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Die umstrittene Ehrung des Grafen von Waldersee

Ein einstimmiges Votum von Senat und Bürgerschaft gab es auch für den nächsten Ehrenbürger, Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee. Der Senat beschloss die Würdigung am 31. Juli 1901 und bat die Bürgerschaft wie üblich, sich dem anzuschließen. „Die Bürgerschaft stimmt ihrerseits mit Freuden der Verleihung des hamburgischen Ehrenbürgerrechts an den Generalfeldmarschall Grafen von Waldersee zu“, hält das Sitzungsprotokoll vom 5. August 1901 fest. Darin ist auch die Begründung dokumentiert, die der Abgeordnete Dr. Müller gab: Er glaube, dass „nicht nur unsere Bürgerschaft, sondern unsere gesamte Bevölkerung diese Ehrung des Grafen von Waldersee auf das Freudigste begrüßt. […] Der Vorstand [der Bürgerschaft] ist […] der Ansicht, daß die hervorragenden Verdienste des Grafen von Waldersee nicht nur um unser gesammtes Vaterland, sondern speciell auch um unser Hamburg, eine solche außerordentliche Ehrung durchaus rechtfertigt. […] Wenn Kaiser und Reich den verdienten Feldherrn und Staatsmann, welcher überall, wohin er gekommen, die Ehre und das Ansehen des deutschen Namens gefördert hat, bei seiner nunmehrigen Rückkehr freudig begrüßen, dann wird unser Hamburg, welches als erste Handelsstadt des Reiches die Thätigkeit des Grafen von Waldersee im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens ganz besonders zu würdigen weiß, und welches die Ehre haben wird, in Gegenwart des Vertreters seiner Majestät des Kaisers den Grafen von Waldersee demnächst hier in Hamburg den deutschen Boden wieder betreten zu sehen, in seiner besonderen Weise seinem Danke und seiner Anerkennung Ausdruck verleihen wollen.“[80]

Zwei Tage später hielt das sozialdemokratische „Hamburger Echo“ dagegen: „Zur ‚Waldersee-Ehrung‘ wollte auch der Genosse [Otto] Stolten als sozialdemokratischer Vertreter ein Wörtlein reden und der zum Ausdruck gelangten Anmaßung entgegentreten, als seien die Herren, die sich für diese ‚Ehrung‘ so besonders in’s Zeug legten, die Vertreter der Anschauungen der Hamburger Bevölkerung, die doch mit dem ganzen Walderseerummel nicht das Geringste gemein hat! Leider erkrankte Genosse Stolten am Montag Morgen, so daß er die Reise nach Hamburg – er befindet sich zur Zeit auswärts – nicht unternehmen konnte.“[81]

Otto Stolten, zu diesem Zeitpunkt seit knapp fünf Monaten als erster Sozialdemokrat Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, wäre es in der Tat zuzutrauen gewesen, dass die Zustimmung des Gremiums zur Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Waldersee nicht so reibungslos über die Bühne gegangen wäre. Schon durch seine ersten Auftritte in der Bürgerschaft hatte er dort für neue, kontroverse Akzente gesorgt.[82]

Vor allem war die SPD auf Reichsebene längst Wortführer der wachsenden Kritik am deutschen Engagement gegen den „Boxeraufstand“ in China. Die SPD hatte Waldersee als Oberbefehlshaber über die europäischen Interventionstruppen neben Kaiser Wilhelm II. als Hauptverantwortlichem des „Kreuzzuges“, wie sie die Intervention titulierte, in den Fokus ihrer Kritik gerückt. Im Reichstag attackierte August Bebel den Kolonialkrieg in China scharf, wofür er von konservativen Abgeordneten mehrmals als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurde. Die sozialdemokratische Presse veröffentlichte ab Sommer 1900 zahlreiche Nachrichten und Dokumente über die in China herrschenden Missstände. Aber nicht nur sie berichtete darüber, der „Boxerkrieg“ war vielmehr ein Medienereignis ersten Ranges. Dabei entwickelte sich schon im Sommer 1900 „eine kontroverse Debatte zwischen Propagandisten und Apologeten des Krieges auf der einen und dessen Kritikern auf der anderen Seite“.[83] In der Folge wusste die Öffentlichkeit früh aus abgedruckten Briefen deutscher Soldaten „von angeordneten Erschießungen chinesischer Kriegsgefangener und Zivilisten, von Plünderungen, von Vergewaltigungen, von der Zerstörung ganzer Städte“ durch die internationalen Truppen.[84] Dies veranlasste bald selbst grundsätzliche Befürworter des Eingreifens in China wie die Zentrumspartei zu partieller Kritik, welche Waldersee einschloss.

In den Tagen um Waldersees Rückkehr am 8. August 1901 erneuerte das Zentralorgan der SPD „Vorwärts“ seine Einwände gegen den Kolonialkrieg in China. Die Verleihung der hamburgischen Ehrenbürgerwürde an Waldersee resultierte der Zeitung zufolge aus den Handelsinteressen der Stadt. Dabei deutete sie mit Verweis auf einen Artikel des der hamburgischen Kaufmannschaft nahestehenden „Hamburgischen Korrespondenten“ und dessen Ausführungen über den „noch verhältnismäßig gering[en]“ Handel mit China an, dass die Ehrung in Zusammenhang mit der Hoffnung, den Überseehandel ausweiten zu können, stand. Mit den Verdiensten um den „Weltfrieden“ könne es dagegen nicht weit her sein, resümierte der „Vorwärts“, denn selbst die bürgerliche Presse kritisiere inzwischen das unverhältnismäßige Engagement. Die in China ergriffenen Maßnahmen, so werden im SPD-Organ etwa die „Hamburger Nachrichten“ zitiert, hätten die Deutschen „in eine ganz unnötig exponierte Stellung“ gebracht.[85] Die damalige nationale und internationale Kritik an Waldersee und der deutschen Beteiligung an der Niederschlagung des „Boxeraufstandes“ war vielfältig: Sie reichte von Vorwürfen mangelnder Effizienz des Einsatzes über das Entsetzen über Art und Ausmaß der Gewalt bis hin zu grundsätzlicher Ablehnung kolonialpolitischen Engagements.[86]

In dieser Zeit profitierte Hamburgs Überseehandel vom einsetzenden deutschen Kolonialismus, der inzwischen generell sehr kritisch reflektiert wird.[87] Das Deutsche Reich versuchte, als Kolonialmacht zu den europäischen Großmächten aufzuschließen. China war damals eines der letzten infrage kommenden überseeischen Länder für eine solche Expansion, da es nur begrenzt kolonisiert war. Die involvierten europäischen Großmächte sowie die USA und Japan neutralisierten sich dort gegenseitig, keines der Länder konnte eine hegemoniale Stellung erringen. Das Deutsche Reich nahm an diesem „Wettbewerb“ teil und pachtete in China – wie auch die anderen ausländischen Staaten – zunächst zur Abwicklung seines Handels und zur schrittweisen Kolonisation Häfen. Es kam zu Konflikten zwischen China und den Kolonialmächten über deren handelspolitische Konzeption und Praxis sowie über die christliche Missionierung und den bewusst verstärkten Kulturtransfer. Die Kolonialmächte erlangten immer mehr Einfluss auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens in China. Dagegen formierte sich der chinesische Geheimbund der „Boxer“, der China von ausländischer Einflussnahme befreien wollte. Der Aufstand begann im Frühjahr 1900. Teile der regulären Truppen des kaiserlichen Chinas schlossen sich den Aufständischen an.

International sorgte der „Boxeraufstand“, bei dem annähernd 23.000 Chinesen christlichen Glaubens sowie zahlreiche Beschäftigte ausländischer Botschaften umkamen, für Aufsehen und Entrüstung. Die Ermordung des deutschen Gesandten Clemens Freiherr von Ketteler am 20. Juni 1900 veranlasste die Kolonialmächte auf Initiative von Kaiser Wilhelm II. schließlich zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Aufständischen. Dies leitete eine neue Phase und Qualität westlicher Dominanz in China ein, der Untergang des chinesischen Kaiserreichs begann. Es ging den internationalen Truppen bei ihrer Intervention offensichtlich um die Sicherung ihrer Vorrechte und Privilegien und weniger um den Schutz diplomatischer Vertretungen – und Deutschland zudem um die Anerkennung als koloniale Großmacht. Das Deutsche Reich bekam mit Blick auf die Ermordung des Gesandten Ketteler den Oberbefehl über die alliierten Truppen. Kaiser Wilhelm II. beauftragte Alfred Graf von Waldersee mit dieser Aufgabe. In seiner berüchtigten „Hunnenrede“ forderte der Kaiser Waldersee und die deutschen Soldaten unverhohlen zum Einsatz auch brutaler Gewalt auf, um das „schwere Unrecht“ zu sühnen.[88]

Das deutsche Kontingent unter Waldersee traf im September 1900 in China ein, als die „Boxer“ durch zusammengezogene internationale Einheiten aus dem pazifischen Raum schon nahezu besiegt waren. In der Folge stoppte Oberbefehlshaber Waldersee zwar wiederholt Plünderungen, agierte aber auch im Sinne des Kaisers als unerbittlicher Befehlshaber bei den nun verstärkt durchgeführten Strafexpeditionen. Erst mit dem Frieden von Peking vom 7. September 1901, dem sogenannten Boxerprotokoll, war der Konflikt offiziell zu Ende. Der Friedensvertrag verpflichtete China, ganz im deutschen Sinn, zu hohen Kriegsentschädigungen.[89]

Waldersee fand mit der Intervention in China nicht zuletzt insofern ein maßgeschneidertes Betätigungsfeld, als er dort den Primat des Militärischen durchsetzen konnte.[90] Der 1832 in Potsdam geborene Sohn eines preußischen Generals hatte eine umfassende militärische Ausbildung durchlaufen und war 1882 auf Initiative Helmuth Graf von Moltkes Mitglied des Großen Generalstabs geworden. Sechs Jahre später folgte er Moltke im Amt des Chefs des Generalstabs nach. Mit dessen Einverständnis vergrößerte Waldersee den Einfluss des Generalstabs auf die politische Führung. Mit Blick auf solche Erfolge gilt Waldersee heute als einer der ersten „politischen“ Offiziere.[91] Zeitweilig wurde er als Kandidat für die Nachfolge Otto von Bismarcks im Amt des Reichskanzlers gehandelt. Doch nach Differenzen mit Kaiser Wilhelm II. musste er 1891 seinen Platz im Generalstab räumen und wurde nach Altona versetzt, wo er als kommandierender General des IX. Armeekorps fungierte.

Während seiner Zeit im Generalstab war Waldersee einer der entschiedensten Verfechter eines Präventivkrieges gegen Russland und Frankreich. Er entwickelte Moltkes diesbezügliche Pläne weiter, indem er sie in einen differenzierten Zwei-Fronten-Krieg einbettete. Waldersee war ein exponierter Vertreter solcher Überlegungen in der deutschen militärischen Führung, wobei er mit seiner Forderung nach einem Primat des Militärischen – wie zuvor bereits sein „Ziehvater“ Moltke – in Konflikt mit Bismarck geriet. Waldersee setzte sich damit früh dem Vorwurf aus, im Unterschied zu Bismarck ein „Kriegshetzer“ zu sein.[92] Waldersees militärstrategische Überlegungen flossen in den bekannten Plan seines Nachfolgers als Generalstabschef, Alfred Graf von Schlieffen, ein, auf dessen Basis das deutsche Heer zu Beginn des Ersten Weltkrieges operieren sollte. 1897 machte Waldersee erneut auf sich aufmerksam, als er erfolglos repressive Maßnahmen gegen die SPD forderte. Neuere Forschungen legen nahe, dass Waldersees Ernennung zum Reichskanzler an seinen innenpolitischen Vorstellungen und an seiner dominanten Persönlichkeit, nicht aber an seinen Präventivkriegsplänen scheiterte.[93] Schon vor seiner Auszeichnung in Hamburg wurde Waldersee Ehrenbürger unter anderem von Altona (1896), Lübeck (1898) und Hannover (1900). Straßen, Plätze und Brücken in Bremen, Hannover, Lübeck, Berlin und andernorts sind nach ihm benannt.

Die Verleihung des hamburgischen Ehrenbürgerrechts 1901 an Waldersee war zweifellos an den kolonialpolitischen Interessen Hamburgs orientiert. Ein unmittelbarer Hamburg-Bezug Waldersees ist lediglich während seiner knapp siebenjährigen Residenz in Altona bekannt geworden. Damals habe er durch „sein mutvolles und überlegtes, ruhiges Auftreten während der Cholera 1892 in Hamburg sich bei seiner Truppe wie bei der Bevölkerung des ganzen Korpsbezirks eine auf Liebe und Verehrung gegründete Vertrauensstellung“ erworben, behauptete die Zeitschrift „Die Woche“ anlässlich der Übergabe der Ehrenbürgerrechts-Urkunde an den Feldmarschall Anfang April 1902. Die vorausgegangene Kritik ignorierend, hieß es dort ferner, Waldersee habe im Rahmen seiner China-Mission alles darangesetzt, „die Einigkeit unter den Mächten aufrechtzuerhalten und möglichst schnell wieder friedliche Verhältnisse in China herzustellen“. Ihm sei es gelungen, sich Verdienste „um die ganze zivilisierte Welt“ zu erwerben und „seine Beziehungen zu China wesentlich“ zu verbessern.[94] Zu diesem Zeitpunkt überwogen bereits wieder verklärende Sichten auf den Feldmarschall.[95] In der Folge gab es weitere Ehrungen Waldersees. Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialpolitik kam es dann, wie eingangs erwähnt siehe Kapitel 1), zur bislang stärksten öffentlichen Kritik an Alfred Graf von Waldersee. Zudem sind inzwischen antisemitische Äußerungen des Generalfeldmarschalls belegt.[96]

Fußnoten

  • [80] In: StAHH 111-1_58465.
  • [81] Hamburger Echo, 07.08.1901, Hervorhebungen im Original.
  • [82] Christine Teetz: Otto Stolten und die Sozialdemokratie in Hamburg bis zum Ende des Kaiserreichs, Münster 2004.
  • [83] Thorald Klein: Propaganda und Kritik, in: Mechthild Leutner (Hrsg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007, S. 173-180, hier S. 173.
  • [84] Ute Wielandt: Die Reichstagsdebatten über den Boxerkrieg, in: Leutner, Kolonialkrieg (wie Anm. 83), S. 164-172, hier S. 164.
  • [85] Alle Zitate aus: Vorwärts, 08.08.1901, S. 2.
  • [86] James L. Hevia: Krieg als Expedition. Die alliierten Truppen unter Alfred Graf von Waldersee, in: Leutner, Kolonialkrieg (wie Anm. 83), S. 123-134; Susanne Kuß: Deutsche Strafexpeditionen im Boxerkrieg, in: ebd., S. 135-146; Thorald Klein: Propaganda und Kritik, in: ebd., S. 173-180.
  • [87] U.a. Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, 5. Aufl., Ditzingen 2005; Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008.
  • [88] Zitiert nach: Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld?, Berlin 2005, S. 96.
  • [89] Mechthild Leutner: Das Boxerprotokoll, in: dies., Kolonialkrieg (wie Anm. 83), S. 200-203.
  • [90] Kuß, Deutsche Strafexpeditionen (wie Anm. 86), S. 140. 117
  • [91] Eberhard Kessel: Die Tätigkeit des Grafen Waldersee als Generalquartiermeister und Chef des Generalstabes der Armee, in: Die Welt als Geschichte 14 (1954), S. 181-211, hier S. 187.
  • [92] So Heinrich Otto Meisner im Vorwort zu Alfred Graf von Waldersee: Aus dem Briefwechsel des Alfred von Waldersee, hrsg. von Heinrich Otto Meisner, Nachdruck der Ausgabe 1922, Hannover 2009, S. XXVIII.
  • [93] Konrad Canis: Bismarcks Außenpolitik 1870 bis 1890. Gefährdung und Aufstieg, Paderborn 2008, S. 376f.
  • [94] Die Woche, 4. Jg., Nr. 14 vom 5.4.1902, S. 598-601, hier S. 598.
  • [95] Siehe Zeitungsausschnittsammlung in: StAHH 111-1_58465.
  • [96] John C.G. Röhl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie, München 2001, u.a. S. 334-340 und S. 472-480.