In den 1940er- bis 80er-Jahren wurden in Deutschland geschätzte acht bis zwölf Millionen Kinder auf Veranlassung von Amtsärztinnen und -ärzten zu mehrwöchigen Kuraufenthalten „verschickt“, zum Teil auch auf norddeutsche Inseln. Körperliche „Ertüchtigung“, Auskurieren von Atemwegsinfektionen, Gewichtszunahme und allgemeine Erholung standen hierbei lange offiziell im Vordergrund. Tatsächlich aber weisen Erfahrungsberichte ehemals verschickter Kinder auf regelmäßig stattfindende Erniedrigungen, willkürliche Strafen sowie psychische und körperliche Gewalt durch die Betreuenden während der Kuren hin. Auch in Hamburg wurden etwa 120.000 Kinder und Jugendliche zwischen 1945 und 1980 auf ärztlichen Rat von der Hamburger Sozialbehörde zur „Erholung“ oder „Genesung“ verschickt. Entgegen dem Versprechen der Träger der Kurheilkliniken mussten sie dort zum Teil bis heute nachwirkende schmerzliche Erfahrungen machen.
Um das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder in Einrichtungen der Ballin Stiftung und die damalige Rolle der Freien und Hansestadt Hamburg aufzuarbeiten, gaben die Sozialbehörde und die Ballin Stiftung Ende 2020 ein umfangreiches Forschungsprojekt bei der Evangelischen Hochschule Hamburg des Rauhen Hauses in Auftrag. Ziel der Studie war zum einen, den Alltag der Kinder vor Ort zu untersuchen und den Betroffenen Gehör zu verschaffen. Zum anderen ging es darum, die Rolle der damaligen Sozialbehörde und ihrer Aufsichtsfunktion kritisch zu hinterfragen.
Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer: „Hamburger Kinder sollten in den Kurheilkliniken gesundheitliche Hilfe erhalten. Doch anstatt dass ihre Gesundheit im Rahmen einer Kinderkur gestärkt wurde, waren sie oftmals physischer und psychischer Gewalt, Erniedrigung und Demütigung hilflos ausgesetzt. Die Auswirkungen dieser traumatischen Erlebnisse haben sich häufig über viele Jahre festgesetzt und ihren weiteren Lebensweg negativ beeinflusst. Dafür, dass die Sozialbehörde die Beschwerden von Eltern vernachlässigte und sich mit ihrer Aufsichtsfunktion nicht schützend vor die Kinder stellte, bitte ich im Namen des Hamburger Senats um Entschuldigung. Der nun vorliegende Abschlussbericht der Studie soll uns allen Ansporn und Appell sein, den Diskurs über Kinderrechte und deren Umsetzung weiter beharrlich voranzubringen, damit Kinder in unserer Gesellschaft ein gutes und gesundes Aufwachsen erleben. Der Schutz von Kindern ist und bleibt eine fundamentale Verpflichtung, der wir uns als Gesellschaft und als Institutionen stellen.“
Jens Petri, Pädagogischer Vorstand der Ballin Stiftung: „Wir als Ballin Stiftung beziehungsweise der Verein für Kinder- und Jugendgenesung, der 1987 mit der Ballin Stiftung zusammengeführt wurde, haben in mehreren Heimen über Jahrzehnte hinweg Verschickungskuren angeboten. Durch Medienberichte sind wir ab 2019 darauf aufmerksam geworden, dass viele Kinder dort sehr unter der Betreuung gelitten haben. Immer wieder wurde von herzloser und harter Behandlung berichtet, vom Zwang aufzuessen, von beschämenden Strafen, Bloßstellungen vor der Gruppe, Misshandlungen, Gewalt und weiterem mehr. In vielfacher Hinsicht lesen sich diese Praktiken wie das genaue Gegenteil von dem, was die Pädagogik empfiehlt: Bestrafung statt positiver Bestärkung, Beschämung statt Förderung des Selbstbewusstseins, Bloßstellung vor der Gruppe statt Förderung eines stärkenden Miteinanders, Zwang zur Unterordnung statt Einladung zur Partizipation, … diese Liste ließe sich fortsetzen. Die Studie hat diese Praktiken bestätigt, sie waren keine Einzelfälle, sondern in den Strukturen angelegt. Wir können das leider nicht ungeschehen machen. Aber wir können und wollen uns unserer Vergangenheit stellen, öffentlich machen was passiert ist, das Leid der Betroffenen anerkennen und uns bei ihnen entschuldigen. Wir hoffen, dass diese Transparenz und die weitere Beschäftigung mit dem Thema für die Betroffenen einen Beitrag zur Bewältigung leisten kann.“
Das Forschungsprojekt der Evangelischen Hochschule Hamburg des Rauhen Hauses wurde seit 2021 unter enger Beteiligung eines wissenschaftlichen Beirats durchgeführt, dem auch ehemalige Verschickungskinder angehörten. Wesentlichen Anteil an den Ergebnissen der Studie hatten Interviews mit ehemaligen Verschickungskindern. Die Studie fand Hinweise auf eine rigide Ausgestaltung des Heimalltags, die bei den Betroffenen bis heute fast durchgehend als stark einschränkend beziehungsweise verletzend erinnert werden. Auf individuelle Bedürfnisse der Kinder wurde in diesen Situationen wenig Rücksicht genommen. Zugleich macht die Studie deutlich, dass die Kontrollmechanismen zur Wahrung der kindlichen Bedürfnisse nicht im ausreichenden Maße vorhanden waren – weder in den Einrichtungen selbst noch durch staatliche Kontrollinstanzen.
Die Studie kann bei der Verlagsgruppe Beltz bezogen werden und ist in der PDF-Version kostenlos