkenntnis des Zufalls, dass ich hinter ihm ging, hatte er geglaubt, etwas tun zu können, was er sich noch kurz vorher nicht getraut hätte: öffentlich Antisemitismus zu bekunden.
Aber nun, endlich, war sie überstanden, die trostlose, die schreckliche Zeit eines Vergeltungsschocks, der gerade vom Mai bis in den Herbst 1945 gedauert hatte. Danach fielen nur allzu viele, auch hier, in ihren mentalen Status quo ante zurück, versessen darauf, sich zu verteidigen, nicht zu gestehen.
Ja, Hamburg 1945 – das war auch ein ungeheures Aufatmen, Freude über das Ende der Naziherrschaft, Blick für die Chance, die sich da auftat. Aber ebenso bedeutete es Verdrängung – nicht allmächtig, aber mächtig genug – wie im übrigen Deutschland. Und das hieß: die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich mitverantwortlichen Generationen haben auch hier gemauert. Nichts, erst recht nicht die Liebe zu Hamburg, könnte mich bewegen, das aus falscher Rücksichtnahme zu unterschlagen. Die Farce der Entnazifizierung, diese Spruchkammersitzungen der Jahre 1946 bis 1952! Da saß oder stand er nun, der Parteigenosse von gestern, demütig geschrumpft auf die Hälfte seines gerade verblichenen Herrenmenschentums, in Würstchenpose, die politische Harmlosigkeit in Person, ein winziges Rädchen jenes Systems, zu dessen Aufhellung er nicht das mindeste beitragen konnte. Wie alle anderen vor ihm und nach ihm, wollte auch er Hitler nie zugejubelt haben, und im übrigen könne er nachweisen, dass er jüdische Freunde gehabt habe … Es war ein Schauspiel zum Gotterbarmen! Aber ich gestehe, dass ich den ‚Kleinen‘ gegenüber Gefühle von Mitleid, spontaner Zuwendung, Suche nach Milderungsgründen und glimpflichem Ausgang nicht unterdrücken konnte.
Das schlug jedoch in Entsetzen um, als immer deutlicher, immer offener der Makrokosmos sichtbar wurde, in den auch die Entnazifizierung gehörte, und von dem die politische Kultur der Deutschen bis heute auf spürbare Weise geprägt wird: eine nahezu kollektive Verdrängung der Nazizeit, mit den Folgen einer bis auf Ausnahmen kollektiven Entstrafung der Täter.
Meine Urerfahrung damit machte ich hier, in Hamburg: die Freisprüche des Landgerichts im Haupt- und Revisionsverfahren 1948/49 gegen Veit Harlan, Regisseur von ‚Jud Süß‘ und anderen NS-Propagandafilmen – der erste große Tätertriumph, den Überlebende des Holocaust im Namen des Rechtes hinzunehmen hatten. Für mich war es der Auftakt dessen, was ich die ‚Zweite‘, die Schuld nach 1945 genannt habe, also die Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler, und zwar nicht nur rhetorisch oder moralisch, sondern tief instituiert durch den ‚Großen Frieden‘ der restaurativen Bundesrepublik mit den Tätern.
Heute wissen wir: die Nazivergangenheit konnte nicht ‚bewältigt‘ werden, alle Versuche, Sühne und Gerechtigkeit herstellen zu wollen, mussten scheitern angesichts des Morduniversums und seiner Leichen-Himalayas, die sich da auftürmten. Auch war das Ausmaß der politischen, organisatorischen und ideologischen Verstrickung mit dem untergegangenen Herrschaftsapparat so groß, dass das öffentliche Leben tatsächlich zusammengebrochen wäre, wenn all die zur Verantwortung gezogen worden wären, die mitgemacht hatten – und das eigentlich ist die fürchterlichste aller Nachkriegswahrheiten. Aber musste es deshalb so kommen, wie es gekommen ist?
Wir leben in einem Land, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen und aber Millionen Opfern, die wohlgemerkt hinter den Fronten umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter folgte, das es je gegeben hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie nicht nur straffrei davongekommen, sondern konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Die bundesdeutsche Funktionselite in Wirtschaft, Verwaltung und Streitkräften war bis in die 70er Jahre hinein nahezu identisch mit der unter Hitler. Ungeachtet 32 000 aktenkundiger Todesurteile ist kein einziger NS-Blutrichter oder -Staatsanwalt von der bundesdeutschen Justiz je rechtskräftig verurteilt worden. Hier in Hamburg konnte einer der Extremsten NS-Juristen, der Oberlandesgerichtspräsident Curt Rothenberger, der 1942 den ‚Richter des Führers‘ gefordert hatte und dessen restlose Unterordnung unter Hitlers Willen – hier in Hamburg durfte Curt Rothenberger nach 1945 nicht nur noch eine ganze Generation angehender Juristen rechtlich belehren, sondern auch eine Nachzahlung mit fünf Nullen wegen zunächst vorenthaltener Pensionsbezüge einstreichen. Ebenso davongekommen sind die Diplomaten, Wehrwirtschaftsführer, die ‚Goldfasane‘ der Partei und eine Generalität, ohne die nichts gegangen wäre. Hauptangeklagte in den Hunderten von großen und kleinen NS-Verfahren vor bundesdeutschen Schwurgerichten ab 1958 werden die untersten Glieder in der Kette des industriellen Massen-, Serien- und Völkermords, ihre Vorgesetzten nur ausnahmsweise. So unglaublich es klingen mag: die Bauherren von Auschwitz, die Strategen des Holocaust unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes, die Organisatoren des Völkermordes an Juden, Sinti, Roma und Slawen – auch sie sind davongekommen. Viel zu spät eingeleitet, fallen 18 Verfahren gegen 300 Angehörige der Mordzentrale Reichssicherheitshauptamt unter die Verjährung für Totschlag und Beihilfe zum Mord – die Neufassung des Paragraphen 50, Absatz 2 des StGB schloss die obersten Schreibtischtäter mit ein. Zu ihnen zählte auch der in Hamburg ansässige Bruno Streckenbach, von der Anklagebehörde beschuldigt, als Personalchef des Reichssicherheitshauptamtes und Organisator der vier ‚Einsatzgruppen‘ A, B, C, D den ‚Tod von mindestens einer Millionen Menschen verursacht zu haben‘. Streckenbach erschien nie vor Gericht und starb 1977 unbehelligt hier in Hamburg. (…)
Es sind zwei Bürden, die die Überlebenden des Holocaust zu tragen haben – in Hamburg eine inzwischen wohl auf nur noch wenige hundert Menschen geschrumpfte Zahl. Die erste ist die Bürde der Erinnerungen an die Jahre des Schreckens, und da hat die Zeit gar nichts geheilt, im Gegenteil. Je größer der zeitliche Abstand wächst, desto näher kriecht das erlebte Grauen, desto kürzer werden die Abstände zwischen den unverhinderbaren Alpträumen und ihren höllischen Szenarien. Die zweite Bürde erwächst aus der zweiten Schuld: dass so gut wie straflos massen- und millionengemordet werden konnte. Wie sollen damit Menschen fertig werden, denen beim unfreiwilligen Einatmen die Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs unweigerlich Gedanken an die Gaskammern von Auschwitz, an die Gaswagen von Chelmno kommen? Die bei jeder ärztlichen Behandlung ankämpfen müssen gegen die Vorstellung klinischer Vivisektionen an KZ-Häftlingen, der Experimente von Caulberg und Mengele an den Frauen im Block 10 von Birkenau, Auschwitz II? (…)“