»Dort entstanden auf meinen Forschungsgängen durch die Stadt die kartografischen Arbeiten – Stadtpläne, in denen ich die meist historischen Kämpfernamen der Straßen mit den Namen von sogenannten Unkräutern austauschte – sie umbenannte«, erzählt der österreichische Künstler Lois Weinberger über seinen Arbeitsaufenthalt 1994/95 in Berlin. Durch seine Karten zeigt Weinberger die Stadt von einem anderen Standpunkt aus: die Natur erobert den städtischen Raum. Bei offiziellen Benennungen von Straßen, die in Hamburg im demokratischen Prozess durch Bezirksversammlung und Senatskommission für die Vergabe von Verkehrsflächen erfolgt, artikuliert sich häufig der gesellschaftliche Zeitgeist, im besten Falle eine Vision. Nicht immer sind die Beweggründe später nachvollziehbar, so dass man sich vor Über- oder Fehlinterpretationen hüten sollte.
1904 werden in Hamburg zum ersten Mal Straßen nach literarischen Figuren benannt, die Sentastraße nach der Lichtgestalt aus Richard Wagners »Fliegendem Holländer« und die Ortrudstraße nach dem intriganten bösen Weib aus seiner Oper »Lohengrin«. Dahinter verbirgt sich eine amüsante folgenreiche Geschichte: Wenige Jahre nach dem Tod Hans Heinrich David Wagners wird 1877 in Barmbek-Süd eine Straße nach dem Grundeigentümer benannt. Später führt ein Irrtum in der Administration dazu, dass man die Wagnerstraße dem Komponisten Richard Wagner zuordnet und auf diesem Irrtum das sogenannte Komponistenviertel aufbaut. Um auch den Komponisten Wagner in diesem Areal ehren zu können, nennt man die im Verlauf der Wagnerstraße über den Eilbekkanal führende Brücke 1904 Wagnerstraßenbrücke und gesellt ihr die Senta- und Ortrudstraße zu. Daneben ist im Komponistenviertel nur eine weitere Operngestalt durch die Stradellakehre (1930) vertreten. Sie erinnert an das außerordentliche Ereignis der Uraufführung der Oper »Alessandro Stradella« 1844 in Hamburg, die Flotows erster großer Erfolg war. Den Komponisten selbst hat man bereits 1899 durch eine Straße geehrt.
Stradella ist bisher die einzige Opernfigur in der Stadt, die nicht aus einer Wagner-Oper stammt: 1938 wird in Rissen westlich des großen Sandmoorwegs (1930), der sich in Nord-Süd-Richtung durch das versandete Moor zieht, mit dem Tannhäuserweg die erste Straße nach einem Titelhelden einer Wagneroper benannt. Tannhäuser, der beim Sängerstreit emphatisch Frau Venus und die heidnische Liebe besingt, wird von der heiligen Elisabeth auf den Pfad der Tugend geführt. Ein Erlösungsversprechen im Jahre 1938? Im Jahre 1945 folgt der Lohengrinweg nach dem edlen Gottesstreiter, der seine Gemahlin für immer verlassen muss, als sie die verbotene Frage nach seiner Herkunft stellt. Ein Unschuldiger! Erstaunt liest man in der amtlichen Erklärung, dass die Namensgebung sich auf den Protagonisten des gleichnamigen »mittelhochdeutschen Gedichts« bezieht. Sollte man Bedenken gehabt haben, sich auf den ins Zwielicht geratenden Wagner zu beziehen? Erhoben die Alliierten Einspruch? 1956 hegt man diese Zweifel offensichtlich nicht mehr, man erklärt offiziell, dass der Parsifalweg nach Wagners gleichnamiger Oper benannt sei, ebenso 1972 der Tristanweg und der Isoldeweg und 1973 der Rienziweg. Damit sind alle großen Wagneropern mit Titeln der Hauptgestalten vertreten.
Östlich des Sandmoorwegs benennt man bereits 1933, im Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialsten, zwei Straßen nach Siegfried, dem strahlenden jungen Helden des »Nibelungenliedes«, der mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist, und seinem Weib Kriemhild. Auch sie eine heldenhafte Gestalt, die nach der Ermordung Siegfrieds König Etzel heiratet, um an dessen Machtmittel zu gelangen und blutige Rache an ihrer ganzen Sippe zu üben. 1939 kommt die Brunhildstraße dazu, die zweite zentrale starke Figur des Nibelungenliedes, die nur dem Mächtigsten gehören will. Als Siegfried sie durch Betrug für Gunther gewinnt, lässt sie ihn durch Hagen töten.
1949 setzt man die Benennung nach Gestalten aus dem »Nibelungenlied« fort: Gernot, der zweite Burgunderkönig, Diplomat und Vermittler (Gernotstraße), Rüdiger, ein edler Markgraf und vorbildlicher Ritter, der in einen tragischen Zwiespalt gerät (Rüdigerau), Volker von Alzey, Spielmann und provozierender Spötter (Volkerweg). Zwei Jahre später Hildebrandt, ein Gefolgsmann des edlen Dietrich von Bern (Hildebrandtwiete). Gemeinsam fordern sie von Siegfrieds Mördern Genugtuung für die Tat. 1951 dann der Uteweg nach der Mutter Kriemhilds und der Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher, eine warnende Kassandra. Dazu der Alberichstieg und der Mimeweg nach den beiden Zwergen. Das Schlusslicht setzt 1985 einstweilen der Tronjeweg, offiziell nach der Gudrun- und der Nibelungensage benannt. Richtig ist, dass es in beiden Sagen einen Hagen gibt. Von Tronje heißt aber nur die zentrale Figur aus den Nibelungen. Hagen von Tronje ist der bedingungslos treue Vasall des schwachen Gunther und listige Mörder Siegfrieds.
Gleichzeitig beginnt man 1949 mit der Namensgebung nach dem Kudrun-Epos, auch Gudrunsage genannt: Gudruns Heldentum ist von anderer Art als das Kriemhilds und Brunhilds. Als die Tochter von Hilde und König Hettel Hartmut von Ormanies Werbung ablehnt, entführt er sie. Dreizehn Jahre muss Gudrun Magddienste tun, bis ihr Bruder Ortwien und ihr Verlobter Herwig sie befreien. Zu Gudrunstraße und Herwigredder gesellen sich drei Gestalten aus dem Umkreis König Hettels: Frute, ein Lehnsmann, der sich durch besondere Klugheit auszeichnet (Fruteweg), sowie zwei seiner Brautwerber: Wate, der wegen seiner Kunst im Schwertkampf bewundert wird (Wateweg), und Horand, der wie Orpheus mit seinem Gesang die Menschen bezaubern kann (Horandstieg). Ab 1952 ergänzt man das Personal des Epos durch Hartmutkoppel, Hettelstieg und Hildeweg (1954), Ortwinstieg (1955) und Iroldstieg (1955) nach Irold, der König Hettel bei der Brautwahl berät. Als man 1957 einen Weg nach Gerlind benennt, der Mutter Hartmuts, einer bösen Frau, die ihren Sohn zur Werbung und Entführung antreibt und Gudrun als Magd erniedrigt, ist das Personal der Gudrunsage nahezu vollständig.
1960 werden, doppelt paritätisch, zwei Straßen nach Nebenfiguren benannt: der Wolfrunweg nach einer Gestalt aus der »Gudrunsage« und der Siegrunweg nach eine Gestalt aus dem »Nibelungenlied«. 1969 entsteht der Hergartweg nach der Schwester Herwigs, einer ungetreuen Begleiterin Gudrun.
Die Straßennamen in Rissen zeigen, dass man nach dem Krieg an die Benennungspolitik während des Nationalsozialismus anknüpft. Es geht aber nicht mehr um die großen bedingungslosen Heldinnen und Helden, sondern um das gesamte Personal, und damit um die ganze Geschichte. Eine Gegenreaktion auf die Schrecken des Krieges bei gleichzeitiger Rückversicherung beim deutschen Mittelalter?
Die bedeutende Rolle, welche die mittelalterliche Literatur nach dem Krieg spielt, zeigt sich auch in anderen Stadtteilen, wo man sich selbst auf weniger bekannte mittelalterliche Werke bezieht. 1945 wird in Rahlstedt der Egilskamp nach dem Bogenschützen aus der »Edda« benannt. Seit 1948 gibt es in Niendorf die Hadubrandheide. Das »Hildebrandslied« erzählt, wie Hadubrand von seinem Vater Hildebrand in einem tragischen Zweikampf besiegt wird. Ob man dabei an die ursprüngliche Fassung aus dem 9. Jahrhundert denkt, in welcher der Vater seinen Sohn vermutlich tötet, oder an die mit einer Versöhnung endende Fassung aus dem 15. Jahrhundert, ist offen. Auffällig bleibt, dass die Straße nach dem Opfer und nicht nach dem Titelhelden und Täter benannt ist. Im selben Jahr beginnt man in Lokstedt mit dem Hartnitweg das Heldenepos »Wolfdietrich« ins Licht zu rücken. Diese erste Namenswahl erklärt sich vermutlich aus dem ursprünglichen Titel des Epos »Ornît und Wolfdietrich«. (Aus Ornît wurde später Hartnit.) 1956 folgen der eigentliche Held Wolfdietrich und der ihm treu zur Seite stehende Herzog Berchtung (Wolfdietrichweg, Berchtungweg). Von seinen Brüdern als Bastard vertrieben, sucht der Königssohn Wolfdietrich Schutz im Reich des Hartnit, tötet den dort hausenden Drachen, dem Hartnit erlegen ist, und gewinnt dessen Witwe und Reich. Ein erstarktes Selbstbewußtsein nach dem verlorenen Krieg? Der viel später, 1965, benannte Hildburgweg erinnert an Wolfdietrichs Mutter.
Eine ähnliche Motivation wie bei der hohen mittelalterlichen Literatur lässt sich bei der Benennung von Straßen nach unserem volkstümlichen Erbe mit seinen Märchen- und Sagenfiguren vermuten.
Zunächst tauchen sie sehr selten und hier und da in der Stadt verstreut auf. Auch handelt es sich dabei nicht um bestimmte Figuren, und ihre Namensgebung ist der Lage geschuldet wie 1904 die Feenteichbrücke über den Feenteich in Uhlenhorst, der im 19. Jahrhundert aus einer Moorlache entstand; die Hexentwiete in Rissen 1928, die an einen Hohlweg erinnert, der durch einen Tannenwald führte, wo angeblich Hexen hausten; der Nymphenweg 1935 am Außenmühlenteich in Wilstorf neben dem Nymphengraben; ganz in der Nähe die Elfenwiese und der Nixenstieg 1950 in Marmstorf; ebenfalls 1950 der Hexenberg in Altona und 1980 der Hexenstieg, ein Stichweg der Hexentwiete. Schließlich 2003 Teufelsbrück an der Elbe in Nienstedten, ein Ort, um den sich eine Legende um den Teufel spinnt.
1948 werden erstmals in Hamburg Straßen nach bestimmten Märchen- und Sagenfiguren benannt. In den im nördlichen Hamburg gelegenen Stadtteilen Lokstedt, Schnelsen und Niendorf, die 1927 zur preußischen Landgemeinde Groß-Lokstedt zusammengefasst und 1937 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz eingemeindet werden, bezieht man sich vor allem auf die Sammlung »Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauenburg« des germanistischen Mediävisten Karl Müllenhoff (1818–1884). Siebenschön heißt seitdem eine Straße in Lokstedt nach einem Märchen aus Puttgarden. Aus Müllendorfs regionalem volkstümlichen Schatz kommen auch zwei Sagen, deren Helden 1948 zu Straßennamen in Lokstedt wurden: Lembek (Klaas Lembeke), ein holsteinischer Ritter, der sich tapfer und mit List, aber erfolglos gegen seinen Belagerer, den dänischen König Waldemar IV. zur Wehr setzt, und Offa, Sohn des Herrschers in Angeln, der sein Land gegen die Holsteiner und Dänen schützen kann (Lembekstraße und Offakamp). Ein Sieger und ein Verlierer! Die wörtliche Rede ist in »Offas Kampf auf der Eiderinsel« auf plattdeutsch verfasst.
In Niendorf erfindet man 1948 den Hadermanns Weg nach der ebenfalls bei Müllendorf abgedruckten Sage »Hadermanns Brautfahrt«. Die plattdeutschen Verse erzählen von dem lustig-verrückten Ritt ins ferne Franken, wo auf dem Hof der Braut die Tiere das Regiment führen.
In Schnelsen nutzt man Müllenhoffs 1845 zuerst erschienene Sammlung als Quelle, als man 1948 vier Straßen benennt: Kulemannstieg, Anna-Susanna-Stieg, Königskinderweg und Goldmariekenweg. Das Märchen »Kulemann« erzählt, in der wörtlichen Rede wiederum auf plattdeutsch, von einem freundlichen Unterirdischen, der dem Bauern Klaas Neve Geld leiht und es ihm schenkt, als dieser es zur vereinbarten Zeit zurückgeben will. »Anna-Susanna« und »Et weren twe Königskinder« sind zwei kleine plattdeutsche Volksgedichte. Im ersten geht es um ein junges Mädchen, das aufstehen und putzen soll, um die erwarteten Freier zu empfangen, im zweiten bringt ein böses Weib den Tod, als die durch ein Wasser getrennten Liebenden zusammen zu kommen versuchen. Das von Müllenhoff gesammelte Märchen »Goldmarieken und Goldfeder« erzählt von einem Mädchen, welches das Wünschen gelernt hat und auf diese Weise sich und den Königssohn nicht nur vor der Hexe rettet, sondern ihn am Ende auch gewinnt. Ab 1950 folgen Namen nach Grimmschen Märchen: Dornröschenweg, Rumpelstilzchenweg 1968, Eisenhansweg 1969, Hänselstieg und Gretelstieg 1970. In den 1980er Jahren denkt man an einen wilden Gesellen – Klabautermann heißt seit 1986 eine Straße in der sogenannten Märchensiedlung. 1988 greift man noch einmal in Müllenhoffs Schatztruhe und wählt die Titelfigur des Märchens »Klaus Nanne«, das durch seine Kürze und das offene Ende modern wirkt.
Auch in Billstedt flüchtet man sich in die Märchenidylle, als die Anwohner und Anwohnerinnen der 1949 entstandenen Behelfsheimsiedlung ihren Wegen vor allem Namen aus der Grimmschen Welt geben. Diese Bezeichnungen werden 1952 bei der offiziellen Benennung der Straßen übernommen: Aschenputtel- und Sterntalerstraße, Gänseliesel-, Rosenrot-, Rotkäppchen-, Schneewittchen-, Drosselbart-, Froschkönigweg und Däumlingtwiete; dazu Prinzenweg, Riesenweg und Zwergenstieg.
Der Geist des Riesengebirges ist in der Rübezahlstraße präsent. Zwei weniger bekannte Figuren sind im Bärenhäuterweg und im Rautendeleinweg vertreten. Ersterer bezieht sich nach offizieller Angabe auf eine »Romanfigur aus Grimmelshausens Simpliciccimus«. Das Motiv des Mannes, der einen Pakt mit dem Teufel schließt, welcher Belohnung verspricht, wenn der Mensch ihm sieben Jahre dient, ohne sich zu reinigen und als Kleidung und Bettzeug nichts anderes als eine Bärenhaut benutzt, wurde aber auch von den Brüder Grimm in ihre Sammlung aufgenommen. Der zweite ist vermutlich nach einer Elfe in Gerhard Hauptmanns »Versunkene Glocke. Ein deutsches Märchendrama« benannt. Mit der Sultanstraße, der 1953 der Aladinweg folgt, kommt sogar ein bisschen orientalischer Zauber in das Billstedter Märchenviertel.
Personal aus Werken bestimmter Schriftsteller taucht zuerst 1910 in Barmbek-Nord mit der Lienhardstraße nach Pestalozzis (1746–1827) vierbändigem literarischen Hauptwerk »Lienhard und Gertrud« auf, das den Autor berühmt macht. Ein Zeichen für das Kinderheim der Pestalozzistiftung-Hamburg, das 1906 aus städtebaulichen Gründen nach Volksdorf umziehen muß. Warum aber fällt die Wahl auf den männlichen Titelhelden? Lienhard trinkt und spielt und bringt damit seine Frau und seine sieben Kinder in Not und Elend. Diese wirtschaftliche und sittliche Verwahrlosung ist nach Pestalozzis Überzeugung eine Folge der Korruption und des Eigennutzes der Herrschenden. Hilfe zur Selbsthilfe durch eine gründliche Elementarbildung schon vor der Schule ist sein pädagogisches Credo.
1938 beginnt eine Politik der Namensgebung nach literarischen Figuren, die deutlich vom Nationalsozialismus geprägt ist. Seit 1921 gedenkt man mit der Gorch-Fock-Straße des Schriftstellers, der 1916 in der Seeschlacht im Skagerrak fiel. Als vermeintlicher Kriegsverherrlicher und niederdeutscher Autor wird er von den Nationalsozialisten vereinnahmt, denen eine Straße in Eimsbüttel offenbar nicht genügt, so dass sie 1933 die Friedrich-Ebert-Straße, eine zentrale Verkehrsachse in der Innenstadt, in Gorch-Fock-Wall umbenennen. Doch damit nicht genug der Präsenz. 1938 kennzeichnet man in Billstedt eine Straße als Godenwind nach Gorch Focks »Hein Godenwind de Admirol von Moskitonien. Eine deftige Hamburger Geschichte«. Und auch in Finkenwerder fühlt man sich 1941 berufen, den Sohn der Insel gleich durch drei Straßen herauszustellen: Hans-Hinnik-Weg, Cilli-Cohrs-Weg und Hein-Saß-Weg, 1994 dann der Stichweg Hein-Saß-Stieg.
Bei einem anderen Hamburger, Hermann Claudius (1878-1980), muss man sich die Mühe der Vereinnahmung erst gar nicht machen. Der niederdeutsche Lyriker und Erzähler legt 1933 ein »Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler« ab und nimmt selbst nach dem Krieg an den 1949 wiederbegründeten Lippoldsberger Dichtertagen teil, bei denen man den Nationalsozialismus im Rückblick zu rechtfertigen sucht. Den 1940 vergebenen Namen Kiepenkerlsweg in Fischbek-Neugraben könnte man auf alte Sagen zurückführen, die vom Kiepenkerl und Diebeskuhlen im Falkenberg erzählen. Der Weg ist aber ausdrücklich nach Hermann Claudius Gedicht »Kiepenkerl vom Falkenberg« benannt, das 1909 auf plattdeutsch erscheint: »De Kiepenkerl vun’n Falkenberg«. Wollte man sich auf eine schriftliche Quelle beziehen? Wollte man implizit Hermann Claudius ehren? Der Straßenname Claudius war natürlich durch Matthias Claudius, seinen Urgroßvater, besetzt. Oder versteckt hier jemand raffiniert eine Botschaft? Das Gedicht von Claudius erzählt, wie der Kiepenkerl und viele andere Bauern der Umgebung sich auf dem Falkenberg mit dem Teufel einlassen. Der letzte Vers lautet: »haha! – Wat hett de Düvel lacht!«
1986 setzt eine Blankeneser Bürgerinitiative die Umbenennung der Frenssenstraße durch, an seine Werke erinnern drei Straßen weiterhin. Der Erfolg, den Gustav Frenssen (1863–1945), der von 1906–1912 in Blankenese wohnt, mit seinen Heimat- und Bildungsromanen hat, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Nach »Jörn Uhl«, dem ersten großen Erfolg im Jahre 1901 (Jörn-Uhl-Weg 1979 in Blankenese), kann der Pastor seine Stelle aufgeben. Von germanisch-völkischem Lebens- und Schicksalsglauben durchdrungen, bekennt der Schriftsteller, dessen Werke von Anfang an stark politisch-agitatorisch gefärbt sind, sich offen zum Nationalsozialismus. 1941 und 1942 werden in Blankenese zwei Straßen nach seiner 1911 erschienenen Erzählung »Der Untergang der Anna Hollmann« benannt: der Anna-Hollmann-Weg und der Gultweg nach dem Seemann Jan Gult, den Frenssen in der Kirche über Gott meditieren lässt, der die Menschen verlassen hat. 1947 fügt man die Babendiekstraße nach dem dickleibigen Entwicklungsroman »Otto Babendiek« von 1926 hinzu. Arno Schmidt hat sich bemüht, dieses Werk aus der Versenkung zu holen, und Tilmann Spreckelsen setzt sich in der FAZ vom 16. 3. 2003 dafür ein, indem er den Menschen und sein Werk differenziert betrachtet. Der Artikel endet: »Das Buch macht aus Gustav Frenssen keinen besseren Menschen. Und Frenssen aus ,Otto Babendiek’ kein schlechteres Buch.«
Keinen völkisch raunenden, sondern einen lustigen Ton schlägt der plattdeutsche Schriftsteller John Brinckmann (1814–1870) aus Mecklenburg in seiner Lügen- und Spaßgeschichte »Peter Lurenz bi Abukir« und in den Erinnerungen an seine Kindheit »Kaspar-Ohm un ick« an (1943, Peter-Lurenz-Weg in Eißendorf 1950 Kaspar-Ohm-Weg in Wellingsbüttel). Plattdeutsche Heimatliteratur im und nach dem Krieg ist es gleichwohl.
Vergnügt geht es auch in den Volkskomödien des plattdeutschen Dramatikers und Balladendichters Hermann Boßdorf (1877–1921) zu, der ein Jahr nach seinem Tod wie Gorch Fock mit einer Straße in Eimsbüttel geehrt wird. Als Richard Ohnsorg 1920 die »Gesellschaft für dramatische Kunst« in »Niederdeutsche Bühne« verwandelt, braucht er plattdeutsche Stücke, und die gibt er u.a. bei Hermann Boßdorf in Auftrag, dessen erste Komödie im Jahre 1919 ein Erfolg gewesen war. Mit dem Kramer-Kray-Weg (1950) und vier weiteren Straßen im Jahre 1984 – Maike-Harder-Weg, Hartje-Rüter-Weg, Tönns-Wulf-Weg und Krischan-Kreibohm-Weg – ehrt Poppenbüttel den Mitbegründer des plattdeutschen Dramas, dessen Stücke hin und wieder noch aufgeführt werden.
Auch in anderen nordöstlichen Stadtteilen Hamburgs werden im Jahre 1950 Straßen nach literarischen Gestalten benannt, wobei man sich dort auf Schriftsteller der Weltliteratur bezieht. Aber weiterhin sind es heimatliche Autoren, deren Werke zumeist in Norddeutschland angesiedelt sind.
In Bramfeld knüpft man mit dem Havermannstieg aus Reuters (1810–1874) bekanntestem Roman »Ut mine Stromtid« an die seit 1890 bestehende Fritz-Reuter-Straße an. 1951 weist man Karl Havermanns altem Freund Bräsig die größere Straße zu. Er ist die wohl populärste Figur des mecklenburgischen Vertreters des großen realistischen plattdeutschen Romans, ein gutmütiger Gutsverwalter voll Lebensklugheit, dessen Streben nach höherer Bildung zu den komischsten Szenen führt. Bräsig vermittelt Havermann eine Stelle als Gutsverwalter. Der behäbige Gutspächter Jochen Nüßler bekommt ebenfalls 1951 einige Straßen weiter, auf Abstand den Nüßlerkamp.
Wie die Wahl von Brinckmann, Boßdorf und Reuter auch zeigt, hat man nach dem Krieg ein großes Bedürfnis, sich zu amüsieren und zu lachen.
In Rahlstedt besinnt man sich endlich auf den in Alt-Rahlstedt verstorbenen Detlev von Liliencron (1844–1909) und ehrt ihn 1950 mit der Liliencronstraße. Als Lyriker schuf der Dichter ganz neue impressionistische Gedichte. In Hamburg bezieht man sich aber zunächst auf den Balladendichter und seinen plattdeutsch verfassten »Pidder Lüng«, dessen Strophen mit dem bekannten Vers enden: »Lewwer duad üs Slaav! (Lieber tot als Sklave). 1950 ein Bekenntnis? Oder die Liebe zum Altvertrauten? Dem Pidder-Lüng-Weg stellt man 1955 das Pogwischrund gegenüber, nach Henny Pogwisch, dem dänischen Gegenspieler von Pidder. Mit dem Wiebekestieg kommt dann 1958 der impressionistische Liliencron zur Geltung. Wiebke ist eine Äbtissin, vor deren Augen eine Nonne von ihrem Liebsten entführt wird. Als sich die Erstarrung löst, laufen alle Nonnen neugierig ans Fenster und: »Schauen in die Frühlingsfelder./Hören wie die Lerchen singen./Fern am Waldesrand ein Hufblitz/Sendet letzten Gruß zurück.« Ein heiterer, versöhnlicher Schluss in einem ganz neuen Ton. Eine Feier des unmittelbar Geschauten.
Nachdem die 1950er Jahre in Rahlstedt Liliencron gehörten, wendet man sich in den 1960er Jahren erneut Theodor Storm (1817–1888) zu, der bereits vor 1949 eine Straße erhielt. Mit dem Schimmelreiterweg, der in Hauke-Haien-Weg übergeht, und dem Poppenspälerweg gedenkt man 1964 der zwei vielleicht bekanntesten Novellen des realistischen Erzählers, die damals auch Schullektüre sind. Als der Deichgraf Hauke Haien sich bei einer Jahrhundertsturmflut weigert, seinen nach neuen Methoden gebauten Deich mit Durchstichen des alten zu gefährden, überflutet das Meer das Land. Mit den Worten »Herr Gott, nimm mich; verschon die anderen«, stürzt Hauke Haien sich mit seinem Schimmel ins Meer. Sein Kampf mit den Elementen ist verloren. In der zweiten Novelle gründet Paul, der als Kind vom Puppenspiel fasziniert ist, eine bürgerliche Existenz, heiratet gegen alle Konventionen Lisei, die Tochter des Puppenspielers, (Liseistieg 1971) und wird glücklich mit ihr. Die Zeit des Marionettenspiels scheint vorbei, der alte Puppenspieler stirbt aus Gram. Eine Erzählung über das Thema Künstler und Bürger.
72 Straßennamen sind nach männlichen Figuren benannt, 37 nach weiblichen. Wäre es an der Zeit, den Standpunkt zu wechseln und eine Parität anzustreben und gleichzeitig die Lesekultur zu fördern? Die Dringlichkeit, unser Verhältnis zur Natur zu erneuern, könnte bei der Auswahl der Namen eine Richtung weisen.
Brita Reimers, Verlagslektorin, Pressereferentin, Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte, Biografien und Gärten