Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
der Sinti-Allianz-Deutschland und der Bundesvereinigung der Sinti und Roma,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren,
und ganz besonders; sehr geehrte Überlebende,
seit 1994 gedenken die Mitglieder des Bundesrates am letzten Plenartag des Jahres der Sinti und Roma und der Gruppe der Jenischen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden.
Genau heute vor 80 Jahren, am 16. Dezember 1942, unterzeichnete Heinrich Himmler als „Reichsführer SS“ den sogenannten „Auschwitz-Erlass“. Er verfügte damit die Deportation der Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Wenig später erging eine entsprechende Anordnung für das angeschlossene Österreich sowie die besetzten Gebiete im heutigen Tschechien, der Slowakei, Polen, Niederlande und Belgien.
Ab Februar 1943 wurden aufgrund dieser Erlasse rund 23.000 Sinti und Roma - Männer, Frauen und Kinder - nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Sie wurden in Waggons der Reichsbahn gesperrt und unter schlimmsten Bedingungen abtransportiert.
Aus meiner Heimatstadt Hamburg fuhren diese Züge vom Hannoverschen Bahnhof ab, der damals im Hafengebiet lag. Bereits auf der mehrtägigen Fahrt kamen viele Menschen ums Leben.
In Auschwitz regierte die Angst. Wer nicht gleich dem Morden der SS zum Opfer fiel, war über Monate oder Jahre Gewalt, Misshandlungen und Zwangsarbeit ausgesetzt.
Tausende starben an Unterernährung und Krankheiten oder wurden in Gaskammern umgebracht. Als Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde, waren die Deportierten entweder umgekommen oder auf Todesmärsche in andere Lager geschickt worden.
Meine Damen und Herren,
den Verbrechen der Nationalsozialisten fielen eine halbe Million Sinti und Roma in Europa zum Opfer.
Dennoch erkannte die Bundesrepublik Deutschland diesen Völkermord lange nicht als solchen an. Weder moralisch, noch im Sinne von Entschädigung für Enteignungen oder die körperlichen und seelischen Folgen von Verfolgung und Haft.
Das „Bundesentschädigungsgesetz für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ von 1956 schloss Sinti und Roma zunächst weitgehend aus.
Wer einen Antrag stellte, musste seine Verfolgung kleinteilig nachweisen, was eine zusätzliche Demütigung bedeutete. Die Verfahren wurden nicht selten von Beamten geführt, die selbst Anhänger des NS-Regimes oder sogar an der Verfolgung beteiligt waren.
Die Hamburgerin Mirka Rosenbach gab im Juli 1946 bei der Polizei Details ihrer Verhaftung zu Protokoll:
„Ich wurde am 9. März 1943 […] auf Anordnung des Kriminalinspektors Krause von diesem und einigen anderen Kriminalbeamten aus unseren Wohnungen mit unserer gesamten Familie Karl Rosenbach (Vater), Maria Rosenbach (Mutter) und 5 Geschwistern […] verhaftet. Von meinen oben angeführten verhafteten Angehörigen sind bis auf meinen Bruder Ewald alle anderen im Konzentrationslager Auschwitz vergast worden.
Bei der Verhaftung wurde mein Bruder Ewald von Inspektor Krause mit der Faust blutig geschlagen. Im Sammelschuppen C wurde meine Großmutter (75 Jahre), als sie von ihren Kindern Abschied nehmen wollte, ebenfalls von Krause geschlagen.
Der Inspektor Krause brachte uns persönlich bis in das Lager Auschwitz. Dies erkläre ich an Eides statt.“
Der Polizeibeamte Krause befand sich ab 1946 wieder im Polizeidienst. Er wurde zwar noch im selben Jahr von einem britischen Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt, kam aber vorzeitig frei und wurde später in einem Entnazifizierungsverfahren als „entlastet“ eingestuft.
Meine Damen und Herren,
erst im März 1982 erreichten Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler und der kurz zuvor gegründete Zentralrat mit seinem Vorsitzenden Romani Rose, dass Sinti und Roma offiziell als Opfer des NS-Regimes anerkannt und entschädigt werden.
Bundeskanzler Helmut Schmidt gab im Anschluss an ein Treffen mit einer Delegation des Zentralrates die Erklärung ab, dass seine Regierung die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma als Völkermord anerkennt.
Damit bekannte sich die Bundesrepublik Deutschland - 37 Jahre nach Kriegsende - zu ihrer historischen und politischen Verantwortung.
Am früheren Deportationsort des Hannoverschen Bahnhofs in Hamburg befindet sich heute eine Gedenkstätte, die an die Menschen erinnert, die von dort aus in den Tod geschickt wurden.
Die Verbände der Sinti und Roma haben an diesem Zeichen der Erinnerung und Mahnung einen großen Anteil. In Zukunft wird die Gedenkstätte um ein Dokumentationszentrum ergänzt, in dem dargestellt wird, dass die Verbrechen des NS-Regimes möglich waren, weil viele Menschen sich daran beteiligt oder weggesehen haben und es damit geschehen ließen.
Meine Damen und Herren,
der „Auschwitz-Erlass“ von 1942 war nicht der Anfang der Diskriminierung von Sinti und Roma und die Anerkennung des Völkermords 1982 war auch nicht ihr Ende.
Seit über 700 Jahren sind Sinti und Roma in Europa Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In der Bevölkerung weit verbreitete Ressentiments bilden weiterhin den Nährboden für Diskriminierung und Antiziganismus.
Die Verbände der Sinti und Roma engagieren sich dafür, diese Tendenzen sichtbar zu machen und ihnen entgegenzutreten.
Mit Veranstaltungen, Informationen und Begegnungen sorgen sie für Verständnis und wecken Interesse an der Geschichte und Kultur der Sinti und Roma.
Es ist aber nicht ihre alleinige Aufgabe, Vorurteile abzubauen, Diskriminierung entgegenzutreten und Sinti und Roma Raum zu geben in der Mitte unserer Gesellschaft.
Das ist eine Verantwortung und Verpflichtung für uns alle.
Meine Damen und Herren,
ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben und der Sinti und Roma zu gedenken, die zwischen 1933 und 1945 Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen wurden.
Vielen Dank