Schulische Programme und spezielle Qualifizierungsmaßnahmen für Hamburger Schulen
Das „Soziale Kompetenztraining“ ist ein Gruppentraining für 3. – 6. Klassen und wirkt stärkend auf die sozialen Kompetenzen von Schüler:innen ein.
Zielgruppe sind u. a. aggressive Kinder und sozial unsichere, ängstliche Kinder, die gemeinsam mit sozialkompetenten Kindern am Training teilnehmen. Es zielt auf den Aufbau und die Einübung sozialer Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen im Kontext der Schule. Theoretische Grundlagen des Programms sind die Theorie der sozialkognitiven Informationsverarbeitung von Dodge (1993) und das Konzept der Selbstwirksamkeit von Bandura (1979).
Unter idealen Bedingungen sollte das Sozialtraining von zwei Trainer:innen, wöchentlich 90 Minuten in einem Zeitraum von ca. fünfzehn Wochen, durchgeführt werden. Die Größe der Gruppe ist von der Zusammensetzung und den unterschiedlichen Ausgangslagen der Kinder abhängig. Aus Erfahrung sollte eine Gruppe aus höchstens zwölf Kindern bestehen.
Inhalte
Das Training beinhaltet Module zu den Themen: soziale Wahrnehmung, Gefühle, Kommunikation, Kooperation, Verhaltensaspekte und Einfühlungsvermögen. Alle Module bieten verschiedene Sitzungen an. Die Einführung ins Training erfolgt über eine Einstiegssitzung, hierzu werden entsprechende Ideen vorgestellt. Der Ablauf jeder Trainingssitzung ist ritualisiert und umfasst verschiedene Methoden, wie z. B. Rollenspiele, Befindlichkeitsabfragen, Entspannungsübungen, Energizer, Gruppenvereinbarungen oder auch die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle.
Erfahrungen
Die Erfahrungen zeigen, dass die Möglichkeit des flexiblen Einsatzes der Bestandteile des Programms ein großer Vorteil des Trainings ist. Wenn die Schule eine Entscheidung für das „Soziale Kompetenztraining“ getroffen hat und Ressourcen für die Umsetzung bereitstellt, dann sind die Aussichten ermutigend.
Fortbildung für Lehrkräfte
Die Anwendung des Trainings setzt eine Qualifizierung voraus. Diese wird von der der Beratungsstelle Gewaltprävention (B43) durchgeführt. Die Fortbildung umfasst eine Schulung von drei Tagen. An zwei weiteren Nachmittagen findet eine kollegiale Supervision statt. Damit erwerben die Teilnehmer:innen die Kompetenzen zur selbstständigen Durchführung des Trainings und zu dessen Anpassung an verschiedene Schüler:innengruppen und Durchführungsbedingungen.
Schulische Rahmenbedingungen
Eine Zuteilung von Wochenarbeitsstunden für Lehrkräfte, die spezielle Trainings für Schüler:innen anbieten, ist erforderlich. Die Qualifizierungsmaßnahme wird über das Handlungskonzept „Handeln gegen Jugendgewalt“ finanziert, die Beratungsstelle Gewaltprävention bietet eine Beratung und Prozessbegleitung bei der Implementierung an den Schulen.
Fazit
Insgesamt gibt es positive Erfahrungen mit der Maßnahme „Soziales Kompetenztraining“ an Schulen. Sie ist für die Kinder selbst lehrreich und fördert den empathischen, achtungsvollen Umgang untereinander. Die sichtbare Wirkung der Gruppensitzungen auf die Schüler:innen wird von den beteiligten Lehrkräften ebenfalls als positiv empfunden. Mittlerweile wurden rund 900 pädagogische Fachkräfte aus Schule und Jugendhilfe fortgebildet.
219 Hamburger Schulen (u. a. 146 Grundschulen, 59 Stadtteilschulen, 10 Gymnasien) haben Soziale-Kompetenz-Trainer:innen ausbilden lassen.
Zugangswege
Die Beratungsstelle Gewaltprävention schreibt fortlaufend zur Qualifizierung der Lehrkräfte zum Sozialen Kompetenztraining über die Schulleitungen aus.
Mitarbeiter:innen von Jugendhilfeträgern können sich ebenfalls zu dieser Fortbildung anmelden (hier bitte zuvor Kontaktaufnahme mit den bezirklichen Jugendämtern).
Die Fachkräfte Gewaltprävention im Kindesalter (GiK) sind bezirklich aufgestellte Tandems, bestehend aus einer Fachkraft ReBBZ und einer Fachkraft ASD. Schulen melden Kinder mit problematischem Verhalten über das ReBBZ an das GiK-Regionalteam. Diese entscheiden nach gemeinsamer Diagnostik und gemeinsamen Fachgespräch, welches Hilfeangebot für das betreffende Kind, geeignet und notwendig ist. U. a. könnte das Gruppentraining „Soziales Kompetenztraining“ die einzubringende Ressource sein. Diese kann durch ein Trainer:innentandem aus Schule/Jugendhilfe gewährleistet werden. Die GiK-Fachkräfte sind stets über die Ausschreibungen des „Sozialen Kompetenztrainings“ informiert, wissen, wo entsprechende Bedarfe sind und sprechen mögliche neue Trainer:innentandems in Rücksprache mit der Beratungsstelle Gewaltprävention ab.
„Cool in School“ und Qualifizierungsangebot (CIS)
Anwendung / Zielgruppe
Mit diesem Angebot der Beratungsstelle Gewaltprävention wird Schulen die Möglichkeit gegeben, ein geschlechtergetrenntes Gruppenangebot für die Altersgruppe der 12 bis 15 Jährigen vorzuhalten, die im schulischen Kontext gewaltauffällig sind.
Die Durchführung des Trainings eignet sich auch für Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen. Die Auswahl der Teilnehmer/- innen zu den Trainingskursen erfolgt nach einem diagnostischen Erhebungsbogen. Teilnehmende können nach § 49 HmbSG zum Training verpflichtet, sich freiwillig für die Teilnahme melden oder vom schulischen Personal empfohlen werden.
Ziel
Ziel ist, die Schulen im Rahmen dieser Maßnahme im Umgang mit gewaltauffälligen Schülerinnen und Schülern professionell zu qualifizieren und auf lange Sicht hin selbstständig handlungsfähig zu machen. Eine umfangreiche Qualifizierung sichert die Qualität der Ausbildung, eine Prozessbegleitung (Coaching) unterstützt die Trainingskurse mit den Kindern bzw. Jugendlichen.
Methode
Ein auf 22 Sitzungen angelegtes deliktspezifisches, sozialpädagogisch- psychologisches Gruppentraining für gewaltbereite Mädchen und Jungen auf der Grundlage der Konfrontativen Pädagogik. Es beruht auf einem lerntheoretisch-kognitiven Paradigma, das heißt: es nutzt lerntheoretische bzw. verhaltenstherapeutische Erkenntnisse und Methoden wie z. B. Modelllernen und differenzielle Bekräftigung sowie provokative, die Fehlleistungen des Täters hinterfragende Techniken, um das gewalttätige Verhalten abzubauen. Die Durchführung in den Schulen wird in Rahmen einer Prozessbegleitung (Coaching) unterstützt. Problemlagen, die sich eher im außerschulischen Bereich abbilden, können über Jugendhilfeträger im Hamburger Raum in außerschulischen Coolnessgruppen bearbeitet werden. Die Trainingsgruppen werden immer von mindestens zwei Trainer/ Trainerinnen geleitet. Mindestens einer dieser beiden Trainer/ Trainerinnen muss dabei aus dem jeweiligen schulischen System kommen.
Voraussetzungen
Die Qualifizierung zum „Cool in School“ Trainer/ Trainerin wird von der Beratungsstelle Gewaltprävention ausgerichtet. Die Fortbildung ist sehr zeitintensiv, umfasst ca. 20 dreistündige Seminarsitzungen, zwei Kompakttage sowie ein dreitägiges Wochenendseminar und sollte im Rahmen der Wochenarbeitszeit abgesichert werden. Die Durchführung eines ersten Trainingskurses findet ausbildungsbegleitend statt.
Die Teilnehmer/-innen setzen sich aus Erziehern, Lehrkräften und Sozialpädagogen aus Schulen, ReBBZ und der Jugendhilfe zusammen Die Qualifizierung zum „Cool in School“-Trainer/-in wird von der Beratungsstelle Gewaltprävention als Regelangebot ausgeschrieben.
Bewerbungen sind nur über die Schulleitungen und nur im Tandem möglich. Es wurden interne Evaluationen bzgl. der Akzeptanz und Wirkung der Maßnahme durchgeführt und Qualitätsstandards bzgl. der Ausbildung und der Umsetzung an Schulen formuliert, die auf der Homepage der Beratungsstelle Gewaltprävention zur Verfügung stehen:
http://www.hamburg.de/cool-in-school-evaluation
https://www.hamburg.de/cool-in-school/qualitaetsstandards
Erfahrungen
Seit 2008 hat die Beratungsstelle Gewaltprävention elf Qualifizierungskurse mit über 160 Fachkräften durchgeführt.
Insgesamt konnten seit 2008 ca. 282 Trainings mit 1886 Schülerinnen und Schülern umgesetzt werden (Stichtag 31.12.2022).
Insgesamt ist der Erfolg der Qualifizierung zum „Cool in School“-Trainer/Trainerin als auch ihre Arbeit an den Schulen und deren Wirkung auf den Umgang mit gewaltbereiten Schülerinnen und Schülern positiv, wie die Ergebnisse der Evaluationsdurchgänge seit 2012 zeigen (siehe oben) Die Trainings werden zielgerichtet eingesetzt und die Wirksamkeit ist in einem hohen Maße nachgewiesen. Die Maßnahme wird von den Schulen allerdings noch nicht als unterrichtsersetzende Maßnahme bei mehrtätigen Unterrichtsausschlüssen verwendet. Hier könnte nachgesteuert werden.
„Bully Book“, ein Arbeitsheft inklusive Betreuungsangebot für suspendierte Schülerinnen und Schüler
Anwendung/ Zielgruppe
Das Arbeitsbuch für Hamburger Schülerinnen und Schüler, die wegen einer Gewalttat für mehr als drei Tage vom Unterricht suspendiert sind, wurde 2010 eingeführt. Altersstufe:12 bis 16 Jahre. Eine modifizierte Fassung eignet sich auch für Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen. Des Weiteren existiert eine Version „Bully Book light“, die nur die Darstellung des Vorfalls aus der Sicht des Tatverdächtigen abfragt (kann ggf. zur Sachverhaltsermittlung bei §49-Verfahren genutzt werden).
Ziel
Das Arbeitsbuch dient einerseits der Selbstreflexion, andererseits ermöglicht es im Austausch mit einer beratenden Fachkraft die Prüfung von angemessenen Wiedergutmachungsleistungen zur Reintegration und langfristige Verhaltensmodifikationen.
Methode
Das Heft ist wie ein Fragenkatalog konzipiert, hinterfragt das aktuelle Konfliktgeschehen (Anlass der Suspendierung) und beleuchtet in mehreren Kapiteln verschiedene Lebensbereiche der Schülerin, des Schülers. Somit hat die betroffene Schülerin, der betroffene Schüler die Auflage, sich zu einzelnen Beratungsterminen einzufinden, bei denen gemeinsam die einzelnen Themen des Buches bearbeitet und das eigene Verhalten reflektiert werden. Ziel ist es, der, dem Jugendlichen eine realistische Sicht über ihre, seine individuelle Problematik in unterschiedlichen Lebensfeldern (Familie, Freunde, Schule, Perspektive etc.) zu vermitteln und gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln. Schulen erhalten nach Abschluss der Testphase auf Nachfrage das Bully Book und stellen es bei Suspendierungen und Unterrichtsausschlüssen den betroffenen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Eine Betreuung im Rahmen von 2-3 Gesprächsterminen wird über die Beratungsstelle Gewaltprävention gewährleistet. Ein Flyer für Lehrkräfte, Eltern und Jugendliche informiert über die Ziele und Hintergründe des Bully Books. Ein zeitnaher Erstkontakt mit der Beratungsstelle Gewaltprävention erläutert das weitere Vorgehen.
Voraussetzungen
Die schulischen Fachkräfte werden im Rahmen von kurzen Fortbildungen oder im Einzelberatungen in die Handhabung des Heftes eingeführt. Sie verpflichten sich bei der Beantragung der Arbeitshefte einen Rückmeldebogen auszufüllen und zurückzusenden, damit eine Statistik geführt und ein Feedback eingeholt werden kann.
Erfahrungen
Das Arbeitsheft wird intensiv in den Stadtteilschulen und ReBBZ genutzt. Die Rückmeldungen erfolgen persönlich an die Fachkraft in der Beratungsstelle Gewaltprävention; das Übersenden des Rückmeldebogens bleibt leider häufig aus.
In einer ersten Evaluation konnten 37 Bully Book Begleitbögen und 20 Feedbackbögen für Jugendliche aus 19 Schulen aus den Jahren 2011 bis 2013 ausgewertet werden. Die Stichprobe resultiert aus einer Gesamtheit von 180 Bully Books aus 30 Schulen und ist hochselektiv (siehe oben). Die Bearbeitung des Bully Books wurde von den betreuenden Personen überwiegend als erfolgreich eingeschätzt.
Deutlich wird, dass das Bully Book, dort, wo es bearbeitet wurde, bei den Jugendlichen auf Resonanz stieß und als positive Möglichkeit der Selbstreflexion empfunden wurde. Suspendierungsgründe bestanden zu über 50% in (schwerer) körperlicher Gewalt. Begleitmaßnahmen zur Bully Book Bearbeitung waren in knapp 50% der Fälle Maßnahmen zum Täter-Opfer-Ausgleich oder Entschuldigungen. Erfolgreiche Bully Book Bearbeitungen zeichnen sich in verstärktem Maße durch eine Involvierung der Familie der „Delinquenten“ sowie Wiedergutmachungsleistungen aus.
„Koole Kerle – Lässige Ladies“ (KK/LL)
Anwendung/ Zielgruppe
Jungen bzw. Mädchen von 12 bis 16 Jahren, die bereits durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen sind. Geeignet für Schülerinnen und Schüler der Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Schulen.
Ziel
Sensibilisierung zur Änderung des gewalttätigen Verhaltens von Schülerinnen und Schülern.
Methode
Handlungs- und bewegungsorientierter Kompakt-Workshop mit praktischen Trainingssequenzen, Entspannungs- und Reflexionseinheiten.
Das Trainingsprogramm „Koole Kerle“ ist inhaltlich und konzeptionell kongruent zum Konzept „Lässige Ladies“. Die Durchführung der Module und deren inhaltliche Gestaltung wurden aber geschlechtsspezifisch ausgerichtet.
Voraussetzungen
Die eintägige Fortbildung für Lehrkräfte beschäftigt sich mit theoretischen Grundlagen zur Entstehung von gewalttätigem Verhalten und vermittelt Grundzüge und theoretische Inhalte der konfrontativen Pädagogik. Neben der intensiveren Vorstellung der Konzepte „Koole Kerle / Lässige Ladies“ werden einzelne Inhalte der Übungen auch im Rollenspiel und durch praktische Übungen vertieft. Ein weiterer Teil der Fortbildung befasst sich mit der Steigerung der Nachhaltigkeit durch Einbinden der Inhalte in den Schulalltag. Hier werden auch Erfahrungen aus den Gruppen beschrieben und Tipps im Umgang mit gewaltauffälligen Kindern und Jugendlichen gegeben.
Eine zweite Fortbildung in „Konfrontativer Gesprächsführung“ ist optional zu besuchen. Schulen und Lehrkräfte können bei Bedarf auf ein Coachingangebot der Programmdurchführenden zurückgreifen.
Die Ausschreibung erfolgt über die Beratungsstelle Gewaltprävention.
Für die Koordinierung vor Ort sollte eine Zeitressource zur Verfügung gestellt werden.
Erfahrungen
Insgesamt konnten seit 2008: 31 Fortbildungen mit 292 teilnehmenden Fachkräften, ca. 101 Kurse für ca. 675 Schüler/ innen durchgeführt werden.
"Begleitung von Opfern in Schulen“ (BeOS) Die Viktimologie (Lehre vom Verbrechens-Opfer) ist eine relativ junge Disziplin. Lange Zeit wurde die Opferperspektive bei der Bearbeitung von Gewaltvorfällen vernachlässigt. Opfer sind nicht durch besondere Merkmale gekennzeichnet (im Sinne von Opfertypen), sie befinden sich jedoch durch ihre Opferwerdung in einer schwierigen Situation, die zuweilen auch ihre Umwelt überfordern kann.
Der Opferschutz resultiert als Konsequenz aus der verstärkten Fokussierung auf die Opferperspektive. Er dient dem Schutz des Opfers und der Vertretung seiner Interessen/ Rechte ebenso wie der Prävention von potentieller Opferwerdung.
Die bisherige Unterstützung von Opfern an Hamburger Schulen durch schulische Fachkräfte, ReBBZ-Fachkräfte, BBZ-Fachkräfte oder BZBS-Fachkräfte erfolgte nicht durch standardisierte fachliche Verfahren bzw. wurde nicht durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen unterstützt. Seit 2012 bieten wir die Qualifizierung BeOS „Begleitung von Opfern in Schulen“ an. Diese wurde im Schuljahr 2017/2018 durch die vertiefenden Aspekte zum Kinderschutz erweitert.
BeOS-Fachkräfte (Schule, ReBBZ, BZBS, BBZ), GiK-Fachkräfte, Kinderschutz- und Gewaltmoderator:innen (jeweils nur ReBBZ), schulische Kinderschutzfachkräfte und die Fachkräfte der schulischen Beratungsdienste sind alle beratend oder in der schulischen Einzelhilfe tätig, ihre Kompetenzen ergänzen sich. Die Kooperation im Team ist fachlich erforderlich. Die fachlichen Schwerpunkte aller Kolleg:innen unterscheiden sich, ermöglichen dadurch eine umfassende Hilfestellung in der Einzelhilfe bzw. im System Schule.
Ausgangslage
Körperliche Auseinandersetzungen, Gewalthandlungen, Ausgrenzungsprozesse und Mobbing unter Schüler:innen werden an Hamburger Schulen seit vielen Jahren von allen Beteiligten beobachtet. Bei dem Thema Gewalt an Schulen denken wir zunächst an die Täter:innen bzw. Tatverdächtigen! Wo bleiben die Opfer, wie unterstützen und helfen wir ihnen? Sind unsere Maßnahmen bzgl. des Opferschutzes angemessen und ausreichend? Diese Einstiegsfragen führten uns einerseits zur Analyse der schulischen Gewaltmeldungen, andererseits zu Fallanalysen einzelner Kinder/Jugendlicher, deren physische oder psychische Verletzungen dramatisch waren.
Im Ergebnis entwickelten wir das Qualifizierungskonzept „Begleitung von Opfern in Schulen“ (BeOS), das im Februar 2013 mit 24 Teilnehmer:innen startete.
Die Nachhaltigkeit dieser Qualifizierung in Schulen soll darüber erreicht werden, dass die qualifizierten Fachkräfte mit der Schulleitung, im Kollegium, mit Schüler:innen und Eltern über standortspezifische Verbesserungen, Projekte und Maßnahmen nachdenken und angemessene Angebote in die Tat umsetzen.
Qualifizierung
Für die Umsetzung der Maßnahme werden Fachkräfte der Beratungsdienste Hamburger Stadtteilschulen, Gymnasien und Beruflichen Schulen, Fachkräfte der regionalen Beratungs- und Bildungszentren (ReBBZ) Abteilung Beratung, Fachkräfte des Beratungs- und Unterstützungszentrums Berufliche Schulen (BZBS), sowie Fachkräfte des Bildungs- und Beratungszentrums Pädagogik bei Krankheit / Autismus (BBZ) ausgewählt. Die Fortbildungsmodule und Supervisionsangebote basieren auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Traumatologie, der Notfallpsychologie, der Notfallseelsorge, der Kriminologie und der systemischen Supervision. Die professionelle Arbeit der Krisenintervention wurde ebenso berücksichtigt wie die therapeutischen Aspekte der Opferbegleitung. Die Fortbildung vermittelt Kompetenzen im Bereich der Gesprächsführung und im Umgang mit schulischen Opfern. Dazu gehört das Erfassen frühzeitiger Anzeichen und Signale einer Traumatisierung, das Vermitteln betroffener junger Menschen an entsprechende Fachstellen und Institutionen, das Anbieten konstruktiver Wege der Konfliktbewältigung, um den Opfern so eine möglichst unbeschwerte Rückkehr in den Schulalltag zu ermöglichen.
Nach der Qualifizierung
Fachkräfte berichten, dass sich die Fokussierung auf das Opfer durch die Qualifizierung deutlich erhöht hat.
Auch die Eltern des Opfers nehmen das Gesprächsangebot dankbar an.
Die BeOS-Fachkräfte haben die Möglichkeit an den regelhaft stattfindenden kollegialen Supervisionen und Zusatzmodulen teilzunehmen, um das erworbene Fachwissen zu vertiefen.
Aufgaben der BeOS-Fachkräfte
Die BeOS-Fachkräfte können die Schulleitung/Leitungen beraten und unterstützen. Sie informieren die schulischen Leitungskräfte über die Unterstützungsmöglichkeiten im Einzelfall sowie für das System Schule (Einzelhilfe, Fortbildung, Prävention, schulisches Krisenteam, Vernetzung und Kooperation mit Fachberatungsstellen).
Die schulischen BeOS-Fachkräfte unterstützen in ihrer Rolle die Kolleg:innen bei speziellen Fragen zum Opferschutz und in deren Fallverständnis und entwickeln gemeinsam eine Handlungskette.
Bei Fragen zum Kinderschutz unterstützen die schulischen BeOS-Fachkräfte die Kolleg:innen zur Entwicklung eines abgestimmten, zielgerichteten Handelns.
Empfohlen wird, dass die BeOS-Fachkraft Mitglied des schulinternen Krisenteams ist.
Die BeOS-Fachkräfte der ReBBZ unterstützen ebenso ihre Kolleg:innen innerhalb der ReBBZ, unterstützen ggf. die Fachkräfte der Schulen in ihrer regionalen Zuständigkeit oder halten schulische Informationsveranstaltungen ab.
Die BeOS-Fachkräfte der ReBBZ, des BZBS und des BBZ erarbeiten ggf. eine Übersicht über das zur Verfügung stehende Beratungssystem der Region.
Die schulischen BeOS-Fachkräfte erhalten diese Übersicht für die Erledigung ihrer beratenden Aufgaben.
Im Folgenden sollen einige konkrete Maßnahmen vorgestellt werden, die bei dem Ausschluss und der Beurlaubung zur Anwendung kommen können:
Arbeitsauflagen
Arbeitsprozesse erfordern fast immer ein umsichtiges und vorausschauendes Handeln und setzen die Übernahme von Verantwortung sowie Leistungsbereitschaft voraus. Für Schülerinnen und Schüler, die durch dissoziales und respektloses Verhalten auffallen, ist dies häufig genau die richtige Herausforderung. Arbeitsauflagen können einerseits individuell in der Schule abgeleistet werden. Hier gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten:
Schulen können beispielsweise selbst Arbeitsprojekte wie Schulhofgestaltung und Schulhofpflege, Bau eines Naturspielplatzes, Ausgestaltung von Räumen oder Bauwagen, Herstellen von Material für den Unterricht oder Musikinstrumenten, Weihnachtsgeschenke, Betrieb eines Gewächshauses oder Schulzoos, entwickeln, in die die betroffenen Schülerinnen und Schüler eingebunden werden. Denkbar ist im Rahmen eines mehrtätigen Unterrichtsausschlusses die Unterstützung des Hausmeisters bei Instandsetzungs- und Reparaturarbeiten.
Auch die externe Implementierung von Maßnahmen über Kooperationspartner ist eine Variante; die Ableistung von Arbeit in einer sozialen Einrichtung bzw. einem sozialen Projekt oder einem Betrieb ist eine Möglichkeit. Interessante Modelle sind auch Projekte in Zusammenarbeit mit Naturschutzorganisationen wie „Bachpatenschaften“ oder „Parkpatenschaften“. Soziale Gruppenarbeitsprojekte werden sozialpädagogisch begleitet. Handlungsorientierte soziale Gruppenarbeit soll zum einen die Einstellung und Befähigung zur Arbeit positiv beeinflussen und zum anderen können sozialpädagogische Kräfte möglichen Unterstützungsbedarf erkennen und Hilfsangebote vermitteln. Die Jugendlichen sollen sich zudem in allgemeinen Regeln des Sozial- und Arbeitsverhaltens üben. Arbeitsauflagen in der Gruppe können so konzipiert sein, dass mit den Jugendlichen – verstärkt durch Gruppengespräche oder Rollenspiele – an den Hintergründen ihrer Taten gearbeitet wird.
Suspendierungen
Eine besondere Herausforderung für Schulen stellt sich im Zusammenhang mit dem Unterrichtsausschluss von Schülerinnen und Schülern. Ein solcher Ausschluss ist nach
§ 49 des Hamburgischen Schulgesetzes (HmbSG) in mehreren Konstellationen denkbar:
- als kurzfristiger Ausschluss vom Unterricht durch die Lehrkraft;
- als ein- bis maximal zehntägiger Ausschluss vom Unterricht durch die Klassenkonferenz, oder
- als vorläufige Beurlaubung durch die Schulleitung von maximal zehn Werktagen bei „Gefahr im Verzug“.
Bei kurzfristigem Ausschluss vom Unterricht ist es längst nicht mehr durchgängig so, dass Schülerinnen und Schüler einfach vor der Klasse „abgestellt“ werden. Viele Schulen praktizieren hier verschiedene Varianten wie das Betreuungsraum-Programm „Trainingsraum“ oder „Insel“ ein (siehe unten). Insgesamt gesehen bauen Schulen bei kurzfristigen Ausschlüssen ihre konkreten Maßnahmen immer weiter aus und intensivieren die gezielte pädagogische Betreuung der Schülerinnen und Schüler.
Bei ein- bis mehrtätigem Schulausschluss durch die Klassenkonferenz oder der Beurlaubung durch die Schulleitungen ist es dem gegenüber oftmals Praxis, Schülerinnen und Schüler zu Hause oder unter Aufsicht und getrennt von Anderen in einem gesonderten Bereich der Schule mit Einzelarbeit zu beauftragen. Unter pädagogischen Gesichtspunkten ist eine solche Verfahrensweise problematisch, denn die Schulen vergeben sich so die Chance, direkt auf den Schüler oder die Schülerin einzuwirken. Ein bloßer Ausschluss vom Unterricht kann kontraproduktiv wirken und die bestehenden Probleme noch verstärken.
Oftmals wird er als erweiterte Freizeit empfunden und/oder reine Ausgrenzung und die Betroffenen sehen sich in ihrem Rollenbild bestätigt, so dass sich die von ihnen erwartete Verhaltensänderung nicht einstellt. Ein Zusammenhang zwischen Schuldistanz und Straffälligkeit ist im Übrigen in wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt worden. Es ist daher unerlässlich, insbesondere mehrtägigen Ausschluss vom Unterricht oder die Beurlaubung mit pädagogischen und unterrichtsersetzenden Maßnahmen zu verknüpfen. Betreute, soziale Dienste an der Schule können ggf. beim Hausmeister (Müll oder Papier sammeln) stattfinden oder die älteren Schülerinnen und Schüler werden als „Praktikanten“ in Vor- oder Grundschule eingesetzt. Das Bully Book wird ebenfalls angewandt, wird aber bei der Beurlaubung durch die Schulleitung noch wenig benutzt.
Pädagogische Insel
Die Pädagogische Insel oder manchmal auch „Oase“ genannt ist keine konkrete Methode.
Damit gemeint sind vielmehr weitgefasst pädagogische Anlaufstellen an Schulen, die als Unterstützungsangebot für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte konzipiert sind. Die Insel ist ein geschützter Raum an Schulen, der so gestaltet ist, dass Schülerinnen und Schüler sich darin wohlfühlen. Sie ist gedacht als feste Einrichtung, die je nach den vorhandenen Kapazitäten täglich mehrere Stunden oder an bestimmten Vormittagen geöffnet ist.
Die Betreuung erfolgt durch Lehrkräfte, Sozialpädagogen oder/und Erzieherpraktikanten. Sie kann eine Anlaufstelle für Störer oder diejenigen sein, die Schwierigkeiten haben, im Unterricht mitzukommen, z.B.:
- Schüler/innen werden aufgrund von störenden Verhaltensweisen in die Insel geschickt. Dort sprechen sie mit dem jeweiligen Insellehrer über dieses Verhalten und bearbeiten Bögen dazu,
- Konflikte und Probleme zwischen Schülern können in der Insel geklärt werden,
- Schüler, die ihr Sportzeug vergessen haben, gehen in die Insel und machen dort unter Aufsicht z.B. Deutsch, Mathematik, Hausaufgaben
Die Methode beruht auf drei Grundregeln:
1. Jede Schülerin und jeder Schüler hat das Recht ungestört zu lernen.
2. Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat das Recht ungestört zu unterrichten.
3. Jede(r) muss stets die Rechte des Anderen respektieren.
Bei der Einführung des Programms werden die Regeln bekannt gegeben und die Lehrkräfte können sich so bei Störungen auf sie berufen. Störende Schülerinnen und Schüler können ihr Verhalten korrigieren oder den Trainingsraum aufsuchen.Dort werden sie durch geschulte Betreuungskräfte dabei unterstützt, ihr Verhalten zu ändern, um mit derartigen Konflikten zukünftig anders umzugehen. Dabei wird auch mit Elementen der konfrontativen Pädagogik gearbeitet.
Das Gespräch endet mit einem Rückkehrplan, in dem die Veränderungsvorschläge der Schülerin oder des Schülers festgehalten sind und an dem sein oder ihr künftiges Verhalten gemessen wird.
Gelingt es den Schülerinnen und Schülern trotz mehrerer Anläufe. mittel- und langfristig nicht, den Plan umzusetzen, werden Eltern in die Gespräche mit einbezogen.
Die Schule benötigt einen Raum als Trainingsraum und entsprechend qualifiziertes pädagogisches Personal. Eine auf Respekt und Sachlichkeit beruhende Auseinandersetzung mit dem Fehlverhalten des Schülers ist die Basis des Konzeptes
(siehe Material auch https://www.hamburg.de/trainingsraum (was link with id: 4246886) ).
Die Beratungsstelle Gewaltprävention bietet regelmäßig Fortbildungsangebote zum Trainingsraum-Konzept mit Frau Dr. Heidrun Bründel an (Anmeldung über TIS).
Der Tat-Ausgleich basiert auf dem im Jugendgerichtsgesetz (JGG) beschriebenen Täter-Opfer-Ausgleich und verfolgt in seiner Anwendung dieselben Ziele. Weil der Begriff „Opfer“ unter Kindern und Jugendlichen eine inflationäre bis beleidigende Verwendung erfahren hat, Jugendliche sich gegenseitig abwertend als Opfer bezeichnen, wird hier alternativ der Begriff „Tat-Ausgleich“ verwendet.
Der „Tat-Ausgleich“ stellt im JGG eine Maßnahme im Rahmen sogenannter Diversionsverfahren dar. Mit diesen Verfahren wird der Versuch unternommen, jugendliche Strafauffällige nicht durch das Abhalten von Gerichtsverfahren und das Verhängen von Strafen zu stigmatisieren, sondern durch vorheriges Umlenken oder Umleiten (aus dem Engl.: to divert), eine frühzeitige Etikettierung zu verhindern.
Der Tat-Ausgleich entspricht in seiner Ausrichtung damit den Zielen des Hamburgischen Schulgesetzes, nach dem Konflikte konstruktiv bearbeitet werden sollen (vgl. § 49 HmbSG). Dem Täter, der Täterin wird die Chance gegeben, aktiv an der eigenen Wiedergutmachung zu arbeiten, statt eine Strafe „abzusitzen“. Die geschädigten Schüler/innen erhalten die Chance, die eigene Angst vor dem Täter bzw. der Täterin zu überwinden. Dies ist aufgrund der räumlichen Nähe gerade im schulischen Umfeld von Bedeutung. Fachkräfte der Beratungsstelle Gewaltprävention haben sich in der Umsetzung des Tat-Ausgleichs qualifizieren lassen. Schulungen für Hamburger Fachkräfte aus Schulen können über TIS angewählt werden
Die Beratungsstelle Gewaltprävention kooperiert bei dieser Methode mit dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holsteins (IQSH). In Schleswig-Holstein wir der Tatausgleich seit Jahren flächendeckend sehr erfolgreich umgesetzt.
Anm.: Ursprünglich in Arizona von dem amerikanischen Sozialarbeiter Edward E. Ford entwickelt und nennt sich dort „Responsible Thinking Process“, wird auch als „Arizona-Modell“, „EvD-Eigenverantwortliches Denken“ oder „Ford- Programm“ genannt. In Deutschland wurde die Methode von Stefan Baalke (1996) sowie Heidrun Bündel und Erika Simon adaptiert und weiterentwickelt.
Alle Angebote für Schulen im Sinne erzieherischer Maßnahmen finden Sie auf den Webseiten der Beratungsstelle Gewaltprävention. (was link with id: 4080724)