Sehr geehrte Frau Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts,
sehr geehrter Ehrenbürger Herr Prof. Otto,
sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages und der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrter Herr Doyen,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlich willkommen im Rathaus zum Senatsempfang anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg.
Die großen Wandgemälde hier im Großen Festsaal stellen wesentliche Epochen in der Geschichte Hamburgs dar – von den ersten Siedlungen bis zur Welthafenstadt.
Nicht darauf zu erkennen ist Hamburgs Weg in die Demokratie. Denn als diese Gemälde 1909 fertiggestellt wurden, war unsere Stadt noch Teil des Deutschen Kaiserreichs.
Demokratisch geprägte Bewegungen und Institutionen finden sich in Hamburg schon seit dem 19. Jahrhundert. Die Geschichte unserer demokratischen Verfassung beginnt jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg – in einer Zeit der Revolution und des Aufbruchs.
Nach den Entbehrungen des Krieges forderten die Menschen bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, Zugang zu Bildung und Kultur, gesellschaftliche Teilhabe und politische Mitbestimmung.
Die Abgeordneten der ersten demokratisch gewählten Bürgerschaft von 1919 erarbeiteten in diesem Geiste eine Verfassung für ihre Stadt, die am 9. Januar 1921 in Kraft trat.
Das Wort „Demokratie“ war darin gar nicht enthalten, dafür aber ein einfacher Satz, der die Sache auf den Punkt brachte: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
Doch der demokratische Aufbruch war nicht von Dauer. 1933 ergriffen die Nationalsozialisten die Macht, und schon ein Jahr später endete in Hamburg diese erste kurze Episode der Demokratie.
Die Verfassung wurde per Reichsverordnung aufgehoben und Hamburg ging als Hansestadt – ohne den Zusatz der Freiheit – im nationalsozialistischen Einheitsstaat auf.
Bürgerschaft und Senat wurden entmachtet, ab sofort regierte ein „Reichsstatthalter“.
Die folgenden zwölf Jahre der Diktatur brachten grausames Leid und Zerstörung über Europa und die Welt. Am Ende lag auch Hamburg in Trümmern.
Manche Politikerinnen und Politiker, die sich schon vor 1933 um ihre Stadt verdient gemacht hatten, kehrten nach Kriegsende aus dem Exil zurück, um ihre Heimat wieder aufzubauen und einen neuen demokratischen Aufbruch zu wagen.
Zu ihnen gehörte Max Brauer, der im Sommer 1946 aus den USA in Hamburg eintraf und nach den Bürgerschaftswahlen im Herbst 1946 Erster Bürgermeister wurde.
Das Parlament der Hansestadt hatte erneut die wichtige Aufgabe, das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Hamburg auf das Fundament einer demokratischen Verfassung zu stellen.
Bürgermeister Brauer hat diesen Auftrag damals wie folgt beschrieben:
„Eine Verfassung darf nicht zu viel sagen. Sie darf nur den großen Rahmen abstecken und die wesentliche Verteilung der politischen Gewichte regeln, das Funktionieren des Staatsapparates sicherstellen […], aber im Übrigen muss sie den Weg freilassen, ja frei machen für alle neuen Gedanken und Kräfte.“
Dieser Prozess dauerte mehrere Jahre. In der Zwischenzeit wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Hamburg gab sich als letztes Bundesland eine Verfassung. Wir waren also spät dran oder – anders betrachtet – besonders effizient.
Denn in seiner nachkonstitutionellen Verfassung konnte Hamburg auf die Verankerung der Grundrechte verzichten. Sie waren ja bereits im Grundgesetz niedergelegt, galten damit unmittelbar auch in der Hansestadt und mussten insofern in der Landesverfassung nicht wiederholt werden.
Die neue Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg wurde im Juni 1952 von der Bürgerschaft mit nur drei Gegenstimmen beschlossen und trat am 1. Juli 1952, also genau heute vor 70 Jahren, in Kraft.
Seitdem regelt die Hamburger Verfassung nun – ganz im Sinne Max Brauers – hanseatisch knapp, aber mit klarer Haltung in einer Präambel und 77 Artikeln die Organisation unseres Staatswesens.
In vielen Formulierungen orientierte sich die Verfassung von 1952 am Vorbild von 1921 und knüpfte damit an die Demokratiebewegung von 1918/19 an.
Gleichwohl blieb die während der NS-Zeit eingeführte Einheitsgemeinde erhalten, ebenso wie das Stadtgebiet, das mit dem sogenannten „Groß-Hamburg-Gesetz“ erheblich erweitert worden war.
Die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges lasteten noch schwer auf der Stadt, sodass die Abgeordneten der Verfassung eine Präambel gaben, die einen besonderen Anspruch formuliert und zugleich Hamburgs jahrhundertealte Geschichte als Hafen- und Handelsmetropole widerspiegelt:
„Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen. Sie will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein.“
Es folgen die Verpflichtung zur Förderung der Hamburger Wirtschaft, um den Bedarf aller Menschen zu decken, die Pflicht jedes Einzelnen, zum Wohle des großen Ganzen zu wirken, und ein Bekenntnis zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung aller Menschen.
Die Präambel ist ein Auftrag der Hamburgerinnen und Hamburger an sich selbst, dem wir bis heute in unserem Handeln und Zusammenleben als Stadtgesellschaft verpflichtet sind.
Meine Damen und Herren,
wie die Welt, so hat sich in den letzten Jahrzehnten auch unsere Verfassung verändert.
Manche Bestimmungen von 1952 erwiesen sich als nicht mehr zeitgemäß, andere führten in der Regierungs- und Parlamentspraxis zu nicht gewünschten Wirkungen.
Im Rahmen der Reformen von 1996 wurden unter anderem die Beziehungen zwischen Bürgerschaft und Senat neu geordnet und die Gewaltenteilung gestärkt.
Zu den Neuerungen gehörten die Richtlinienkompetenz des Bürgermeisters, die Umstellung vom Feierabend- auf ein Teilzeitparlament und die Erweiterung des repräsentativ-parlamentarischen Systems um Elemente direkter Demokratie, die es zum Teil schon in der Verfassung von 1921 gegeben hatte.
Wir haben im Laufe der Jahre auch gesellschaftliche Anliegen und neue Ziele in die Verfassung aufgenommen, die 1952 noch nicht im öffentlichen Bewusstsein standen.
1996 hat sich Hamburg das Staatsziel gesetzt, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern.
Seit 1986 verpflichtet uns die Verfassung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, seit Februar 2020 zur Begrenzung der Erderwärmung und damit zum Klimaschutz.
Hamburg hat damit gleich zwei Mal bundesweit eine Vorreiterrolle übernommen.
Meine Damen und Herren,
unsere Verfassung hat maßgeblich zur positiven Entwicklung Hamburgs nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen.
Im Verbund mit dem Grundgesetz ist sie ein starkes Fundament für die Staatsorganisation in Hamburg und ein gutes Zusammenwirken von Bürgerschaft, Senat und Verfassungsgericht.
Die Hamburger Verfassung gibt uns Orientierung und demokratische Stabilität. Sie mahnt und verpflichtet uns auf grundlegende Werte und Ziele zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.
Meine Damen und Herren,
Max Brauer hat in seiner Amtszeit den gesamten Prozess der Verfassungsgebung begleitet und rief den Anwesenden am Tag der finalen Abstimmung in der Bürgerschaft die Worte ins Gedächtnis, die über dem Rathaus-Eingang stehen:
„Die Freiheit, die schwer errungen die Alten, möge die Nachwelt würdig erhalten.“
Der Angriff Russlands auf die Ukraine zeigt uns, welche Bedeutung diese Worte bis heute haben.
Herzlichen Dank.